Immer hat das Kunstpublikum seine Erwartungen und Vorlieben, seine eingefahrenen Gewohnheiten und kulturellen Ansprüche. Und zuverlässig sorgt ein Teil der Künstlerschaft für Ärger, weil er die Regeln ablehnt und sein eigenes Ding macht. Daraus erwachsen handfeste Konflikte. Die Geschichte der Kunst-Skandale ist ein eigenes Genre der Erzählung. Ich möchte hier anhand einiger Beispiele Schlaglichter auf ihre Entwicklung werfen.
Vor 170 Jahren war ein roter Farbfleck, als gültiges Bild präsentiert, ein Skandal. Die zwölfte Seite in Gustave Dorés Buch mit politischen Karikaturen, Titel: „Histoire pittoresque, dramatique et caricaturale de la Sainte Russie“, gehört zur Frühgeschichte des bürgerlichen Kunstskandals, aber nicht zu der der Abstraktion. Denn augenzwinkernd präsentierte Doré ganz realistisch einen Blutfleck, um den „weiteren Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen“ sinnfällig zusammenzufassen. Aufgeregt hat sich das Publikum 1854 trotzdem, man fühlte sich auf den Arm genommen.
Umstrittene Werke, angegriffen von Kirche und weltlicher Obrigkeit, gab es auch schon vor dieser Zeit, aber erst mit dem Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer Medien war der Kunst-Skandal ein Fall für die breite allgemeine Debatte. Im Resonanzraum der Salons und Clubs, der Museen und der Presse hallte es wider, wenn Kämpfe um Geschmack und Qualität ausgetragen wurden. Der Skandal hatte vor allem die Funktion, die Grenze der künstlerischen Autonomie auszuloten – wobei konservative Künstler und interessiertes Publikum in der Regel versuchten, einzugrenzen, während sich die Künstlerrebellen von den Regeln und Regulierungen befreiten.
Auf diese Weise erstritt Edouard Manet mühsam seine Position. Die ersten Bilder aus seinem Atelier sorgten für große Empörung; 1863 wurden seine Werke für den offiziellen Pariser Salon der aktuellen Malerei nicht zugelassen. Die Bilder, darunter das „Frühstück im Grünen“, wurden schließlich im „Salon des Refusés“, in der Schau der Abgelehnten gezeigt. Das Publikum schimpfte oder lachte. Manet hatte die Erwartungen grob enttäuscht, statt mythologischer oder pathetischer Szenen lieferte er Alltagsfiguren, gewöhnliche Menschen – die Parodie auf die gewohnte repräsentative Kunst.
Um die Konventionen zu verletzen, reichte es damals schon, harmlose Motive ohne historische und politische Bedeutung in den Mittelpunkt des Bildes zu stellen, die nur Vorwand für im Grunde reine Malerei waren. Claude Monet brachte die Kritiker auf die Palme mit Heuhaufen. In vielen Varianten gestaltete er das ländliche Motiv, um Licht und Farbe der Natur einzufangen. Und das gelang ihm, weil er nicht fein ausmalte, sondern Pinselstrich neben Pinselstrich stehen ließ. Schlecht und schlampig fanden das die Spezialisten für glatt Geöltes.
Solche Maler werfen „dem Publikum den Farbtopf ins Gesicht“, schimpfte der berühmte britische Kunstkritiker John Ruskin, und er legte sich insbesondere mit seinem Landsmann James MacNeill Whistler an, den er für einen „ästhetischen Terroristen“ hielt. 1877 stellte der sein neuestes Werk „Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete“ in London aus. Für die „Komposition aus Linie, Form und Farbe“, so die Worte Whistlers, war der Motivvorwand ein nächtliches Feuerwerk. „Hochstapelei“ und „Flegelei“ lauteten Ruskins Bewertungen, und vor allem fand er, das Bild sei keine 200 Guineen wert (diese schicke Goldmünzenwährung ist noch heute bei britischen Kunstauktionen gebräuchlich; eine Guinee gleich 1,05 Pfund). Mit dem Geldwert-Argument kommt eine rhetorische Waffe ins Spiel, die bis heute im Kunst-Skandal gerne verwendet wird. „Keine Steuergelder für so einen Mist“ – solche Rufe sind Stereotypen der Attacken gegen Kunst.
Whistler jedenfalls verklagte Ruskin wegen Verleumdung. Am Ende gewann er den Prozess, der ihm viel öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte, bekam aber keine Entschädigung. Die Kämpfe um akademische Konventionen und künstlerische Experimente im 19. Jahrhundert spalteten die Kunst mit langer Nachwirkung – eigentlich bis heute. Doch die Angefeindeten von damals sind heute absolute Stars, wie auch Edvard Munch, der sich das 1892 nicht hatte träumen lassen. Bei seiner ersten Ausstellung in Berlin gab es Krawall und Handgreiflichkeiten seitens empörter Bürger; die Presse stachelte die Emotionen an. Die Vossische Zeitung sah „unglaubliche Erzeugnisse des kranken Sehvermögens und des willkürlich geschwenkten Schmierpinsels eines modernen Sudlers“. Die Munch-Ausstellung wurde vorzeitig geschlossen. Daraus zog der junge norwegische Künstler jedoch nicht den Schluss, die ungastliche Stadt wieder zu verlassen. Er begriff, dass auch negative Aufmerksamkeit durchaus symbolisches Kapital bildet („Bessere Reklame kann ich gar nicht bekommen“) und vernetzte sich erfolgreich mit gleichgesinnten Malern. Schon im darauf folgenden Jahr stellte Munch in Berlin wieder aus.
Hier zeichnet sich eine Veränderung in der Funktion des Kunstskandals ab: War er bisher vor allem ein Mittel im internen Kampf zwischen Akademikern und Rebellen des Kunstfelds, wandelt er sich nun zum Instrument für Aufmerksamkeitspolitik und Marktstrategie. Das wird im 20. Jahrhundert dazu führen, dass Künstler Skandale nicht mehr nur erleiden und ertragen, sondern sie auch bewusst provozieren und nutzen.
Die Ausstellungen und Aktionen der Dadaisten und später der Surrealisten bieten dafür eine Fülle von Beispielen. Provokation und inszenierter Skandal werden bei Max Ernst in Köln oder André Breton und seiner Gruppe in Paris zum Mittel einer Kunst, die mit dem zu ändernden Leben verschmelzen soll. Davon findet sich heute Vieles wieder etwa in den spektakulären Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“. Aber damit verlassen wir den eigentlich künstlerischen Bereich.
Wer drinnen blieb und an Problemen der Form, des ästhetischen Prozesses arbeitete, brauchte sich um Widerspruch ebenfalls nicht zu sorgen. Informelle Gestik provozierte in den 1950er Jahren das Publikum zuverlässig. Zum Beispiel das „Gekritzel“, die „Schmiererei“ von Rolf Iseli 1957 bei der Jahresausstellung zum Eidgenössischen Kunststipendium in Bern. Mit schwarzer Ölfarbe, direkt aus der Tube auf die Leinwand, hatte Iseli gezeichnet, ein mal mehr, mal weniger verdichtetes Gewirr, das außer Dynamik und Funktionslust nichts mitteilt. Dafür 5000 Franken Preisgeld, aus dem Steuersäckel? 100 Bundesbeamte unterzeichneten einen Offenen Protestbrief an den schweizerischen Bundesrat. Der forderte praktisch einen Leistungsnachweis vom Künstler, der diesen in Form von Aktzeichnungen erbrachte. Akt überzeugte – und das Berner Kunstmuseum kaufte das „Gekritzel“. Damit zeigte die Institution ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung.
Deren Rückständigkeit und Intoleranz in Bezug auf die künstlerische Entwicklung nutzten 1963 ein damals unbekannter junger Maler und sein ebenfalls junger Galerist, die beide ihre Karrieren starten wollten, gezielt aus. Georg Baselitz hatte wilde gegenständliche Bilder gemalt, darunter einen onanierenden Knaben („Die große Nacht im Eimer“, heute im Bestand des Kölner Museums Ludwig), und Michael Werner stellte diese Leinwände in seiner Westberliner Galerie aus. Beide sind heute Stars der Szene, und das kam so: Werner informierte selbst die Staatsanwaltschaft, die ermittelte und eine Anklage verfasste. Die Boulevardpresse biss ebenfalls sofort an. Der Künstler verließ Berlin vorsichtshalber, und sein Image als Tabubrecher hat er seitdem. Auch wenn die erste Ausstellung kein Verkaufserfolg wurde, war der Coup gelungen. Vor Gericht gab es einen Freispruch.
Wie wirksam das Ereignis Skandal nun Teil der künstlerischen Inszenierung sein konnte, bewies keiner besser als Joseph Beuys 1964 bei einer Fluxus-Performance in Aachen. Er provozierte das Publikum mit seiner Bühnenaktion (zum Beispiel mit der Forderung, die Berliner Mauer um fünf Zentimeter zu erhöhen) mit Erfolg: Ein Zuschauer, später als „rechtsgerichtet“ identifiziert, stürmte nach vorne und schlug dem Künstler heftig ins Gesicht. Daraus entstand das bekannte Foto, auf dem Beuys sich mit erhobener rechter Hand und aus der Nase blutend dem Publikum pathetisch präsentierte, in der Linken ein Kruzifix haltend. Man nannte es das „Märtyrer-Foto des heiligen Joseph“. Was es nicht zeigt, was aber in einem Film von dem Vorfall zu sehen ist: Vor der Pose hatte Beuys den Täter mit Schlägen von der Bühne gejagt.
Liessen sich die Attacken gegen den „guten Geschmack“ noch steigern? Wolf Vostell hat das vielleicht geschafft, weil ein Tabu noch unversehrt war: das Auto, das Lieblingsspielzeug im Wirtschaftswunderland. 1963 ließ Vostell in Köln eine Limousine einbetonieren; das Objekt „Ruhender Verkehr“ steht seitdem in der Stadt. Die sich damals dagegen empörten, benutzten die üblichen Argumente wie „Schund“, „Verschwendung von Steuergeldern“, „unzumutbar für das Stadtbild“ usw.
Hans Haacke gelang es 1999, die kontroverse öffentliche Auseinandersetzung um seine künstlerischen Provokationen in den vornehmsten Debattenraum der Republik zu tragen: in den Bundestag. Die parlamentarischen Diskussionen um das Projekt „Der Bevölkerung“ füllten wiederum die Zeitungsspalten und Nachrichtenkanäle, doch die Abgeordneten hatten allen Grund, sich selbst ganz offiziell zu positionieren, denn Haacke hatte sie zu Mitwirkenden an seinem Werk erkoren. Sie waren aufgefordert, jeweils etwas Erde aus ihrem Wahlkreis mitzubringen, mit der das Beet im Innenhof des Reichstagsgebäudes gefüllt wurde und wird. Der Schriftzug „Der Bevölkerung“ inmitten des Beets – in derselben Schrifttype wie „Dem deutschen Volke“ auf der Aussenfassade des Baus – kann als Ergänzung oder Verbesserung des eingeschränkten Volksgedankens gelesen werden. Es geht um alle Menschen im Land. Nicht nur daran entzündete sich Kritik, auch die Erde und der Pflanztrog gefiel nicht allen. Volker Kauder (CDU) sagte Nein zu „diesem simplen und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk“ und „zu dem Versuch der Distanzierung des Deutschen Bundestags von seinem eigenen Volk.“ Norbert Lammert (CDU) meinte: „Skurrile Bundesgartenschau“. Ein fraktionsübergreifender Antrag gegen das Projekt wurde im April 2000 knapp (mit 260 gegen 258 Stimmen) abgelehnt. Heute ist das umstrittene Werk weitgehend akzeptiert; die Liste der Abgeordneten, die ihr Scherflein Erde beigetragen haben, ist lang.
Auffallend, dass bisher nur Männer aufgeführt sind, die in Kunstskandale verwickelt waren. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Künstlerinnen in der Kunstwelt generell unterrepräsentiert, also auch bei den Skandalen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts entdeckten manche die Provokation als Mittel einer feministisch orientierten Kunst. Aber auch diese Aktionen hatten es schwerer, öffentlich zu wirken, als die der Männer. Ob Carolee Schneemann (die alle Schamgrenzen verletzte) oder Pipilotti Rist (die im Film die Fenster geparkter Autos zertrümmerte): Sie wirkten innerhalb der Kunstszene, aber kaum darüber hinaus.
Seitdem im 21. Jahrhundert öffentlichen Debatten vermehrt „postkolonial“ und sensibler für diskriminierte Minderheiten geführt werden, geraten immer weitere Konfliktpotenziale in den Blick und die öffentlichen Reibungsflächen vermehren sich. Skandale der jüngsten Zeit entzünden sich zwar an der Kunst, sind aber politisch basiert, siehe der immer noch nicht ausdiskutierte Fall von Antisemitismus bei der letzten Documenta.
Sollen wir es als Fortschritt werten, dass nun Künstlerinnen häufiger skandalfähig sind? Die Fälle Dana Schutz 2017, Miriam Cahn 2023, Sophia Süßmilch 2024 sind prominente Beispiele.
Dana Schutz ist eine weiße US-Künstlerin, die 2016 das Bild „Open Casket“ (Offener Sarg) im Stil klassischer Moderne gemalt und im Jahr darauf bei der New Yorker Whitney-Biennale ausgestellt hat. Es zeigt den fürchterlich zugerichteten Körper eines von Weißen ermordeten schwarzen Jungen, der 1955 in einem offenen Sarg zu sehen war, wovon Fotos existieren, die Dana Schutz verwendete. Diskriminierung und Gewalt sind gegenwärtig, das wollte Schutz mit der Aktualisierung des spektakulären Falles zeigen. Schwarze Aktivisten um die Künstlerin Hannah Black skandalisierten das und forderten, das Bild aus der Ausstellung zu entfernen. Als weiße Frau dürfe Schutz nicht vom Leid schwarzer Opfer profitieren: No profit and fun. Denn damit übe sie selbst Gewalt aus. Hier haben wir es mit Identitätspolitik gegen künstlerische Solidarität zu tun. Es kam zu Protesten vor dem Bild. Dass es tatsächlich abgehängt wurde, ist nicht überliefert.
Die Gräueltaten russischer Soldaten beim Überfall auf die Ukraine thematisierte Miriam Cahn, unter anderem mit dem Ölbild „Fuck abstraction!“, eine Vergewaltigungsszene. 2023 war es in der Cahn-Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo zu sehen. Empört waren Teile der Öffentlichkeit weniger über das geschilderte Verbrechen, als über Cahns Darstellung. Rechtspopulisten hetzten dagegen; es fanden sich Kritiker, die Anzeige wegen „Verherrlichung von Kinderpornografie“ erstatteten. Der Prozess ging durch mehrere Instanzen; die Klage wurde abgewiesen. Daraufhin griff ein Mann zur Selbstjustiz und schüttete violette Farbe über die Leinwand. Bis zum Ende der Ausstellung war das Werk so zu sehen. Staatspräsident Macron verurteilte den Violett-Vandalismus. Die Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit in der Republik anhand dieses Falles erschien wie eine Wiederholung der Kämpfe des 19. Jahrhunderts.
Und damit zurück in die Provinz: nach Osnabrück. Hier leistet sich die CDU-Stadtratsfraktion einen Angriff auf die Kunstfreiheit, der an preußische Zeiten erinnert (siehe den Text „Populismus frisst Kunstfreiheit“ in diesem Blog). Sophia Süßmilchs aktuelle Ausstellung mit dem einem Märchen entlehnten Titel „Then i’ll huff and i’ll puff and I’ll blow your house in“ („Ich werde husten und prusten und dir dein Haus wegpusten“) kritisiert, so die Künstlerin, die „kapitalistische Verwertbarkeit“ von Menschen. Das Motiv Kannibalismus klingt unter anderem an, und es gab eine Performance mit entblößten Leibern. Die CDU unterstellte „kannibalistische Fantasien“ und forderte, die Ausstellung sofort zu schließen. Süßmilch erhielt eine Morddrohung von Unbekannt. Die Provinzposse fand ein überregionales Echo und hatte ansonsten keine erkennbaren Folgen: Die Ausstellung wurde nicht geschlossen und die örtliche CDU nimmt ungeachtet ihrer Blamage nichts zurück.
Skandal erzeugen, das bleibt gerade in Zeiten von emotional aufgeladener statt vernunftbasierter Politik ein probates Mittel, um Interessen zu verfolgen und sich öffentlich stark zu positionieren. Dabei geht es nicht immer um Aufklärung – und eher selten um die Ermöglichung eigensinniger, inspirierender Kunst. Bei allen Kunstskandalen aber gilt: Das Publikum, gerade auch das kunstferne, wird offensiv angesprochen. Es ist hier auf spezifische Weise Akteur.
„SkandalKunst!“ ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Griesgasse in Siegburg am Donnerstag, 10. Oktober, 18 Uhr.