Kategorien
Das Rätsel künstlerischen Denkens

Alleinstellungsansprüche

Kapitel 2

„Alles Durchschnittliche“ lässt der wahre Künstler „hinter sich“, das war die Überzeugung von Willi Baumeister, denn: „Er ist der Statthalter höherer Gesetze“ („Das Unbekannte in der Kunst“, S. 99). In Baumeisters Kunstreligion gab es diese ewigen Gesetze, bildende Urkräfte, denen der Künstler zum Ausdruck verhalf, und er hatte dabei nichts weniger als „eine unbestechliche Membrane des Weltgewissens zu sein“ (S. 106). Mit seinem Idealismus war der moderne Maler Baumeister 1947, als „Das Unbekannte in der Kunst“ veröffentlicht wurde, salopp gesagt spät dran. Ihre Aktualität bezog die Schrift aus der Absicht, eine Lanze zu brechen für die abstrakte Kunst und gegen die in Deutschland noch virulente völkische Stildiktatur. Der Anspruch, dass Künstler auf besondere Weise denken, war damit verbunden. Dem Wissenschaftler gesteht Baumeister zu, „in der Methode des Findens gleich“ zu sein (S. 170), aber die Voraussetzungen sind doch offenbar andere. Der Schöpfer von Kunst kann gar nicht anders, als den Urkräften zu folgen: „Wenn ein künstlerischer Mensch irgendeiner Tätigkeit obliegt, entsteht unwillkürlich Kunst“ (S. 133). Kurz, er hat den (gottgegebenen) künstlerischen Blick, der seine Grundlage in einer „tiefgründigen Zone“ von Form und Gestalt hat. 

Ein halbes Jahrhundert später ist von derlei Idealismus nichts mehr übrig. Statt göttlicher Eingebung oder auch nur Instinkt, der biologisch programmiert wäre, erklärt der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu den gesellschaftlich konstituierten Habitus zur Grundlage künstlerischen Denkens („Manet. Eine symbolische Revolution“; „Die Regeln der Kunst“). Wenn es dieses als eigenständige Denkweise gibt, dann innerhalb eines „künstlerischen Felds“, das Grundlage und Bedingungsrahmen ist für ästhetische Entscheidungen. Das „Feld“ ist zwar „ein gegenüber den ökonomischen und sozialen Kräften relativ autonomes Universum“, doch eben relativ, was heißt: vermittelt diesen Kräften unterworfen (Manet, S. 410). Der Anspruch auf ein Alleinstellungsmerkmal ist für Bourdieu menschengemacht – aber er bleibt: „Die künstlerische Produktion ist ein besonderer Fall von menschlichem Handeln“ (S. 63), das schöpferische Denken ein Praxisdenken, seine Sprache die „des Könnens, des Auges, des Blicks, des praktischen Sinns, des Handgriffs, der Fertigung“ (S. 132). Der Künstler ist Agent dieses Denkens, nicht allein sein Subjekt: Bourdieu argumentiert ausführlich gegen die Idealisierung der Kraft von Intentionen; es sind die meist unbewussten Dispositionen, die an die Stelle von Baumeisters ebenso unbewussten Urkräften treten. 

Der Spagat zwischen den so unterschiedlichen Denkweisen von Baumeister und Bourdieu wirft ein Schlaglicht auf die Theorieentwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die Überzeugung, dass zum künstlerischen Denken bewusste und unbewusste Anteile zwingend gehören, ist dabei eine Konstante. Urkräfte, Dispositionen, implizites Wissen: Was ist damit gemeint? Wie sind sie mit bewusstem Denken, mit Intentionen verknüpft?

Mit seiner Schrift „The Tacit Dimension“ (Die Dimension des Unausgesprochenen) hat der Philosoph Michael Polanyi 1966 wichtige Anregungen gegeben. In der deutschen Übersetzung des Titels „Implizites Wissen“ wird nicht sofort deutlich, dass es Polanyi keineswegs nur um kognitiv-mentale Prozesse ging, sondern grundsätzlicher um Nervenprozesse der Wahrnehmung, die den ganzen Körper betreffen. Jeder Gedanke, so Polanyi, umfasst Komponenten, „die wir nur mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts registrieren“. Alles Denken geht „aus dieser Unterlage, die gleichsam Teil unseres Körpers ist“, hervor („Implizites Wissen“, S. 101). „Wissen“ meint hier stets sowohl praktische (knowing how, meist unbewusst, nicht verbalisiert) als auch theoretische Kenntnisse (knowing that, in Sprache reflektiert). „Wahrnehmung“ (Polanyi verweist an dieser Stelle auf die Gestaltpsychologie) ist die „Brücke zwischen den höheren schöpferischen Fähigkeiten des Menschen und den somatischen Prozessen“ (S. 16).

Ein alltagspraktisches Beispiel für die Funktion und Notwendigkeit impliziten Wissens ist das Fahrradfahren: Der Radler hat es geübt, der Körper weiß, wie es geht, und der Geist braucht nicht Richtung, Tempo, Neigungswinkel und Erdanziehung zu berechnen, damit es klappt. Im Gegenteil: Würde man jederzeit bewusst darüber nachdenken, z. B. ob und wie stark die Bremse zu betätigen ist, wäre der Unfall abzusehen. Näherte sich von der Seite ein Auto, würde der Radler niemals umfangreiche Differenzialgleichungen berechnen, um nicht zu kollidieren. Er erfasst Tempo und Annäherungswinkel intuitiv und reagiert spontan, sonst wäre das Überleben schwierig. In den Künsten ist es nicht anders: Der Pianist erwirbt sein implizites Wissen durch ständige Übung. Er kann nicht bewusst die nächste Taste suchen, das würde ihn herausbringen aus dem Spiel; die Noten fließen ihm schließlich gleichsam aus der Hand. Und die geübte Hand des Zeichners weiß ebenfalls, was sie tut, ohne dass es dem Künstler ständig bewusst sein muss.

Was abläuft im impliziten Wissen kann nach Polanyi unter bestimmten Bedingungen ins sprachliche Bewusstsein gerufen, also ins explizite Wissen integriert werden, doch niemals während des Handelns. Denn dessen Gelingen ist, wie geschildert, abhängig vom ungestörten, implizit gewussten Ablauf. Und solche Abläufe spielen nach Polanyi in allen Lebensbereichen eine grundlegende Rolle, auch in der Wissenschaft und in der Kunst. 

Was ist damit für unsere Fragestellung gewonnen? Konfrontiert man Baumeisters „höhere Gesetze“ und „tiefgründigen Zonen“, seine Quellen des künstlerischen Denkens, mit Polanyis Thesen, wird sofort deutlich, welche Überhöhung allgemein menschlicher Fähigkeiten der Maler sich gestattet. Der Blick für Formen und Farben ist viel plausibler zu erklären als Ergebnis impliziten Wissens, das im Prinzip ebenso erlernbar ist wie Fahrradfahren. Das bedeutet nicht, dass genauso viele Menschen die Voraussetzungen haben, gute Künstler:innen zu werden, wie die, die radeln können. Es kommen noch andere Kriterien ins Spiel. Festhalten lässt sich zunächst, dass künstlerisches Denken aus derselben Grundlage erwächst wie anderes Denken auch. Polanyi: „Denken insgesamt einschließlich der höchsten schöpferischen Fähigkeiten“ hat somatische Wurzeln. 

„Unser Körper ist das grundlegende Instrument, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnisse von der äußeren Welt gewinnen“ (S. 2). Es wäre also ein Missverständnis, etwa allein die Pinselführung oder die Handhabung der Digitalkamera, also das Handwerkliche, als angewiesen auf implizites Wissen zu betrachten. Jeder schöpferische Prozess und alles, was jeweils dafür notwenig ist, fußt darauf. Natürlich ist das bei einem Pianisten, der für seine Leistung hohen Körpereinsatz und sein „Handgedächtnis“ braucht, anschaulicher als bei einem Konzeptkünstler. Doch was wäre der „vertikale Erdkilometer“ von Walter De Maria ohne das implizite Gefühl für Raum und Maß? De Maria ließ 1977 bei der documenta 6 in Kassel einen Messingstab von einem Kilometer Länge vertikal in die Erde versenken. Sichtbar ist nur das obere Ende des Stabes – eine Kreisfläche von zwei Zoll (5,08 Zentimeter) Durchmesser. Die der Wahrnehmung weitgehend entzogene Plastik setzt auf die Imaginationsfähigkeit des Betrachters.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination