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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Resümee: Methodische Imagination

Kapitel 8

Dass die Fähigkeit der Imagination keine „geheimnisvolle Kraft“ von Ausnahme-Individuen ist, sondern im Gegenteil eine allgemein menschliche, habe ich versucht zu zeigen. Praxis-Denken als „Ausdrucksstreben“ hat grundsätzlich die Chance, frei zu imaginieren und zu gestalten, Bekanntes neu zu sehen oder tatsächlich Neues zu schaffen, so auch im symbolischen Handeln der Kunst. Künstler:innen haben diese Chance, weil sie diese Möglichkeit in der Gesellschaft für sich erarbeitet haben – Bourdieus Feldtheorie hat die Argumentation historisch-soziologisch geerdet. Aus dieser Theorie wollte ich den etwas verdeckten Freiheits-Kern herausarbeiten, und der verbindet sich mit Arendts Gedanken zu einer Praxis der Freiheit, die einen schöpferischen Impuls beinhalten, den Aufbruch zu Neuem ohne Rücksicht auf Zwecke und Profite (ausführlicher zu diesem Aspekt der Text „Ein Spielraum der Freiheit“ in diesem Blog).

Was künstlerisches Denken ist, kann nicht neurobiologisch, psychologisch oder philosophisch bestimmt werden. Die Fähigkeit dazu ist im menschlichen Wahrnehmen angelegt und wird von Künstler:innen im Praxisprozess zum Leben erweckt, in konkrete Werke gefasst. Das beruht, wie beschrieben, auf sozialen Bedingungen und Möglichkeiten. Das bewusste Initiieren von Intuitionen, das Verändern und Erfinden von Metaphern, die Verbildlichung abstrakter Begriffe und die Verwirklichung von Bild-Ideen, die der methodischen Eigenproduktion entspringen, als neuschöpferische Entdeckung, das alles liegt in der Struktur des kreativen Denkens. Künstlerisches Denken, das ernst zu nehmen ist, nimmt eben diese Möglichkeiten ernst.

Die Fähigkeit zur Imagination, die Einbildungskraft, habe ich (mit Beuys sowie Lakoff und Johnson) versucht zu beschreiben als leibliche Fähigkeit, die grundlegend ist für bildhaft anschauliches Denken. Imagination ist eine Form der Weltwahrnehmung wie der Weltgestaltung. Sie gibt ein Bild von Sinnesdaten und gestaltet Fiktives. Ein Hinweis auf diese Doppelwertigkeit der Imagination findet sich bereits in der Romantik bei Samuel T. Coleridge: Der Dichter und Theoretiker beschrieb „primäre Imagination“ als konstitutiv für Erkenntnis und sah in einer „sekundären Imagination“ den Ursprung der Kunst (nach Christopher Long: „Imagination“, in: „Enzyklopädie Philosophie“, S. 616 ff.). Und zur Weltgestaltung durch Kunst gehört mit Beuys auch der Schritt über das Symbolische und Fiktive hinaus: Die Kunst entwickelt „neue Sinnesorgane hinzu“, die den Prozess der menschlichen Selbsterkenntnis und (politischen) Entwicklung als „Freiheitswesen“ befördern (zit. n. Bezzola, „Beuysnobiscum“, S. 140).

Auch wenn Künstler:innen grundsätzlich dieselben Denkvoraussetzungen haben wie alle Menschen, erscheint künstlerische Imagination als ein anspruchsvolles und längst nicht von jedermann beherrschtes Instrument. Künstler:innen gebrauchen Imagination gezielt, um ästhetische Prozesse zu initiieren: Methodische Imagination möchte ich das, was künstlerisches Denken im Kern ausmacht, nennen (in Analogie zur methodischen Intuition bei Beuys). In Coleridges Terminologie ist die sekundäre Imagination strukturell identisch mit der primären, unterscheidet sich aber in Intensität und Wirkungsweise von dieser. Er beschreibt sie als ein Oszillieren, eine ständige Spielbewegung zwischen Destruktion und Aufbau (vgl. Wolfgang Iser: „Das Fiktive und das Imaginäre“, S. 326 ff.).

Künstlerisches Denken zielt dabei auf die Verwirklichung schöpferischer Freiheit (deren Bedingungen und Möglichkeiten mit Bourdieu beschrieben wurden). Künstler:innen mit dieser Motivation bieten Modelle, die in andere soziale Felder hinein wirken können. Um ihre Imaginationen ästhetisch zu verwirklichen, erarbeiten sie sich und nutzen gezielt implizites Wissen oder Dispositionen, erarbeiten und nutzen einen künstlerischen Habitus. Sie professionalisieren ihr Praxisdenken. Zur Macht dieses Denkens gehört, dass alles zu seinem Gegenstand und Thema werden kann. Alle Formen und Strukturen sind im Fluss, nichts legt die Imagination prinzipiell fest. Sie ist nicht zwingend gebunden an Sprache – Bilder existieren unabhängig von ihrer Verbalisierung. Der Zusammenhang von Sprache und Imagination ist jedoch eng, wie im Abschnitt über metaphorische Konzepte beschrieben. Die sprachliche Struktur dieser imaginativen Konzepte wird nicht immer bewusst. Denken kann demnach aus allen Imaginationen schöpfen, den rein Visuellen wie den Sprachbildern.

Wenn Künstler:innen das Imaginationsspiel zu überraschenden und ästhetisch anrührenden bzw. irritierenden neuen Varianten treiben, erweitern sie möglicherweise den Horizont der Einbildungskraft des Betrachters. Gegen die verkörperte Macht der Dispositionen tritt hier in der Tat eine Gegenmacht des Zeigens (in Anlehnung an Gottfried Boehm: „Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens“), die in Bewegung bringen und inspirieren kann. „Aus Materie wird Sinn, weil die visuellen Wertigkeiten im Akt der Betrachtung aufeinander reagieren (…). Es ist ein nicht-prädikativer Sinn, dem kein sprachlicher Logos vorausgeht, an dem freilich alle erforderlichen sprachlichen Diskurse anschließen (…). Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung“, schreibt Gottfried Boehm (ebd. S.52 f.), womit sich der Kreis schließt. Das gewisse Pathos in diesem Zitat mag man belächeln und an die gewaltigen Räume von Unsinn denken, die auch existieren können. Das ändert aber nichts an dem unausschöpflichen Potenzial der Imagination, Freiräume zu eröffnen und neuen Sinn zu setzen. Ein Potenzial, das es zu nutzen gilt, ebenso wie die kritische Funktion der Urteilskraft.

In der Praxis, in konkreten Werkbiografien und den individuellen oder kollektiven Arbeitsprozessen, differenzieren sich die hier umschriebenen Möglichkeiten des Denkens aus zu spezifischen Formen, Logiken und Inhalten. Das allerdings liegt jenseits der Frage allgemeiner Grundlagen künstlerischen Denkens.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Institution der Freiheit

Kapitel 7

Von einigen Bourdieu-Lesern wurde die Kritik geäußert, der Soziologe lasse – noch zu sehr im Strukturalismus verhaftet – dem Individuum zu wenig Raum für eigenständiges Denken und freies Handeln. Das Feld und der Habitus gelten da oft nur als Festlegungen, als determinierend. Bei genauem Hinsehen aber finden sich (in den „Regeln der Kunst“, in den Manet-Vorlesungen, im dokumentierten Gespräch mit dem Konzept-Künstler Hans Haacke) starke Aussagen zur subjektiven Freiheit, vor allem in Bezug auf das künstlerische Praxisdenken (zur Kritik an Bourdieu siehe das Kapitel „Kritik und blinde Flecken“ im Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich/ Boike Rehbein, S. 401 ff. Das Gespräch mit Haacke ist abgedruckt in dem Buch: Pierre Bourdieu/Hans Haacke: „Freier Austausch“). Immer ist die künstlerische Freiheit bei Bourdieu an die Struktur des Feldes und die Position des Akteurs darin gebunden. Mehr noch: Sie wird aus diesen erst erklärbar. Die Autonomie des künstlerischen Felds ist Garant subjektiver Autonomie. Schön paradox: Die Möglichkeit der Freiheit, so Bourdieu, zwingt sich jedem auf, der die Rolle des Künstlers ausfüllen will („Die Regeln der Kunst“, S. 225).

Im künstlerischen Feld sieht er die Positionen weniger festgelegt als in anderen sozialen Feldern, sie sind weniger an formale Voraussetzungen gebunden, dadurch auch unsicherer. Die strukturelle Offenheit, die Lücken im System begünstigen dessen Veränderung durch künstlerisches Handeln. Die Chancen „subjektiver Wahrnehmung“, „schöpferischer Macht“ oder wie Bourdieu den Eigensinn der Akteure immer auch nennt, hält er jedenfalls für institutionalisiert. 

Hintergrund dafür ist auch seine Ablehnung idealistischer Bewusstseinsphilosophie bzw. des (marketingtauglichen) Mythos vom genialen Schöpfer. Künstler verkörpern zwar „Institutionen der Freiheit“, aber die Bedingungen der Möglichkeit dazu liegen nicht im Subjekt: Es geht um die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit eines „Subjekts“ (ebd. S. 407 u. 332); das Feld erschafft den Schöpfer. 

Voraussetzung für einen Werkprozess in relativer Unabhängigkeit ist die „uneingeschränkte, affektive, emotionale Besetzung“ des Projekts (S. 139), demnach eine den Menschen in seiner Subjektivität fordernde Prämisse. Ausdrucksimpulse folgen körperlich verankerten Wahrnehmungsschemata; das implizite Wissen ist erworben, gehört zum Habitus. Das ist eine professionelle Arbeitsgrundlage, die entwicklungsfähig bleibt. Künstler:innen können dabei den Strukturen wie sich selbst gegenüber in reflexive Distanz treten, sprich: über ihr Denken und ihre Ziele im Praxisprozess nachdenken. Und ihr „Ausdrucksstreben“ (S. 16) kann alle Formvorgaben überformen. Bewusste Berechnung, Intentionen bauen darauf auf; Bourdieu führt das nicht aus, doch lässt sich schließen, daß er ihren Anteil am Prozess für variabel je nach Akteur und Kontext hält. 

Hans Haacke beweise, so Bourdieu, „daß ein Einzelner enorme Wirkungen erzielen kann“, bezogen auf die gesellschaftspolitischen Themen Haackes: „indem er sich dem Spiel verweigert, gegen die Regel verstößt“. Haacke sieht sich als Künstler in der Rolle eines Repräsentanten symbolischer Macht, eben weil er „Ausdrucksfreiheit“ in Anspruch nehme. Welches Denken ist damit praktisch verbunden? Bourdieus Hinweis ist, dass der Künstler Analysen aus der Strenge des Begriffs „in die Sphäre der Empfindung überträgt, wo die Sensibilität und die Gefühle hausen“. Das sei die spezifische Kompetenz des Künstlers („Freier Austausch“, S. 88, 10 u. 34).

Künstlerisches Denken zielt in dieser Praxistheorie der ästhetischen Ausdrucksfreiheit nicht auf Erkenntnis, auf eine Wahrheit, sondern zunächst auf die Erweiterung der Wahrnehmung. Der Weg geht von der Festlegung zur Öffnung des Blicks. Mit diesem Prozess ist sowohl bei der Künstler:in wie bei der Betrachter:in ein ästhetisches Urteilen verbunden, eine Fähigkeit, die selbständige Urteilskraft verlangt. „Urteilen und Entscheiden“ um der Gestaltung der gemeinsamen Welt willen ist bei Hannah Arendt eine Haltung „im Kulturellen und im Politischen. (Arendt: „Kultur und Politik“, in: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, S. 300). Die Philosophin ließ als einzigen Bereich der Herstellung von Dingen der Kultur (der Technik, der Fabrikation) die Kunst zu als freiheitsfähig gleich dem idealen politischen Handeln. Das war Jahre vor Bourdieus soziologischen Untersuchungen, die sich so auch als Bestätigung von Arendts Thesen lesen lassen. 

„Unabhängig von allen Zweck- und Funktionszusammenhängen“ sind Kunstwerke, die weniger dem Herstellen als dem freien Denken und Handeln entspringen, „in ihrem Sosein, in ihrer Qualität immer gegenwärtig“, setzt Arendt die im künstlerischen Feld produzierte Möglichkeit der Autonomie absolut. Ihre „Fähigkeit, von sich aus zu ergreifen“, verlieren Werke der Kunst, wenn sie als Tauschwert berechnet ihren kulturellen Wert einbüßen (ebd. S. 289 u. 278). Künstler:innen, so interpretiere ich Arendt, denken künstlerisch nicht mit Blick auf den Markt. Das Feld ist eben, so schildert es Bourdieu, gegen den Markt und seine Ent-Wertung der Kunst entwickelt worden – von Akteuren einer sozialen Klasse, wie eben Manet, die sich „Ausdrucksfreiheit“ leisten konnte. Fragen der sozialen und ökonomischen Zugangsbeschränkung stellen sich nach wie vor, auch wenn es prinzipiell jedem freisteht, das Erbe jener Akteure anzutreten.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Praxis im künstlerischen Feld

Kapitel 6

In den Kapiteln 2 bis 5 geht es einmal um die Struktur von Wahrnehmung und Kreativität als Voraussetzung für das künstlerische Praxisdenken. Anhand von Argumenten der Leibphänomenologie und der Metapherntheorie habe ich versucht, wesentliche Merkmale aufzuzeigen. Als zusammenfassender Begriff dient Polanyis „implizites Wissen“. Zum anderen habe ich zu Beginn kurz den soziologischen Standpunkt von Bourdieu geschildert, der von erlernten Dispositionen im künstlerischen Feld spricht. Er verortet diese Form impliziten Wissens im „kulturell Unbewussten“. In beiden Fällen geht es um die automatisierten oder verkörperten, zunächst nicht reflektierten Bedingungen und Formen des Praxisdenkens, die den weiten Raum bedeuten, innerhalb dessen Rationalität, also bewusstes und begründetes Denken seinen Platz hat. Anhand von Beuys’ Werk kann man zeigen, wie sich Intuition für Rationalität gezielt nutzbringend machen lässt – wobei Intuition immer schon Teil der Rationalität ist. Um zu beschreiben, welchen Bedingungen diese Methode im künstlerischen Feld unterliegt und welche Chancen sie hat, möchte ich nun auf Bourdieus Praxistheorie zurückkommen. Seine soziologische Betrachtunsgweise liefert wichtige Ergänzungen zur leibphänomenologischen Perspektive.

Das „künstlerische Feld“ zeigt sich als faszinierendes Konstrukt. Es beinhaltet alle sozialen und kulturinstitutionellen Faktoren, die Einfluss auf die Haltung und die Arbeit von Künstler:innen haben können – Akademien und Museen, Galeristen, Kritiker und Käufer, um nur einige Beispiele zu nennen. Deren Handeln lässt sich nach Bourdieu nicht ausschließlich als lästige Einflussnahme oder gar Gefährdung der Autonomie interpretieren. Das Feld ist auch so etwas wie ein Filter und Schutzmechanismus, der die Einflussnahme aus anderen sozialen Feldern, der Ökonomie und der Politik vor allem, moderiert. Bourdieu sieht da kein direktes Durchgreifen, sondern eine Vermittlung, die auch die Möglichkeit der Selbstbehauptung zulässt, einschließlich der Chance, die Feld-Bedingungen zum Inhalt des künstlerischen Prozesses zu machen. 

Schauen wir uns das im Detail an: Bourdieus Theorie ließe sich in einer Beuysschen Tafelskizze zeichnen als ein ineinander verwobenes dreiteiliges Gebilde. Im umfassenden sozialen Feld liegt eingebettet das künstlerische Feld, darin wiederum findet sich als einer der Teilnehmer die Künstlerin oder der Künstler. Zwischen allen Faktoren weisen Pfeile in beide Richtungen, sie zeigen die Verbindungen und wechselseitigen Beeinflussungen an. Um die Pointe vorwegzunehmen: Den Akteuren räumt Bourdieu trotz aller Bedingtheiten und Abhängigkeiten einen schöpferischen Freiraum, eine Möglichkeit zur Autonomie ein – zu einem genuin künstlerischen Praxisdenken.  

Voraussetzung dafür ist die schon angedeutete relative Autonomie des künstlerischen Felds. „Ein autonomes Feld hat die Fähigkeit, das, was von außen eindringt, zu brechen, es nach seinen eigenen Regeln umzuformen“, heißt es in Bourdieus Vorlesungen zu Manet („Manet. Eine symbolische Revolution“, S. 191). Diese Regeln – an anderer Stelle schreibt Bourdieu auch von der „Struktur“ und der „eigentümlichen Logik des kulturellen Feldes“ („Zur Soziologe der symbolischen Formen“, S. 124) – verlangen, dass jeglicher Einfluss, ob hinderlich oder förderlich, nur in der eigenständigen Interpretation des künstlerischen Denkens auf dieses Denken wirken kann. „Ökonomische und soziale Ereignisse (…) können in die künstlerische Praxis nur eingreifen, indem sie sich in Objekte der Reflexion oder Imagination verwandeln“ (ebd.; offenbar bezieht Bourdieu in solche Überlegungen extreme, das Recht verletzende politische und ökonomische Verhältnisse nicht ein). Übertragen wir diesen Befund auf das Verhältnis von Künstler-Individuum und kulturellem Feld, können wir dem künstlerischen Denken und der Kraft der Imagination die wichtige Aufgabe zuordnen, die Dispositionen des Felds zu filtern, zu brechen, zu reinterpretieren. Das ist ein Strukturaspekt der Autonomie des Künstlers, mit ihm entscheidet am Ende das Ästhetische („Manet“, S. 410 u. 466). Was das im Einzelnen, für eine Werkbiografie, bedeutet, lässt sich auch nur für den spezifischen Fall rekonstruieren. Bourdieu sieht das als wichtige Aufgabe der Kritik.

Das Verhältnis von Künstler:in und künstlerischem Feld, von Habitus und Selbstbild, von Dispositionen und Intentionen beschreibt Bourdieu durchweg entlang der Praxis bzw. seiner Praxistheorie. „Nur ein ganz kleiner Teil der künstlerischen Produktion“ erkläre sich aus den Intentionen, den bewussten Vorsätzen des Schöpfers, der Großteil spiele sich im Unbewussten ab. Unter dem Unbewussten versteht Bourdieu sowohl „das, was implizit ist und auf der Ebene des Praktischen belassen wird, als auch das, was im psychoanalytischen Sinn verdrängt wurde“. Mit Disposition bezeichnet er inkorporiertes und unterbewusstes Denken, das im künstlerischen Feld Möglichkeiten eröffnet. Wie nutzen die Akteur:innen diese Möglichkeiten? In dispositionalistischer Sicht sind Künstler:innen bei Bourdieu mehr Agent:innen ihrer Dispositionen, als Subjekte ihrer Handlungen (vgl. ebd. S. 78, 62, 81 u. 97). Allerdings widerspricht es dieser Denkweise wohl nicht, Künstler:innen als bewusste Initiator:innen des Prozesses zu sehen, in dem sie dann ihr implizites Wissen in Gang setzen und nutzen. 

Manet hatte diesen Beginn als „Sich-ins-Wasser-stürzen“ umschrieben, so zitiert ihn Bourdieu und folgert, in dieser „Philosophie des Handelns“ stecke „ein Moment vorbedachter Unbedachtheit“, die Ablehnung einer intellektualistischen oder akademischen Sicht zugunsten der praktischen Ästhetik. Im Wasser kommt es aufs Schwimmen, auf die gelernten Bewegung an, um nicht unterzugehen. Es gibt sicher auch andere Möglichkeiten, einen Anfang zu setzen, doch die Intention des Beginnens wird allen gemeinsam sein. 

Indem Künstler:innen also „die Sprache des Könnens, des Auges, des Blicks, des praktischen Sinns, des Handgriffs, der Fertigung“ sprechen (S. 132), legen sie die notwendige Grundlage für bewusstes künstlerisches Denken. So wie der Pianist sein in langen Übungen inkorporiertes Praxiswissen nutzt, um der Musik den von ihm intendierten Ausdruck zu geben, seine Interpretation bewusst zu entwickeln, so hat der Maler, Bildhauer oder Performance-Künstler die Chance auf seine freie, überlegte oder „vorbedacht unbedachte“ Gestaltung, selbst wenn diese laut Bourdieu den eher geringeren Anteil am Gesamtprozess hat. In seiner Perspektive gilt für den Pianisten wie für den Maler, dass sie ihren Freiraum, ihren Handlungsspielraum in einem System haben, das Zwänge ausübt – aber eben auch Möglichkeiten eröffnet (vgl. ebd. S. 166f.). 

Den Habitus, den Künstler:innen sich (mit Hilfe der Institutionen und des Marktes) zulegen, nennt Bourdieu „ein System von Dispositionen“. Es handelt sich also nicht um „Instinkt“; der biologische Begriff wird von Kritikern wie Künstlern oft verwendet, obwohl sie gesellschaftliche Konventionen meinen. Bourdieus Beschreibung des Habitus als „belehrte Unwissenheit“, als unbewusstes handwerkliches Können, stimmt mit der Beschreibung impliziten Wissens bei Polanyi überein. (Der Habitus als bloße Attitüde, als Repertoire des Verhaltens, der Kleidung, des Auftretens in der Künstlerrolle, ist für Bourdieu in diesem Zusammenhang kein Thema.) Am Beispiel Manet jedenfalls unterscheidet der Kunstsoziologe die praktische Ästhetik aus dem Künstlerhabitus von der „Allerweltsästhetik“: „Er macht Bilder damit, während unsere alltäglichen Ästhetiken von Nützlichkeitserwägungen ausgehen“ – zum Beispiel: eine passende Krawatte auswählen (ebd. S. 102, 349ff. u. 359). Zwecke außerhalb des künstlerischen Denkens, außerhalb der intuitiven Logik des Handlungsprozesses und seiner Reflexion, so Bourdieu, zählen nicht zur Kunst. Denn Kunst ermöglicht Prozesse ästhetischer Erfahrung, die nicht vollständig der Notwendigkeit der Natur und nicht den Zwecken der Kultur unterliegen. Ihr Denken eröffnet einen (Handlungs-) Raum ästhetischer Freiheit, initiiert sinnlich-geistige Erfahrungen, die das Welt- und Selbstverständnis verändern können. 

Am Ende des 19. Jahrhunderts war das autonome Kunst-Feld aus soziologischer Sicht vollständig entwickelt (Bourdieu beschreibt das ausführlich in „Die Regeln der Kunst“). Und mit der Etablierung des Künstler-Habitus und seiner Dispositionen hat sich das Verhältnis von Intention und Disposition verändert. Spätestens seit den symbolischen Revolutionen von Marcel Duchamp, vielleicht das Ende der echten Grenzüberschreitungen, können nachfolgende Generationen diese Denk- und Arbeitsweisen übernehmen, zitieren und differenziert weiter entwickeln. Daraus resultierten zahlreiche Varianten reflektierter, selbstbezüglicher Kunst, Strategien des kalkulierten Bildermachens. Was aber bleibt, ist der Wert des impliziten Wissens, der Körper-Intelligenz, und damit der Raum der Möglichkeiten, den die Disposition im „Feld“ eröffnet. Sich auf das Spiel einzulassen (was Duchamp in Bezug auf Malerei schließlich verweigert hat) und in welcher Weise, heißt dann auch zu beeinflussen, welches Gewicht die strukturellen Zwänge haben. Künstlerisches Denken, wir haben es bei Beuys gesehen, hat gerade auf dieser Basis die Option der gestalteten und gestaltenden Selbstreflexion. 

Die Malerei hat im Lauf dieser historischen Entwicklung ihre Mittel, ihr Material zum Gegenstand gemacht, die Form von der Erzählung befreit, sie war abstrakt und konkret. Sie hat neue Konventionen entwickelt. Dann stand all dies im historischen Abstand zur Verfügung für Zitate und Vermischungen (Jasper Johns’ „Flag“: Abbild oder Abstraktion?), für Trash und den ironischen Zugriff (à la Sigmar Polke: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“), für die Ornamentarisierung und die Politisierung und so fort. Dieser fragmentarische Schnelldurchlauf soll nur aufblitzen lassen, wie reich künstlerisches Denken in der Verbindung von Intuition und Selbstreflexion existiert. Heute kann indes die reflexive Distanz zu Inhalt und Form der Gestaltung so groß sein, dass implizites Wissen und Dispositionen dadurch scheinbar nurmehr eine geringe Rolle spielen. Wenn „medial vielfältige Werke (…) Themenkomplexe wie Identität und Produktivität sowie Präsenz im Kontext von Raum und Gesellschaft (verhandeln)“ (so die Beschreibung der Arbeit des Künstlerduos Famed in der tageszeitung vom 31.3.2020, S. 17), lässt dann der intellektuelle Anspruch, der Forschergestus noch Raum für Intuition im künstlerischen Denken? Er muss, denn auch er gründet auf Imagination – erinnern wir uns an Polanyis Aussage zur Notwendigkeit impliziten Wissens für Wissenschaft und Forschung. Ob die Imagination des Betrachters so angeregt wird, ist eine andere Frage. 

Die Gestalter oder Verweigerer, die Subversiven oder wie auch immer Eigensinnigen (Artaud wäre hier wieder ein Beispiel) nehmen sich die Freiheit, trotz und mit ihren Dispositionen Kunst auf ihre Weise zu machen. Abgesehen davon hat das System „Feld“, wie jedes System, seine Fehlertoleranzen, ohne die es nicht funktionieren würde. Das negiert nicht grundsätzlich strukturelle Zwänge, bietet aber schon immanent die Chance auf Ereignisse, die die Institutionen irritieren und feste Strukturen öffnen. Das lässt sich nutzen, bildnerisch wie auch poetisch. Ernst Jandl, um einmal einen Schrifsteller als Zeugen zu bitten, hatte das zur Methode kultiviert: Der Schreibprozess begann mit Nichtwissen, er notierte eine erste Idee, Formulierung ergab Formulierung. Beim Schreiben musste sich etwas ereignen, Jandl wollte „in ästhetisch unbekannte Zonen aufbrechen“ (Klaus Siblewski in: Ernst Jandl, Werke Bd. 4, S. 632). Hier kehren sich die Dinge scheinbar um: Die Dispositionen sollen tanzen, kein Handgriff muss sitzen, die Sprache des tastenden Nichtkönnens ist erlaubt, das Experiment provoziert Ereignisse. Es geht auch hier darum, das implizite Wissen zu nutzen, nicht es auszuschalten. Die Methode zielt gerade auf die Chance, es zu provozieren, zu manipulieren. 

Es gibt ein poetisches Praxisdenken, das auf den Bereich des begrifflich (noch) nicht Erfassten abzielt, auf ein lyrisches Imaginieren, letztendlich auf ein mit sprachlichen Mitteln evoziertes Nichtsprachliches. Das poetische Sprechen, so der Lyriker Steffen Popp in seiner Huchel-Preis-Rede 2014, soll mehr etwas hervorbringen als benennen. Er umschreibt diese Praxis als „Expeditionen in Unbegriffliches“. Nicht zuletzt aus Sprachskepsis ist dieses Praxisdenken, so Popp, ein Widerstand gegen gewohnte Logiken und Muster. Das sind die Bourdieuschen Dispositionen. Sowohl Jandls als auch Popps Ansatz nähern sich Strategien der Bildenden Kunst, z.B. Verfahren des Zeichnens.

Implizites Wissen und soziale Dispositionen, wie sie hier beschrieben wurden, sind Voraussetzungen der künstlerischen Praxis in doppelter Hinsicht: (möglicherweise einschränkende) Bedingung und gleichzeitig Medium der Arbeit, Chance zur kreativen Freiheit, die sich ihre eigenen Regeln setzt. Ohne die in Erfahrung und Übung erlernten Verhaltens- und Denkweisen, ohne die internalisierten Dispositionen gibt es kein künstlerisches Denken, keinen Gestaltungsprozess.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Intuition als Methode bei Joseph Beuys

Kapitel 5

Was Joseph Beuys über das künstlerische Denken gedacht und geäußert hat, erscheint vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten als erstaunlich aktuell. Seine Denk- und Arbeitshaltung ist als Beispiel für die hier grundsätzlich in Frage stehende gut geeignet – auch, weil Beuys sein Praxisdenken ständig reflektiert und erläutert hat. Er hat klar gesehen, dass ästhetische Werke aus implizitem Wissen hervorgehen. Beuys nannte es erweiterte Erkenntnis, über das Rationale hinaus. Und er traute der Kunst zu (und verlangte es seinem Werk ab), die „Sinnesorganisation so zu bearbeiten“, dass der Mensch „mehr Welt wahrnimmt“ (zit. n. Tobia Bezzola in: „Beuysnobiscum“, S. 140). Das Unbewusste, die Intuition zu einem genuin künstlerischen Organ zu entwickeln, ging Beuys methodisch an. Für ihn war Inspiration das Gefühl, dem der Künstler Raum geben muss, die Offenheit für zufällige oder geplante Begegnungen, die dem aktiven Sehen (Inspiration ist kein passives Vermögen, wie oft behauptet wird)  Stoff geben für spontane Ideen. Imagination kommt, so Beuys, aus dem Leib, es ist Vorstellungs- oder Einbildungskraft. Wir haben bei Lakoff und Johnson gesehen, wie bildhaft anschauliches Denken in metaphorische Konzepte mündet, die auf inkorporierten Erfahrungen, Erinnerungen gründen, die aber auch gestaltet werden können. Imagination ist ein grundsätzlich aktives Vermögen. 

All dies mündet für Beuys in kreativer Intuition. Da dieses Wollen das (in keinem Fall etwa abzulehnende) analytische Denken, die Logik übersteigt – oder unterfüttert mit Gefühl und Einbildungskraft –, ist es einerseits nicht instrumentalisierbar, kaum zu kontrollieren, ist damit andererseits die Quelle für neue Erkenntnisse, für eine ästhetische Erweiterung. Wenn Beuys auch davon ausging, dass die Kraft der Intuition nicht vermittelbar ist, hielt er sie dennoch für provozierbar. Das machte sein künstlerisches Praxisdenken aus: Er entwickelte Methoden, mit Materialien, deren gefühlten Energien und Kräften in Kontakt zu treten; er erkundete Lebensprozesse, ebenso kulturelle Praktiken wie Rituale und Meditation. Immer mit dem Ziel, die Grenzen des herrschenden zivilisatorischen und kulturellen Bewusstseins zu durchbrechen, die Einengungen des instrumentellen Denkens aufzuheben (vgl. Bezzola ebd. S. 199ff.). In Steinerscher Diktion sprach Beuys in doppelter Bedeutung von „leibschöpferischen Kräften“: das Geistig-Seelische entwickelt sich aus dem Leib, wie umgekehrt das Geistig-Seelische den Leib gestaltet (Joseph Beuys: „Mysterien für alle“, S. 45 u. 177). Beuys’ Körperdenken ist gelenkiger, als das aufs Gehirn eingeschränkte: „Ich denke sowieso mit dem Knie“, einer der bekanntesten Beuys-Aphorismen von einer Kunstpostkarte, erklärt sich genau daraus. 

Exemplarisch für das assoziativ-provokative Denken in diesem Sinne ist die Aktion „Titus Andronicus/Iphigenie“ von 1969: Beuys agiert auf der Bühne auf verschiedene Weise mit Material und einem lebenden Pferd, dazu sind Texte von Shakespeare und Goethe zu hören. „Formal ist der Bedeutungszusammenhang zwischen diesen drei Aktionskomponenten nicht erkennbar, jedoch wird intuitiv erfaßt – und darauf kommt es Beuys an –, dass hier anhand heterogen erscheinender Bedeutungsfelder eine Verbindung erzielt werden kann, die sich außerhalb vordergründiger Evidenz in einer Ebene der Imagination herstellt“: Beuys möchte „im Unterbewußtsein vorhandene Residuen aufbrechen“ und ästhetisch einen „chaotisch lösenden Vorgang“ initiieren. Seine „Kunst bietet nur Form“, die „Sinnesorgane stimuliert“ (Götz Adriani et. al.: „Joseph Beuys“, S. 4, 47 u. 105).

Wie kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat Beuys das (intuitive und rationale) Denken selbst zum Inhalt des künstlerischen Prozesses gemacht. Metaphorisch fasste er diese Praxis als erweiterte Form der Bildhauerei auf: „Denken ist Plastik“ nannte er das Konzept. Der räumlichen Vorstellung dahinter widerspricht nicht, dass er oft mit Diagrammen, Tafelbildern und Tabellen gearbeitet hat, die geschriebene Worte und gezeichnete Linien verbanden. Die Fläche dieser Visualisierungen stand für den abstrakten Raum – „eine Form von Räumlichkeit, in der Materialität und Idealität, das Anschauliche und das Denkbare sich mit einander verschränken: Hand, Auge und Geist können auf dieser diagrammatisch erzeugten Fläche zusammenarbeiten“, schreibt die Philosophin Sybille Krämer (in: Bromand/Kreis (Hg.): „Was sich nicht sagen lässt“, S. 180. Die Autorin bezieht ihre Aussage nicht speziell auf Beuys). Dabei entstehen materielle Spuren/Manifestationen des künstlerischen Denkprozesses, in einer Verbindung von Zeigen und Sagen  (vgl. ebd. S. 186). Diese Zeichnungen sind oft Ergebnisse von Aktionen. Die Arbeiten vereinen in unterschiedlichen Anteilen Schrift; Linien, die den Text verdeutlichen (Pfeile, Verbindungen, Unterstreichungen, Einkreisung von Worten etc.);  freie Linien, Schraffuren, Raumlinien, gestische Linien (Energie, Bewegung); geometrische Elemente; figürliche Elemente (Silhouetten von Mensch, Sonne, usw.); Symbole und Piktogramme. Auch Material collagierte Beuys mitunter in solche Bilder, so bei „Aktion im magnetischen Raum“ 1964 (im Katalog „Zeichnungen“, S. 179)

Diese Methode, die einem in der Neurobiologie behaupteten Entweder-oder von Kreativität und methodischer Rationalität (so z.B. Kandel in „Das Zeitalter der Erkenntnis“, S. 553) im Denken widerspricht, setzt intuitiv auf einen Effekt, der unter dem Begriff  Emergenz auch in der Metapherntheorie eine Rolle spielt: In einem Denkprozess entsteht durch das Zusammentreffen verschiedener Inhalte etwas Neues, dessen Eigenschaften sich nicht in den Ursprungselementen finden. Emergenz übrigens kann als starkes Indiz dafür gelten, dass es geistige Phänomene gibt, die nicht biochemisch determiniert sind. 

Für Beuys war es wichtig, und das ist es auch für meine Überlegungen, dass „Gefühl und Empfindung allein“ nicht zum Kunstwerk führen: Das ergäbe „ein diffuses, sentimentales Resultat ohne geistige Gestaltung“. Jeder Gestaltungsprozess, jeder Denkvorgang bedürfe einer ordnenden Form. „Die Form organisch lebendig zu erhalten, in ihr den Energiezusammenhang unmittelbar aufzuzeigen, ist nur möglich, wenn sie die Kraft des ursprünglich chaotischen Impulses ebenso enthält wie die kreativ prozessuale Einbindung des Empfindens“ (Bernd Klüser in: Joseph Beuys: „Zeichnungen“, S. 78 u. 79). Die Bewegung zwischen Wärmepol und Kältepol (in Beuys’ Terminologie), ein Prozess in Interaktion mit dem Betrachter, gilt als Kernelement der Plastischen Theorie. 

Die gestaltende Kraft der Intuition formt das Werk, bildet den Künstler und wirkt in die Gesellschaft – das Stichwort dazu lautet „Soziale Plastik“. Kunst im nach Beuys „erweiterten Sinne“ ist, so schreibt Harald Szeemann, „keine systemkonforme Aktivität, deshalb ist sie für Beuys >die einzige revolutionäre Kraft. Das heisst, nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich die Verhältnisse ändern<“ (Harald Szeemann in: „Beuysnobiscum“, S. 176). Beuys’ Kurzformel dafür war: „Kunst gleich Kreativität gleich menschliche Freiheit“ (zit. n. Adriani et. al., S. 119).

Beuys hatte eine gesellschaftliche Entwicklung diagnostiziert (und davon sein künstlerisches Denken abgesetzt), die sich seitdem nicht grundlegend geändert hat – und deshalb auch heute nicht nur von Künstlern in ihrer Praxis kritisiert wird. „Reichtum des Verstandes und Armut der Sinne sind zwei Seiten desselben Zivilisationsprozesses“, so reformulierte der Sozialphilosoph Oskar Negt das Problem und folgerte: „Dadurch, daß die Sinne blind bleiben, hat auch der Verstand seine Sehkraft verloren“ („Der politische Mensch“, S. 303 u. 359). Was heißt „Bildung der Sinne“ in einer zunehmend unsinnlichen (oder medial verkürzt sinnlichen), hochtechnisierten Alltagsumwelt?, fragt Negt. Es kann nur darum gehen, die „Sehkraft“ von Sinnen und Verstand, die oben beschriebene Kraft der Imagination und der Intuition also, zu stärken – ein Praxisdenken dazu hat Beuys exemplarisch entwickelt und in Werkprozessen realisiert. Die Bildung der Sinne und des Geschmacks sind Elemente der Entwicklung von Urteilskraft. Das reflektierte Unterscheidungsvermögen, das dem je Besonderen seinen Eigen-Sinn lässt, ist Voraussetzung auch für politische Urteilsfähigkeit. Wirklich künstlerisches Denken ist demnach nie unpolitisch.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Metapher als Konzept

Kapitel 4

Die Metapher, wörtlich übersetzt eine Übertragung, ist bekannt als rhetorisches Stilmittel, das dazu dient, etwas in bildhafter Weise zu veranschaulichen. Das Sprachbild ist allgegenwärtig im Alltag: Immer wieder mal bekommt jemand einen Korb oder es wird eine Kuh vom Eis geholt. Als metaphorisch werden darüberhinaus auch Grundlagen menschlichen Denkens beschrieben. „Der Grund, weshalb wir uns so intensiv auf die Metapher konzentrieren, besteht darin, daß sie Vernunft und Imagination in sich vereint“, schreiben George Lakoff und Mark Johnson in ihrem Buch „Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern.“ „Zu den vielen Facetten der Imagination gehört die, daß wir eine Art von Phänomen von einer anderen Art von Phänomen her wahrnehmen – diese Weise der Weltbetrachtung bezeichnen wir als metaphorisches Denken. Also stellt die Metapher eine auf der Imagination beruhende Rationalität dar.“ Mehr noch: Der normale Rationalitätsbegriff als solcher, so die Autoren, beruhe „im Kern auf der Imagination“ (S. 220 f.).

Als Konzepte zur Welterfassung sind Metaphern demnach weit mehr als ein sprachliches Stilmittel: Sie sind „das zentrale Sinnesorgan für unsere soziale und kognitive Welt“ (S. 8). Metaphorische Konzepte durchdringen Sprache, Denken und Handeln und sind dabei so allgegenwärtig und selbstverständlich, dass sie meist nicht als sinnbildlich ins Bewusstsein treten, sondern für natürliche Realität gehalten werden. Sie gründen in physischen und kulturellen Erfahrungen und wirken auf Erfahrungen und Handlungen zurück (S. 85). „Viele Metaphern werden noch vor dem Spracherwerb von uns erlernt, andere später über Sprache“, so die Kognitionslinguistin Elisabeth Wehling: „Unsere Gehirne spannen vom Säuglingsalter an ein riesiges Netzwerk von metaphorischen Mappings auf, die als kognitive ‚Kuppler‘ zwischen konkreter Welterfahrung und abstrakten Ideen fungieren“ („Politisches Framing“, S. 71 f.). Das wirft ein Licht auf die Genese des unbewussten, gleichwohl sprachbildhaft strukturierten Bereichs des frühen Lernens. Und auch im späteren Leben sind die Strukturen und Inhalte der Wahrnehmungs-Metaphern Teil des impliziten Wissens, einer unbewussten Rhetorik.

Lakoff und Johnson schildern die konventionalisierten metaphorischen Konzepte unserer westlichen Kultur detailliert; das zu referieren würde hier den Rahmen sprengen. Solche Konzepte durchdringen natürlich auch mein Thema, das hier verwendete Textmaterial und meine Darstellung dazu. Beispiel: das Schöpferische. Man schöpft aus einem Gefäß. Das Reservoir des Künstlers wird imaginiert als ein dreidimensionales Gefäß, als ein umgrenzter Raum. Nun stellt der Schöpfer etwas her – das ist wieder ein Teil des räumlichen metaphorischen Konzepts, zudem Teil des Konzepts Kausalität. Innerhalb eines Bildkonzepts können weitere Metaphern das Bild ergänzen, die Struktur verfeinern. „Ich habe eine Figur aus Ton gemacht“ gehört ebenfalls zum Konzept „Herstellen“, das wiederum ein Moment des Konzepts „Direkte Manipulation“ ist, hier ausgeschmückt durch die Metapher „Das Objekt entsteht aus der Substanz“, der wiederum die Metapher „Die Substanz ist ein Gefäß“ zugrunde liegt (S. 89). Und so fort. Metaphernstrukturen entfalten verschiedene Aspekte einer Sache und verbinden diese stimmig.

Das mag einen Eindruck davon geben, wie wörtlich wiederum der Titel „Leben in Metaphern“ zu verstehen ist. Es ist nicht so, dass wir die Wahl hätten, aus diesem Leben auszusteigen, indem wir bildhafte Konstruktionen durchschauen oder übertragene Sinne einer Kritik unterziehen. Das ist zwar wichtig, weil kulturelle Prägungen uns ja den Blick auch verstellen können – es würde sich lohnen, die metaphorischen Strukturen in wirtschaftspolitischen, in Gender- oder in Kolonialismus-Debatten zu untersuchen –, aber wir werden all dies wiederum auf der Grundlage (veränderter) metaphorischer Konzepte tun, weil wir so strukturiert sind. Siehe oben: „Der normale Realitätsbegriff als solcher …“.

„Festhalten“ (eine Metapher) möchte ich: Imagination ist grundlegend für unsere natürliche Weltwahrnehmung und die Strukturierung unserer Erfahrungen. Wichtig für unser Thema ist der Hinweis von Lakoff und Johnson, dass der gestaltende Umgang mit den natürlichen Dimensionen der Erfahrung diese neu strukturieren kann. Künstlerisches Denken nutzt die Imaginationskraft und schafft neue metaphorische Konzepte: „Kunstwerke bringen neue erfahrene Gestalten hervor und deshalb auch neue Kohärenzen“, das heißt eben solche Metaphernstrukturen, die stimmig verschiedene Aspekte verbinden. Ein Kunstwerk ist „eine Sache der auf der Imagination beruhenden Rationalität und ein Medium, das neue Realitäten zu schaffen vermag“ (S. 269).

In der Philosophie ist es die Hermeneutik, die das menschliche Denken für reicher an Möglichkeiten hält, als Sprache sie ausdrücken kann. Das muss der anderen Position, dass Sprache das Denken forme, gar nicht widersprechen. Die Metapherntheorie zeigt, dass Inspiration und Imagination einen Denkraum eröffnen, der weiter reicht als der Sprachraum, der wiederum nicht völlig vom Denken erfasst oder gesteuert wird. Im Überschneidungsbereich beider „Räume“ kann die Sprache das Denken formen wie umgekehrt das Denken die Sprache.

Die Konzeptstrukturen der Metapher sind keine rein sprachliche Angelegenheit, sie betreffen „alle natürlichen Dimensionen unserer Erfahrung“, auch ästhetische: „Farben, Form, Beschaffenheit, Klang usw.“ (S. 269). Thomas Fuchs schildert in seinem Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“, wie diese Erfahrungen ins „Leibgedächtnis“ einfließen und dort als „Wahrnehmungs- und Verhaltensbereitschaften“ enthalten sind. Wie für alle Leibphänomenologen gibt es für Fuchs keine Trennung von Körper und Geist, vielmehr stehen kognitive Funktionen „unter dem fortwährenden Einfluss größtenteils unbewußter emotionaler Vorerfahrungen und Erwartungen“ (S. 129, 138). Empfinden und Denken sind nicht zu trennen, darin stimmt Fuchs mit Polanyi überein.

„Ich suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärbares zu erklären, von etwas zu erzählen, was ich in den Knochen habe und was nur in diesen Knochen erlebt werden kann“, schrieb Franz Kafka 1920 an Milena Jesenská („Briefe an Milena“, S. 296). Sensible Selbstbeobachtung und künstlerisches Denken, das die Ergebnisse späterer Forschungen, das „Leibgedächtnis“ anscheinend vorwegnimmt.

Was Kafka als sein Problem schildert, ist in der Perspektive heutiger Kulturwissenschaft ein grundsätzliches Faktum: „Zwischen mentalen Prozessen und ihrer Artikulation“ besteht „kein Abbildverhältnis“, schreibt Albrecht Koschorke 2012 in seiner Erzähltheorie „Wahrheit und Erfindung“, auch unter Berufung auf Polanyi: „Vorstellungsmenge und Wortmenge decken sich nicht, sondern bilden unübersetzbare Überschüsse auf der einen wie auf der anderen Seite“ (S. 27 f.). Zwischen diesen Seiten bleibt der genannte Überschneidungsbereich, in dem die Sprache das Denken trifft.

Mittels Sprache dem Überschusspotenzial des Leibgedächtnisses etwas abringen zu wollen ist die eine Motivation, die umgekehrte möchte sich gerade von dem befreien, was in den Knochen steckt: „Es ist sehr schwer, alles, was an dem Bild hängt (>vernunftbefleckte< oder gedächtnisbefleckte Imagination), wegzureißen, um an den Punkt >Ausgeträumt träumen< zu gelangen. Es ist sehr schwer, ein reines, unbeflecktes Bild zu schaffen, das nichts anderes ist als Bild, dahin zu gelangen, wo es in seiner ganzen Einzigartigkeit auftaucht, ohne mit irgend etwas Persönlichem oder Rationalem behaftet zu sein, und zum Undefinierten vorzudringen.“ „Sprache III“ nennt Gilles Deleuze die Sphäre der reinen Bilder in seinem Text „Erschöpft“ (in: Samuel Beckett: „Quadrat“, S. 65), die jeglichem Framing, allen Dispositionen entgehen soll. Er zielt auf ein „kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen“ (S. 67). Beinahe lyrisch formuliert Deleuze seine radikale Forderung, das Bild von allen konventionellen Mustern und Konzepten zu befreien. Er geht noch einen Schritt weiter als die Dekonstruktion, ins nicht mehr Definierte. Hier scheint das Äußerste der Möglichkeit jeglichen künstlerischen Denkens erreicht.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
Kategorien
Das Rätsel künstlerischen Denkens

Die Einheit von Wahrnehmen und Denken

Kapitel 3

Polanyis These, dass alles Denken gleichsam aus dem Körper hervorgeht und nicht immer bewusst ist, wird nach ihm in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genauso gesehen: Bei Psychologen, Pädagogen oder Neurobiologen unter anderen findet man Aussagen dazu. Künstlerisches Denken ist an den ganzen Menschen, an Leib und Seele gebunden, und ich setze für diese Denkleistungen die allgemein grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung voraus, ein sensomotorisches Fundament also und Lernfähigkeit. Implizites Wissen ist dabei nicht zuerst und nicht nur sprachlich gestützt, sondern vor allem sensomotorisch, so der Linguist Martin Thiering, Autor des Buchs „Kognitive Semantik und kognitive Anthropologie“ (S. 285). Der ganze Körper spielt eine Rolle, nicht allein das Gehirn, das aber in manchen Disziplinen alleine im Fokus steht. Neurowissenschaftler beschäftigen sich dabei gerne mit der Kunst – in der empirischen Ästhetik bzw. der Neuroästhetik. Sie versuchen, universelle neurobiologische Regeln für Sichtweisen der und auf die Kunst zu formulieren, umgekehrt Rückschlüsse von vor allem Bildern auf Hirnprozesse zu ziehen.

Eric Kandel, einer der berühmtesten Neurowissenschaftler, hat diesem Thema ein umfangreiches Buch gewidmet: „Das Zeitalter der Erkenntnis“, in dem er die Erforschung des Unbewussten nicht nur seit Sigmund Freud, sondern prominent auch durch die Wiener Maler Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka detailliert schildert. Die Lösung des Rätsels künstlerischen Denkens indes findet sich in diesem durchaus spannenden Werk am Ende nicht. Künstler müssen „die kognitive Psychologie von Wahrnehmung, Farbe und Emotion intuitiv beherrschen“, ist eine von Kandels zentralen Erkenntnissen. Der Autor (der einen willkürlich begrenzt erscheinenden Kunstbegriff zugrunde legt) versucht stetig, das implizite wie explizite künstlerische Denken auf sein neurowissenschaftliches Paradigma festzulegen. Künstler aber beherrschen trivialerweise intuitiv-psychologisch dasselbe wie alle Menschen, und erst dann stellt sich die Frage: Gibt es ein besonderes künstlerisches Denken? 

Eine Antwort ist nicht aus der Betrachtung des Gehirns allein zu erwarten. Die leibphänomenologischen Forschungen von Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle widmen sich diesem Problem: Für die Sinnesphysiologen und Psychologen sind sinnliches Wahrnehmen und Denken keine unterschiedlichen Sphären oder getrennten Vorgänge, sondern bilden eine Einheit, die aus der Resonanzbeziehung zwischen Leib und Umwelt entsteht. Es ist auch in ihrer Sicht nicht allein das Gehirn, das im Denkprozess aktiv ist, sondern der gesamt Organismus mit all seinen Sinnen. Bewusstes und logisch zielgerichtetes Denken ist dabei eine Verhaltensweise unter anderen. Die Begriffe „Leib“ und „Körper“ stehen für verschiedene Sichtweisen auf die humane Hardware: „Leib sein ist Werden, Körper haben ist Gewordensein“, schreibt der Philosoph und Psychiater Fuchs, „der Körper ist das, was sich aus dem Lebensprozess heraus fortwährend bildet, ablagert und verfestigt, während der Leib immer auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet ist.“ („Zwischen Leib und Körper“, in Hähnel/Knaup (Hg.): Leib und Leben, S. 86)

Die Vielfalt der Sinneswahrnehmung und damit das Potential des Denkens veranschlagt Scheurle höher als andere Autoren. Er unterscheidet Sinnesorgane (körperliche Strukturen wie Augen, Ohren, Hände) und Sinne als Medien des Erlebens. Die Beschreibung der Sinne orientiert sich an der Klassifikation Rudolf Steiners (die auch für Joseph Beuys eine wichtige Rolle spielte): Demnach gibt es die somatischen, die atmosphärischen und die Sinne des Hörens. Zu den somatischen Sinnen zählen Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen rechnet er Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man auch mit der inneren Stimme rechnet. Scheurle hält, nach ausführlichen Studien dazu, mit dieser zwölfteiligen Beschreibung „das Spektrum der qualitativen Gegenwartserfahrung“ für vollständig erfasst. Im Vorgang der Wahrnehmung vereint ein Sinnesorgan mehrere Modalitäten: „So nimmt man im Sehen außer Farbe, Hell und Dunkel noch weitere Qualitäten wie Form und Bewegung, Gleichgewicht und Richtung wahr.“ („Das Gehirn ist nicht einsam“, S. 183-185) 

Dass die somatischen und atmosphärischen Sinne für die künstlerische Arbeit in unterschiedlichem Maß, aber grundlegend relevant sind, dürfte unstrittig sein. Das trifft auch auf Ton- und Sprachsinn zu, doch wie verhält es sich mit dem Gedankensinn? Vermutlich ist dieser für das künstlerische Denken ebenso wichtig, aber was genau ist damit gemeint? „Durch den Gedankensinn werden Symbole, Wortbedeutungen und Begriffe, Kategorien und Sinnbezüge usw. unmittelbar wahrgenommen, wobei uns Worte und Sprache dafür einstweilen fehlen können“ (ebd. S. 188). Das soll hier in einem weiteren Kapitel mit Hilfe der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson deutlicher gemacht werden; wir sind zunächst an dem Punkt des vorsprachlichen Denkens angelangt, einer Quelle der Welterfassung im alltäglichen Leben, deren besondere Relevanz für den künstlerischen Prozess Scheurle ansatzweise beschreibt. 

Sinneswahrnehmung und künstlerische Tätigkeit entspringen derselben Quelle (und auch hier gibt es „keine scharfe Grenze zwischen physisch-organischen und seelisch-geistigen Lebensvorgängen“), so der Autor (vgl. ebd. S. 56). Zum „Kreativpotential des Menschen“ gehören alle unbewussten Lebensprozesse, also außer Wahrnehmung und Denken auch das Gedächtnis.  

Phantasie, Vision und Traum sind Scheurles Beispiele für das „Kreativvermögen“. Wenn diese Phänomene zunächst auf den Sinnen beruhen, statt auf expliziten Intentionen und Überlegungen, wie entstehen sie? Scheurle gründet seine Darstellung auf die physiologisch gegebene Fähigkeit der Sinne zur „Eigenproduktion“. Auf den Sehsinn bezogen, als Beispiel, ist es das komplementärfarbene Nachbild als unwillkürliche Reaktion auf das Betrachten einer monochromen Farbfläche. „Zu den Eigenproduktionen im weiteren Sinne ist das reaktive Hervorbringen von Hör-, Sprach- und Gedankenempfindungen, zum Beispiel nachklingenden Wortbildungen, poetischen, musikalischen, bildhaften und anderen kreativen Wahrnehmungen zu zählen. Vision, Imagination und Traum sind neuschöpferische innere Sehwahrnehmungen, die unabhängig von der Interaktion des Auges mit der Außenwelt auftreten“, schreibt Scheurle und betont noch einmal detaillierter: „Die den Sinnen zugrunde liegende produktive Einbildungskraft, die schöpferische Phantasie, ist unlösbar mit der Wahrnehmung, mit Imagination und Inspiration, mit Déja-Vu und Intuition verwoben“  (ebd. S. 50-55. Scheurle schildert an dieser Stelle auch, dass schon Kant die produktive Einbildungskraft „ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“ genannt hat.)

Eigenproduktionen der Sinne sind „unbewusstes, assoziatives Denken“. Der Autor nennt es das „System I“; „rational bewusstes, systematisches und kritisches Denken“ ist das „System II“. Auch im Denken also lassen sich „reaktive Eigenproduktionen und proaktive Gedankenbildung unterscheiden“. Und weiter: Auch wenn es sich nicht um „unbewusste Gedanken“ handelt, sondern um verbal formulierbare gedankliche Wahrnehmungen, können diese „sowohl real und substanziell als auch bloß eingebildet, imaginär oder illusionär sein“. „Die höchsten anspruchsvollsten Kulturleistungen sind ebenso Lebensvorgänge wie die einfachsten Reflexe“, resümiert Scheurle. Das Schöpferische bewege sich immer „zwischen unbewusster Eigenproduktion und bewusstem rationalen Weltverhältnis“ (ebd. S. 60ff.).

Mit dem, was hier über reaktive Empfindungen und neuschöpferische innere Wahrnehmung gesagt ist, haben wir nun ein besseres Verständnis von implizitem Wissen. Diesem Bereich ordne ich das Phänomen der Inspiration (innere Eingebung, Idee, Impuls) und das Phänomen der Intuition (handlungsleitend, „gewusst wie“) zu. Beide beruhen auf der eingangs erwähnten Resonanz zwischen Leib und Umwelt. Imagination als weiteres grundlegend wichtiges Potential ist nicht allein als implizites Wissen zu beschreiben, sondern sowohl im Unterbewussten als auch im bewussten Denken angesiedelt. Imagination ist dabei kaum ohne Resonanzbeziehungen, vor allem Inspiration vorstellbar. Metaphern sind der Link zwischen Emotionen und Reflexionen, zwischen Denken und Sprache. In diesem Fall haben wir es dann nicht mit außer- oder vorsprachlich unbewussten Vorgängen zu tun, sondern mit sprachlich strukturierten, trotzdem unbewussten Vorgängen. In künstlerischen Konzepten steckt auch immer diese Form der Imagination oder Einbildungskraft – Benennungen, die alle unter den Bildbegriff fallen.  

Künstler:innen initiieren gezielt die hier geschilderten Prozesse und verfolgen sie konsequent, frei und experimentell, in einer Einheit von Fühlen und Denken: So könnte das Praxisdenken im künstlerischen Prozess nun umschrieben werden. Dabei mitdenken möchte ich immer die Möglichkeit, dass die Handhabung nicht gelingt, der Prozess scheitert. Nach Antonin Artaud geht das künstlerische Denken so: Die Seele schickt sich an, „ihren Reichtum, ihre Entdeckungen, diese Offenbarungen zu organisieren, in dieser bewußten Minute, wenn das Ding im Begriff ist, geistig zu erscheinen.“ Artauds Tragik aber ist das Misslingen des Denkversuchs, weil ein „überlegener und boshafter Wille zersetzend auf die Seele“ einwirkt (zitiert nach Maurice Blanchot: „Der Gesang der Sirenen“, S. 57).

Beides, das Entdecken und der zersetzende Wille, kommen aus dem schöpferischen Unbewussten. Artaud verstummte darüber nicht, sondern gab dieser Zerrissenheit Ausdruck. Maurice Blanchot meint dazu lapidar: „Wer nichts zu sagen hat: wie soll der nicht darum bemüht sein, mit Sprechen anzufangen und sich auszudrücken?“ (ebd. S. 56f.). Das relativiert den Optimismus instrumenteller Kreativitätstheorien, die immer auf dem Weg der Optimierung sind. Kunst hat auch etwas mit „schöner Scheitern“ zu tun. „Der Schöpfergeist (…) stellte sich meistens bloß als Einflüsterer falscher Vorstellungen und irriger Ideen heraus“, so das fiktive Selbstgespräch von Gustav Mahler, das Robert Seethaler erfand („Der letzte Satz“, S. 20). Ein klassisches literarisches Beispiel ist auch das Scheitern des Malers Frenhofer in Honoré de Balzacs „Das unbekannte Meisterwerk“. 

An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, die individuelle und vielleicht einzigartige Denkweise eines bestimmten Künstlers zu beschreiben. Festzuhalten ist aber, dass ein Spezifikum des künstlerischen Denkprozesses das Ringen um eben diesen Prozess ist. Künstlerisches Denken ist immer auch selbstbezüglich in seiner Handlungspraxis, nicht erst in einer nachgestellten Reflexion. Die Frage, wie sich diese Prozesse möglicherweise verändern, wenn nicht ein einzelner Akteur der Urheber ist, sondern ein Künstlerpaar, eine Gruppe oder gar ein größeres Kollektiv in digitaler Interaktion, geht ebenfalls über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Formen interaktiven gestalterischen Denkens und Handelns werden in vielen Zusammenhängen entwickelt, und die Spielregeln werden dabei wahrscheinlich offener und veränderbarer sein, als in der analogen Kunstwelt. Doch ohne Künstler:innen und vor allem deren Basisfähigkeiten, um die es hier geht, sind auch diese Prozesse nicht vorstellbar.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
Kategorien
Das Rätsel künstlerischen Denkens

Alleinstellungsansprüche

Kapitel 2

„Alles Durchschnittliche“ lässt der wahre Künstler „hinter sich“, das war die Überzeugung von Willi Baumeister, denn: „Er ist der Statthalter höherer Gesetze“ („Das Unbekannte in der Kunst“, S. 99). In Baumeisters Kunstreligion gab es diese ewigen Gesetze, bildende Urkräfte, denen der Künstler zum Ausdruck verhalf, und er hatte dabei nichts weniger als „eine unbestechliche Membrane des Weltgewissens zu sein“ (S. 106). Mit seinem Idealismus war der moderne Maler Baumeister 1947, als „Das Unbekannte in der Kunst“ veröffentlicht wurde, salopp gesagt spät dran. Ihre Aktualität bezog die Schrift aus der Absicht, eine Lanze zu brechen für die abstrakte Kunst und gegen die in Deutschland noch virulente völkische Stildiktatur. Der Anspruch, dass Künstler auf besondere Weise denken, war damit verbunden. Dem Wissenschaftler gesteht Baumeister zu, „in der Methode des Findens gleich“ zu sein (S. 170), aber die Voraussetzungen sind doch offenbar andere. Der Schöpfer von Kunst kann gar nicht anders, als den Urkräften zu folgen: „Wenn ein künstlerischer Mensch irgendeiner Tätigkeit obliegt, entsteht unwillkürlich Kunst“ (S. 133). Kurz, er hat den (gottgegebenen) künstlerischen Blick, der seine Grundlage in einer „tiefgründigen Zone“ von Form und Gestalt hat. 

Ein halbes Jahrhundert später ist von derlei Idealismus nichts mehr übrig. Statt göttlicher Eingebung oder auch nur Instinkt, der biologisch programmiert wäre, erklärt der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu den gesellschaftlich konstituierten Habitus zur Grundlage künstlerischen Denkens („Manet. Eine symbolische Revolution“; „Die Regeln der Kunst“). Wenn es dieses als eigenständige Denkweise gibt, dann innerhalb eines „künstlerischen Felds“, das Grundlage und Bedingungsrahmen ist für ästhetische Entscheidungen. Das „Feld“ ist zwar „ein gegenüber den ökonomischen und sozialen Kräften relativ autonomes Universum“, doch eben relativ, was heißt: vermittelt diesen Kräften unterworfen (Manet, S. 410). Der Anspruch auf ein Alleinstellungsmerkmal ist für Bourdieu menschengemacht – aber er bleibt: „Die künstlerische Produktion ist ein besonderer Fall von menschlichem Handeln“ (S. 63), das schöpferische Denken ein Praxisdenken, seine Sprache die „des Könnens, des Auges, des Blicks, des praktischen Sinns, des Handgriffs, der Fertigung“ (S. 132). Der Künstler ist Agent dieses Denkens, nicht allein sein Subjekt: Bourdieu argumentiert ausführlich gegen die Idealisierung der Kraft von Intentionen; es sind die meist unbewussten Dispositionen, die an die Stelle von Baumeisters ebenso unbewussten Urkräften treten. 

Der Spagat zwischen den so unterschiedlichen Denkweisen von Baumeister und Bourdieu wirft ein Schlaglicht auf die Theorieentwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die Überzeugung, dass zum künstlerischen Denken bewusste und unbewusste Anteile zwingend gehören, ist dabei eine Konstante. Urkräfte, Dispositionen, implizites Wissen: Was ist damit gemeint? Wie sind sie mit bewusstem Denken, mit Intentionen verknüpft?

Mit seiner Schrift „The Tacit Dimension“ (Die Dimension des Unausgesprochenen) hat der Philosoph Michael Polanyi 1966 wichtige Anregungen gegeben. In der deutschen Übersetzung des Titels „Implizites Wissen“ wird nicht sofort deutlich, dass es Polanyi keineswegs nur um kognitiv-mentale Prozesse ging, sondern grundsätzlicher um Nervenprozesse der Wahrnehmung, die den ganzen Körper betreffen. Jeder Gedanke, so Polanyi, umfasst Komponenten, „die wir nur mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts registrieren“. Alles Denken geht „aus dieser Unterlage, die gleichsam Teil unseres Körpers ist“, hervor („Implizites Wissen“, S. 101). „Wissen“ meint hier stets sowohl praktische (knowing how, meist unbewusst, nicht verbalisiert) als auch theoretische Kenntnisse (knowing that, in Sprache reflektiert). „Wahrnehmung“ (Polanyi verweist an dieser Stelle auf die Gestaltpsychologie) ist die „Brücke zwischen den höheren schöpferischen Fähigkeiten des Menschen und den somatischen Prozessen“ (S. 16).

Ein alltagspraktisches Beispiel für die Funktion und Notwendigkeit impliziten Wissens ist das Fahrradfahren: Der Radler hat es geübt, der Körper weiß, wie es geht, und der Geist braucht nicht Richtung, Tempo, Neigungswinkel und Erdanziehung zu berechnen, damit es klappt. Im Gegenteil: Würde man jederzeit bewusst darüber nachdenken, z. B. ob und wie stark die Bremse zu betätigen ist, wäre der Unfall abzusehen. Näherte sich von der Seite ein Auto, würde der Radler niemals umfangreiche Differenzialgleichungen berechnen, um nicht zu kollidieren. Er erfasst Tempo und Annäherungswinkel intuitiv und reagiert spontan, sonst wäre das Überleben schwierig. In den Künsten ist es nicht anders: Der Pianist erwirbt sein implizites Wissen durch ständige Übung. Er kann nicht bewusst die nächste Taste suchen, das würde ihn herausbringen aus dem Spiel; die Noten fließen ihm schließlich gleichsam aus der Hand. Und die geübte Hand des Zeichners weiß ebenfalls, was sie tut, ohne dass es dem Künstler ständig bewusst sein muss.

Was abläuft im impliziten Wissen kann nach Polanyi unter bestimmten Bedingungen ins sprachliche Bewusstsein gerufen, also ins explizite Wissen integriert werden, doch niemals während des Handelns. Denn dessen Gelingen ist, wie geschildert, abhängig vom ungestörten, implizit gewussten Ablauf. Und solche Abläufe spielen nach Polanyi in allen Lebensbereichen eine grundlegende Rolle, auch in der Wissenschaft und in der Kunst. 

Was ist damit für unsere Fragestellung gewonnen? Konfrontiert man Baumeisters „höhere Gesetze“ und „tiefgründigen Zonen“, seine Quellen des künstlerischen Denkens, mit Polanyis Thesen, wird sofort deutlich, welche Überhöhung allgemein menschlicher Fähigkeiten der Maler sich gestattet. Der Blick für Formen und Farben ist viel plausibler zu erklären als Ergebnis impliziten Wissens, das im Prinzip ebenso erlernbar ist wie Fahrradfahren. Das bedeutet nicht, dass genauso viele Menschen die Voraussetzungen haben, gute Künstler:innen zu werden, wie die, die radeln können. Es kommen noch andere Kriterien ins Spiel. Festhalten lässt sich zunächst, dass künstlerisches Denken aus derselben Grundlage erwächst wie anderes Denken auch. Polanyi: „Denken insgesamt einschließlich der höchsten schöpferischen Fähigkeiten“ hat somatische Wurzeln. 

„Unser Körper ist das grundlegende Instrument, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnisse von der äußeren Welt gewinnen“ (S. 2). Es wäre also ein Missverständnis, etwa allein die Pinselführung oder die Handhabung der Digitalkamera, also das Handwerkliche, als angewiesen auf implizites Wissen zu betrachten. Jeder schöpferische Prozess und alles, was jeweils dafür notwenig ist, fußt darauf. Natürlich ist das bei einem Pianisten, der für seine Leistung hohen Körpereinsatz und sein „Handgedächtnis“ braucht, anschaulicher als bei einem Konzeptkünstler. Doch was wäre der „vertikale Erdkilometer“ von Walter De Maria ohne das implizite Gefühl für Raum und Maß? De Maria ließ 1977 bei der documenta 6 in Kassel einen Messingstab von einem Kilometer Länge vertikal in die Erde versenken. Sichtbar ist nur das obere Ende des Stabes – eine Kreisfläche von zwei Zoll (5,08 Zentimeter) Durchmesser. Die der Wahrnehmung weitgehend entzogene Plastik setzt auf die Imaginationsfähigkeit des Betrachters.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
Kategorien
Das Rätsel künstlerischen Denkens

Baumeister, Beuys und Bourdieu

Ein Essay in acht Kapiteln

Kapitel 1

Künstler:innen denken auf rätselhafte Weise besonders, haben außergewöhnliche Fähigkeiten – laut einer tradierten und immer noch weit verbreiteten Ansicht. Wie sonst sollten sie ihre oft so ungewöhnlichen, zweckfreien und anrührenden Werke schaffen? Ihr Denken scheint geheimnisvoll – zumindest auf den ersten Blick. Das Gefühl, große Maler:innen oder Musiker:innen hätten Kontakt zu ungeahnten spirituellen Sphären, wird vielfach gepflegt, vielleicht, weil es über Bewunderung hinaus ein Bedürfnis nach Ehrfurcht bedient. Rätsel jedenfalls faszinieren. Das künstlerische Rätsel allerdings erzeugt bei manchen auch Ratlosigkeit. 

Paul Klee schrieb in den 1930er Jahren: „Die Kraft des Schöpferischen kann nicht genannt werden. Sie bleibt letzten Endes geheimnisvoll. (…) Wir sind selbst geladen von dieser Kraft bis in unsere feinsten Teile. Wir können ihr Wesen nicht aussprechen, aber wir können dem Quell entgegen gehen“ („Das bildnerische Denken“, S. 17). Nicht nur Kunstschaffende, auch Philosophen und andere behaupten bis heute die geheimnisvolle Kraft der Kunst.  Dieses immer noch virulente Mysterium darf entzaubert werden – was nicht heißt, die Kunst abzuwerten. Die Leistung der Künstler:innen ist ohne die Hilfe mysteriöser Kräfte und „höherer Wesen“ eher noch höher zu veranschlagen. Hier sollen auch keine Tricks entlarvt werden; es geht um eine geerdete, eine realistische Darstellung der Basis besonderer künstlerischer Fähigkeiten. 

Für die Aura des künstlerischen Denkens ist es wesentlich, dass die Schöpfer:innen etwas vor Augen stellen, etwas zeigen, und dies in der Regel nicht selbst noch einmal beschreiben, erklären, verbalisieren. Das sehen sie nicht nur nicht als ihre Aufgabe an,  sie setzen (mit den Worten von Gottfried Boehm) gerade auf die „Macht des Zeigens“, die sich niemals auf das Sagen reduzieren lasse. Eine interessante Rolle wird später im Text Joseph Beuys spielen, der die Kraft seiner visuellen Sprache immer mit der Kraft des Sagens, des Lehrens, gar des Kündens verbunden hat. Jedoch: Für Beuys waren erklärtermaßen die nicht zwingend sprachlich gebundenen Denkweisen Intuition, Inspiration und Imagination grundlegend. 

Für jeden, der künstlerische Praxis kennt und/oder Kunstwerke betrachtet, dürfte es zunächst einleuchtend sein, dass das, was sich nicht sagen lässt, dabei eine große Rolle spielt. Ohne eine unbewusste Kraft der Imagination ist weder das Gestalten noch das Erfassen von Kunst vorstellbar. Das hat – konkret auch bei Beuys – nichts mit übersinnlich-mystischen Vorstellungen zu tun. Es geht um die Sinne, die sinnliche Wahrnehmung als Basis, es geht um einen kreativen Bezug zur realen Welt. 

Die Aura des besonderen, geheimnisvollen, wenn nicht gar genialen schöpferischen Subjekts wird trotz aller Entmystifizierungsversuche auch heute noch dort kräftig genährt, wo es gilt, den Künstler-Habitus zu etablieren. Es geht um Status, Konkurrenz, um Markttauglichkeit. Dabei wird gerade nicht verraten, wie denn dieses spezielle Denken funktioniert, wie es sich von anderen Denkweisen unterscheidet, wenn es sich denn unterscheidet. 

Im Folgenden möchte ich versuchen, die Voraussetzungen künstlerischen Denkens zu beschreiben. Als passionierter Beobachter der Kunst und eigenhändiger Zeichner entspringt mein Interesse auch der Praxis, bzw. einer Praxistheorie. Wie denkt der Künstler, indem er etwas tut? Und auf welchen Bedingungen und Möglichkeiten beruht das? Es geht also nicht allein um Künstlertheorien (Was erklären die Macher:innen zu Sinn und Absicht ihrer Arbeiten?), auch wenn sich daraus Schlüsse auf Denkweisen ziehen lassen. Auch Theorien von Philosophen zur künstlerischen Arbeit (die meistens mit Forderungen verbunden sind, wie Kunst zu denken sei und zu sein habe) sollen hier nicht im Zentrum stehen. Grundsätzlicher interessiert mich, wie Gedankenströme fließen, wie sie initiiert und entwickelt werden, schließlich zum Ziel kommen. Das hört sich nach Kreativitätstheorie an, aber auch diese allein beantwortet die Ausgangsfrage nicht. Was in dieser Disziplin verhandelt wird, trifft längst nicht nur auf künstlerisches Denken zu.

Dieses lässt sich – wie jedes Denken – nicht von vorneherein auf bewusstes Überlegen begrenzen, im Gegenteil. Die Geschichte der Kunst(-theorie) ist voll von Beschreibungen unbewussten Denkens – ohne das auch der Mythos vom Schöpfertum nicht auskommt. Das Genie ist der Nachfahre der Götter, die die Künstler inspirierten. Nietzsche und Freud haben sich dann auf je eigene Weise Sorgen um den Wahnsinn oder den Traum als Quelle gemacht. Künstlerisches Denken zu entmystifizieren heißt also, den faktischen Kern dieser Legenden freizulegen. Was ist Inspiration, Intuition und Imagination in der schöpferischen Praxis?

Inspirierend für viele Forscher war Karl Polanyis Essay „Implizites Wissen“. Sein Diktum „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen“ wird in verschieden Disziplinen gerne zitiert, bei Psychologen, Pädagogen, Verhaltensbiologen und auch in den Kunstwissenschaften. Er machte deutlich, dass wir es beim Denken nicht allein mit sprachlich verfassten und formulierbaren Phänomenen zu tun haben. Künstler:innen wissen nicht immer bewusst, wie sie denken, und das ist, Polanyi und seinen Followern zufolge, auch ganz wichtig, weil sie ihre zunächst rätselhafte schöpferische Kraft gerade deswegen haben. 

Von einer anderen Seite, von der Soziologie her, gibt es einen Weg, der zu demselben Ziel führt: Pierre Bourdieus Untersuchungen zum „künstlerischen Feld“ und den damit verbundenen unbewussten „Dispositionen“, die den Künstler leiten, beziehen sich nicht auf Polanyi, kommen aber zu einem vergleichbaren Ergebnis. Das soll nicht über den Kopf der Praktiker hinweggehen, die schon früher wussten, dass sie mehr und anderes tun, als sie explizit wissen, dass sie mit unbewusster Kraft ans Werk gehen. Neben Klee hat das Willi Baumeister geschildert, in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“. 

Das bewusste Denken ist mit dem unbewussten eng verknüpft, wie genau, darüber gibt es verschiedene Vorstellungen. Das wird zu zeigen sein, ebenso, dass Denken sich auch und gerade für Künstler nicht nur im Kopf abspielt. Es geht natürlich wie immer nicht ohne Gehirn, aber „Das Gehirn ist nicht einsam“, wie ein Buchtitel aus dem Thinktank für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg lautet. Im Gegenteil sehen Forscher wie Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle eine „Resonanz zwischen Gehirn, Leib und Umwelt“. Auch wenn das genau maßgeschneidert auf eben den Leib des Künstlers klingt, bleibt die Aufgabe herauszufinden, wie sich ein spezifisch künstlerisches Denken daraus beschreiben läßt. 

Dabei können auch die Untersuchungen zu Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern  gute Hinweise geben, wie sie der Linguist George Lakoff und der Kunstphilosoph Mark Johnson in ihrem Buch „Leben in Metaphern“ schildern. Hierbei geht es um eine Präzisierung des Zusammenhangs bewusst-unbewusst – es gibt nicht nur den Weg vom Noch-nicht- oder Vor-Bewussten zum klaren Erkennen; metaphorische Konzepte können sich im Denken so etablieren, dass sie es steuern und dabei nicht mehr ins Bewusstsein treten. Die Metapher ist eine Grundstruktur der konstruktiven Wahrnehmung, des Denkens und der Imagination. 

Am Ende wird sich zeigen: Künstlerisches Denken nutzt die grundlegende Kraft der Imagination und entwirft neue metaphorische Konzepte. Dafür entwickeln Künstler:innen – nicht nur alleine im Atelier, auch in Kooperationen – ihre je eigenen Methoden. Was eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein spezifisch künstlerisches Denken ist, denn diese Kriterien lassen sich auf alle kreativen Prozesse beziehen. Deshalb müssen auch die Motive und Ziele des künstlerischen Handelns (Praxisdenkens), müssen Kontexte und sozialer Habitus mit betrachtet werden. Es geht nicht ohne Autonomie: Wirklich künstlerisches Denken eröffnet einen (Handlungs-) Raum ästhetischer Freiheit und initiiert sinnlich-geistige Erfahrungen, die das Welt- und Selbstverständnis sowohl der Macher als auch der Betrachter verändern können.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination