Eigentlich hatte Friedrich Nietzsche den Geniekult bereits 1878 erledigt. In seinem „Buch für freie Geister“ mit dem Titel „Menschliches Allzumenschliches“ gibt es im Kapitel „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“ einen Abschnitt (Nr. 162), der mit der „Kinderei der Vernunft“ kurz und klar aufräumt. Das Genie unter den Künstlern tut praktisch auch nichts anderes als zu formen, zu versuchen, zu lernen, so der Philosoph. Diesen Prozess unterschätzen die Kunstbetrachter und staunen das Fertige und seinen Schöpfer als vollkommen an. Aber, so Nietzsche: „Wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt.“
Die erfrischende Abkühlung ist gut gegen getrübten Blick. Und das ist wichtig, weil mit dem Unterschätzen des Werkprozesses, der künstlerischen Arbeit und damit der eigentlichen Leistung ein Überschätzen eines nur äußerlichen Status einhergeht. Dessen Klischees zufolge kommt das Werk nicht aus dem Ringen des Künstlers, aus seinem Denken, sondern aus Eingebung „von oben“ oder aus dem „wunderbaren Vermögen“ des Genies. „Kinderei der Vernunft“ eben.
Nietzsche bietet eine psychologische Erklärung dafür, warum seine Zeitgenossen so etwas gerne glauben: Sie wollen sich von den außergewöhnlichen Leistungen der Künstler nicht erniedrigt fühlen. Mit dem Göttlichen muss man nicht wetteifern, das entlastet. Und die Bewunderung, möchte ich ergänzen, hebt einen dann noch über die gewöhnlichen Menschen, die nix davon verstehen.
Aber auf Nietzsche hörte, zumindest an dieser Stelle, kaum einer (und er selbst blieb später auch nicht bei seiner Geniekritik). Noch weit bis ins 20. Jahrhundert blieb der Geniekult in unterschiedlichen Varianten lebendig, genährt auch von Künstlern selber. Erst nach 1945 änderte sich das allmählich. Nun gab es immer mehr spannende Werkstattberichte statt fertiger Bewunderung. Ein schöner treffender Satz in diesem Zusammenhang ist der von Hans Platschek auf Kandinsky gemünzte: „Das Geistige in der Kunst kommt aus der Hand.“
Nun wissen wir es also längst. Erstaunlich vor diesem Hintergrund ist die öffentliche Äußerung einer Kunstexpertin, Mitarbeiterin eines renommierten deutschen Museums, vom Oktober 2021. Sie hatte erwartet, dass Künstler*innen Götter und Göttinnen gleich sind, und musste mittlerweile lernen: Es sind auch Menschen, durchaus fehlbare, die hart um ihre Sache ringen. Der alte Mythos hält sich hartnäckig. Doch die Fachfrau hat den zitierten Gedankengang von Friedrich Nietzsche nachvollzogen (sicher ohne es zu wissen), 140 Jahre später.
Zum artigart-Thema „Das Rätsel künstlerischen Denkens“ gab es am 28. Oktober 2021 eine spannende Publikumsdiskussion in der Stadtbibliothek Siegburg. Damit begann die von der Bibliotheksleiterin, Christiane Bonse, initiierte Reihe „Kunst und Brot“ mit Rüdiger Kaun als Moderator und Jürgen Röhrig als Themenreferent. Sie wird im nächsten Jahr fortgesetzt.