Braucht der Mensch Kunst zum Leben – oder ist das ein Luxus, auf den sich genauso gut verzichten lässt? Ein Grundnahrungsmittel ist das Picasso-Poster an der Wand natürlich nicht. Doch wir wissen aus der empirischen Forschung wie aus eigener Erfahrung, dass die ästhetische Funktion beim Menschen immer eingeschaltet ist: Wer atmet, der hört auch Klänge und sieht Bilder. Und beurteilt die Welt unter anderem mit Hilfe von Formen und Farben. Das ist überlebenswichtig.
Ästhetik als Wahrnehmung (biologisch-psychologischer Faden) und die Ästhetik der Kunst (philosophischer Faden) sind zwar nicht dasselbe, aber untrennbar miteinander verwoben. Wer ein Werk erschafft oder es betrachtet, der braucht die grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung, um darauf aufzubauen und die Ästhetik zu entwickeln, zu verfeinern.
Gehören Kunsterfahrungen also unverzichtbar zum Leben? Zum Überleben, wie gesagt, generell wohl kaum – für viele Künstler allerdings doch. Die Eingangsfrage lässt sich nun aber anders stellen: Sind ästhetische Erfahrungen allgemein unverzichtbar für ein gelingendes Leben? Das bejaht in der Tat eine ganze Reihe von Philosophen. Kunst verstehen sie eng verbunden mit Ethik. Die nächste Frage ist unvermeidlich: Was ist ein gelingendes Leben?
Die konkrete Antwort darauf kann nur jeder für sich selbst geben. Wilhelm Schmid, einer der besagten Philosophen, hat Bestseller zu dem Thema geschrieben – die Frage ist durchaus populär. Kurz gefasst: Für gelingend hält Schmid ein Leben dann, wenn es bejahenswert ist, und in seiner ethischen Perspektive bedeutet das einen Zusammenhang von individuellem Glück und sozialer Verantwortung. Wer lebt, gestaltet – „Ästhetik der Existenz“ ist das von Michel Foucault übernommene Stichwort, das einen schöpferischen Umgang mit sich selbst bedeutet. Es gibt die Verantwortung zur kreativen Lebensführung. Ob jeder die Chance hat, sie wahrzunehmen, und wie das auf eine gesunde Weise durchführbar ist – Scheitern ist ja im ästhetischen Wettbewerb nichts Seltenes -, das sind andere Fragen. Schmid jedenfalls geht soweit zu sagen, Ethik lasse sich nur auf Ästhetik begründen – „auf was sonst?“
Damit sind wir noch nicht bei der Kunst angekommen, denn „Ästhetik der Existenz“ beinhaltet – und wohl zum allergrößten Teil – auch Alltagsästhetik. Zu einem bejahenswerten Leben gehören für sehr viele Menschen beispielsweise das schicke Auto, die hippen Klamotten, Selbstdarstellung im Internet, Tätowierungen und andere Gestaltungsversuche am lebenden Objekt. Unverzichtbare Ästhetik, die Umfrageergebnisse dazu lassen sich leicht vorhersagen.
Und dazu noch ein schönes Ambiente, Fotos an der Wand und womöglich ein Kunstwerk. Bücher auf dem Coffeetable, selbstverständlich Musik-Konserven oder das eigene Instrument, Heimkino – alles Standard in unserer Gesellschaft. Also nicht leicht verzichtbar.
Und wenn wir jetzt enger fokussieren, dann sehen oder hören wir Inhalte von Kunst: Christos verpackten Reichstag, einen Roman von einer angesagten Berliner Autorin, Beethovens Klavier-Trios… Da kommt die Ethik der Ästhetik noch ganz anders ins Spiel. Oder die Ästhetik der Ethik. Aber wie hängt beides zusammen? Was ist bestimmend? Steckt am Ende hinter diesen abstrakten Begriffen doch völlig Verschiedenes?
Kunst wurde von jeher in den Dienst der Moral gestellt. In der Moderne hat sich das radikal geändert, in autonomer Kunst sollte Moral keine Rolle mehr spielen. Aber beide Traditionen existieren weiterhin nebeneinander: Martha Nussbaum möchte ethische Inhalte über Erzählungen vermitteln und hält solche Erfahrungen für unverzichtbar für ein gelingendes Leben. Andere, wie Elisabeth Lenk, bestehen darauf, dass Literatur frei von jeglicher moralischer Verantwortung ist; für sie ist sie gerade das Feld vor jeder Ethik.
Der „Ethical Turn“, den die Philosophin Nussbaum anregte, setzt auf eine narrative Ethik, also darauf, dass literarische Erzählungen Leser für ethisch-moralische Inhalte und Werte sensibilisieren können. Befürworter dieser Richtung sehen positive Einflüsse der Kunst: Bessere Wahrnehmung, Anstöße zu Kreativität, Förderung von Empathie und gar Solidarität in ethischen Konflikten. Kritiker dagegen beklagen eine unangemessene Moralisierung der Kunst, die zudem in ihrer Wirkung auf die Rezipienten und ihr Leben überbewertet werde. Es sei nichts gewonnen, wenn man beiden Sphären, der Ästhetik wie der Ethik, ihre Autonomie raube.
Diese Auffassung will nicht zurück zu einer Kunst, die volkserzieherisch und didaktisch vorging, um eine bestimmte Moral und damit Lebensweise zu forcieren. Ein Extrembeispiel wären die Märchen-Fassungen der Gebrüder Grimm, die im 19. Jahrhundert „moralische Gewalt ausüben“ sollten, wie Lenk es formulierte. In ihren Augen ein Missbrauch des „poetischen Bewusstseins“, das einer Sphäre angehöre, „zu der die Moral keinen Zugang hat“. Autonome Literatur habe ihren Sinn darin, Regeln der Gesellschaft außer Kraft setzen zu können, nicht darin, sie einzuüben. Diese Auffassung der 80er Jahre wird bis heute vertreten. Die moralische Bedeutung ästhetischer Erfahrung liege gerade in der Chance, sich von Verbindlichkeiten der Lebensführung zu distanzieren, so der Philosoph Marcus Düwell in einem aktuellen Beitrag zum Thema.
Die Literaturwissenschaftlerin Ingrid Vendrell Ferran schreibt in „Die Vielfalt der Erkenntnis“, zur „existentiellen Dimension der ästhetischen Erfahrung“ gehöre, dass sie die „Integration und Harmonie des Selbst“, die „Verfeinerung der Wahrnehmung“ und die „Entwicklung der Imagination“ fördere. Ebenso „mentale Gesundheit und Gefühle der Sympathie für andere Menschen“.
Eine weit reichende Behauptung, die die These von der Unverzichtbarkeit der Kunst-Ästhetik für ein gelungenes Leben stützt. Vendrell bezieht sich dann auf Nussbaum, die die „Frage nach der Lebensführung“ nicht durch „moralische Normen“, sondern durch ein „empathisches Imaginieren“ beantworten wolle. Vendrell meint, „literarische Vergegenwärtigungen“ vermitteln „ethische Werterkenntnis“. Nussbaum spreche „von Literatur als optischem Instrument“ – mit Poesie sieht man besser.
Hier wie meistens in ihrem Buch bezieht sich die Autorin auf das, was Literatur inhaltlich mitteilen kann. Zu der Vielfalt der Erkenntnis gehöre aber unbedingt auch, dass Kunst nicht allein den Erwerb von sachlichem Wissen ermögliche, sondern auch emotionale und atmosphärische Eindrücke. Zum Beispiel ermögliche ein Farberlebnis Erkenntnisse, die nicht ersetzbar sind durch theoretisches Wissen. Dieses „erlebnishafte Wissen“, das nicht in Sprache 1:1 übersetzbar ist, wäre dann die Sphäre der Musik, der (abstrakten) Malerei, der Performance in ihrer bildhaften Funktion etc. Daraus könne nichts Geringeres erwachsen als „eine Revision, Umgestaltung, Verwandlung oder Erweiterung unserer elementaren Formen des Weltbezugs“.
Es ist richtig, meine ich, dass reine Inhaltsästhetik nicht der Mittelpunkt der Überlegungen sein kann. Ästhetische Erfahrungen sind immer auch formale Erfahrungen, Wahrnehmungen von Mustern und deren Störung; und die Ethik einer abstrakten Malerei ist etwas ganz anderes als die einer Hebelschen Kalendergeschichte.
Was haben wir nun praktisch von diesen Überlegungen? Wenn es gut geht, Gedankenanregungen und Argumente dafür, dass die Kunst uns etwas fürs Leben bieten kann, dass ästhetischer Genuss unser je eigener Freiraum ist, in dem wir unseren Geschmack entdecken und ihm nachgehen können. Damit bewegen wir uns bereits wieder auf dem Pfad der Ethik, denn schmeckend unterscheiden wir richtig und falsch intuitiv. Und weiter gehend erreichen wir dann das Geschmacksurteil, da treffen wir Immanuel Kant: Ästhetische Reflexion ist das Zusammenspiel von Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft. Die Moral des Kategorischen Imperativs gilt für die Kunst allerdings nicht, denn kein Werk muss kompatibel mit einer allgemeinen Regel sein. Wenn Kunst eine Moral in Frage stellt, ist das nicht unethisch.
Kunst darf sperrig und schwierig sein. Sie muss nicht schön und erbaulich sein. Auch diese ästhetische Erfahrung bietet vielfältige Möglichkeiten, sie fürs (gelingende) Leben zu nutzen.
„Wozu Kunst?“ Das ist Thema eines Diskussionsabends im Rahmen der Reihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg.