Kategorien
Bildbetrachtung

Acht Sterne

Dmitri Reznikow in Aktion

Die Zeichnung zeigt acht schwarze Sterne auf weißem Grund; das Papierformat entspricht ungefähr DIN-A-3. Jeder Stern besteht aus vier Linien – vertikal, horizontal, zwei Mal diagonal; die Strecken schneiden sich im Mittelpunkt. Eine einfache grafische Grundform, aus freier Hand ohne Rücksicht auf geometrische Exaktheit gezeichnet. Drei Sterne in der oberen, fünf in der unteren Reihe. Ein junger Mann, dessen Gesicht frappierend an Franz Kafka erinnert, hält das Blatt vor der Brust, er zeigt es im öffentlichen Raum in Moskau. Hinter ihm nähert sich ein Uniformierter, der seine Arme bereits zum Zugreifen bereit zu machen scheint. Er blickt den unbekannten Fotografen dieser Szene vom 13. März 2022 an.

Ist die Zeichnung ein Werk konkreter Kunst? Der Schöpfer dieses einfachen Bilds hatte weniger einen ästhetischen als einen ethisch-kommunikativen Anspruch; die Abstraktion diente ihm für eine verschlüsselte Botschaft. Sterne als Auslassungszeichen, als Platzhalter für drei und fünf Buchstaben: нет война́.

„Nein zum Krieg“ meinen übersetzt die beiden Worte. Das Foto wurde in verschiedenen Medien wiedergegeben mit der Information, dass Dmitri Reznikow, der Akteur auf dem Foto, verhaftet und zu 50 000 Rubel (700 Euro) Geldstrafe verurteilt wurde, weil sein Sterne-Symbol von der Staatsmacht als verbotener Protest gegen den Krieg in der Ukraine interpretiert wurde.

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, der legendäre erste Satz in Kafkas „Der Prozess“. Warum darf der junge Mann nicht ein Blatt mit acht Sternen auf der Straße zeigen? нет война́ ist verboten, denn nach offizieller Lesart gibt es keinen Krieg, und der Protest gegen den Überfall ist ebenfalls untersagt. Also greift der Zeichner zu einer List, dadurch wird das simple Protestplakat zur symbolischen Zeichnung. Der Betrachter darf rätseln, was sie zu bedeuten hat. Die Sterne können für нет война́ stehen oder auch nicht, keine Version lässt sich anhand des Artefakts an sich beweisen.

Ob Kunst politisch verstanden wird und eine kritische Kraft entfaltet, entscheidet sich immer mit Blick auf den Kontext, so auch hier (selbst wenn das Bild nicht als Kunstwerk gedacht war). Die Moskauer Obrigkeit sah diesen Kontext, sie urteilte und verurteilte in diesem Sinne und ließ die Grauzone des nicht Beweisbaren, also den Zweifel zugunsten des Angeklagten, nicht gelten. 87,50 Euro pro Stern.

Es ist nicht überliefert, ob der Demonstrant seine Absicht zugegeben hat. Das spielte auch keine Rolle für seine Verhaftung. Die Polizei interpretierte schnell. So mutig Dmitri Reznikow war, so blamabel endete die Aktion für die Autokratie: In Russland darf man keine acht Sterne zeigen, diese Botschaft ging um die Welt. 

Was würde geschehen, wenn in Moskau Repliken von Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ gezeigt würden, als Symbol für den Zustand der Demokratie und der Menschlichkeit in Russland? „Roskomnadsor“, die russische Zensurbehörde und Kommunikationsaufsicht, lese ich bei Wikipedia, warnte bereits ausdrücklich vor der Verwendung von Symbolen, die „doppeldeutig“ sein könnten, zum Beispiel schwarzen Quadraten. Das Motiv wurde schon beim „Euromaidan“ in Kiew als Zeichen von Protest und Widerstand genutzt. Wie hoch der Straftarif in diesem Fall wäre, wird nicht berichtet. Und in der Tretjakow-Galerie soll das Original, das nunmehr gefährlichste Werk des Suprematismus, immer noch zu sehen sein.