Kitschkunst, Kunstkitsch

Ist es nicht verwunderlich, dass eher selten von Kitsch die Rede ist, obwohl er uns im Alltag eigentlich ständig verfolgt? Es gibt jede Menge Fachhändler für Kitschobjekte: Ein-Euro-Läden, Baumärkte, Grabsteinanbieter, Dekobedarfsläden, gewisse Bildergalerien und nicht zuletzt die Trödelmärkte. Und die entsprechend gestalteten Haushalte. Von deren wohlmeinenden Mitgliedern erreichen uns dann die Geschenke, über die wir uns so sehr freuen

Aber abgesehen von solchen Attacken, was kümmert mich der Kitsch, wenn ich mich nicht dafür interessiere, sondern für Kunst? In dem Genre erreicht mich doch der Trash nicht? So einfach ist es, bei der Zipfelmütze des Gartenzwergs, leider nicht. Kitsch schleicht sich gerne in die Kunstwelt ein, hat es immer getan.  Das fängt schon an mit den Bild-Ausschnitten – gezielt fokussierte Teile – von alten Gemälden, die massenhaft reproduziert die Kunst zum Kitsch machen. Raffael ist ein beliebtes Opfer solcher Machenschaften. Obwohl: Einge seiner Madonnen eignen sich auch gut dafür. Wenn aber die Putten, die am unteren Bildrand der Sixtinischen Madonna flügellahm sinnieren, extrahiert und für sich als Bild präsentiert werden, erfüllen sie einzig und allein ein Kitschbedürfnis.

In der Romantik – der Epoche, in der der Kitsch erfunden wurde – verschwimmt die  Grenze zur Kunst immer wieder, bei Runge, bei Spitzweg …

Don Quixote, dem Kitsch ausgeliefert. Zum Haare raufen – wenn man welche hat.

Und heute? Mit einem Sprung in die Gegenwart enteilt keiner dem Kunstkitsch oder der Kitschkunst, wenn er zum Beispiel bei Jeff Koons landet. Seine kunterbunten banalen Motive spalten die Kritikerzunft in die Riege der Verächter, die das für Kitsch halten, und die der Wohlwollenden, die es für einen gelungenen Coup von Koons halten, die Kitschmotive in die Kunst krachen zu lassen – endlich wieder ein Tabubruch.

Ich halte Koons‘ Objekte für eine neue Art von Kitsch. Neu daran ist vor allem das beinharte Marketing, mit dem die Firma Koons es schafft, den Trödel im Kunstsystem für Millionen Dollar loszuschlagen. Da haben wir den elitären Dekobedarfsladen für Stinkreiche.

Doch damit geht die Fragerei ja erst richtig los. Was ist denn nun Kitsch, wie erkenne ich ihn und vor allem: Wie unterscheide ich Kitsch von Kunst? Ein abendfüllendes Thema.

Es gibt diverse Theorien über den Kitsch. Fürs erste halte ich es aber für spannender, einmal eine Theorie des Kitsches anzuschauen, um nicht von vorneherein ein Minuszeichen vor die Sache zu setzen. Wie erzeuge ich Kitsch? Anleitungen dazu verwenden das negativ besetzte Wort nicht. Es geht um das schöne Heim, die erfreuliche Gestaltung, die künstlerisch aparte Atmosphäre oder ähnliches. Der Ratgeber-Markt dafür entwickelte sich sprunghaft im 19. Jahrhundert, auf ihm waren Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“ platziert, einschlägige Bücher und gesellige Abende mit „populären kunstgewerblichen Vorträgen“. In einer so übertitelten Reihe erschien 1883 der Text „Die künstlerische Ausstattung der bürgerlichen Wohnung“ von Friedrich Fischbach. Der aus Aachen stammende „Director der Kunstgewerbeschule St. Gallen“ machte dezidierte Vorschläge. Weil es sonst den Rahmen sprengt, hier nur das Wichtigste:  Die Architektur soll reich geschmückt sein mit Pilastern, Gesimsen, Holztäfelung und Deckenstuck. Auf der so grundierten Wand macht sich gut die Reproduktion einer Madonna von Raffael – da ist er -, denn „Bilder sollen erheben und erfreuen“ und „die Darstellung der Mutterliebe, des häuslichen Glückes erfreuen Jedermann“. Speziell für Kinder soll die Kunst im Heim „die drastische Phantastik der Märchenwelt“ vor Augen führen, „für Jünglinge und Jungfrauen die ideale Welt der nordischen und griechischen Mythen“. Und der „Dreiklang der Daseinsfreude: >Liebe, Wein und Gesang<“ sei „in der bildenden Kunst unendlich zu variieren“.

Das Haus ist der „Tempel der Schönheit“, so Fachmann Fischbach, und der „gottbegnadete Künstler“ stärke mit seinen Beiträgen „unseren Glauben an die edle Herzenseinfalt und kernige Biederkeit“ des deutschen Volkes. Diese Phrasen waren in aller Einfalt ernst gemeint.

Fischbach, jetzt als Synonym für solche Kitsch-Klischees genommen, ist vorbei, aber das Phänomen bleibt bis heute bestehen. Ausdruck der reinen Daseinsfreude, erfreuliche Atmosphäre, ein Faible für Schönes, dabei alles ausgeblendet, was nicht in die heile Welt passt: Voilà, le Kitsch.

Ja, das deutsche Wort, wahrscheinlich 1860 erstmals verwendet von dem Schriftsteller Wolfgang Müller in Königswinter, ist so speziell und unübersetzbar, dass es auch im Englischen, Französischen, Griechischen und Türkischen verwendet wird. Wikipedia erklärt den Begriff als abwertend verwendet für „minderwertigen Gefühlsausdruck“. Wann ist ein Gefühlsausdruck minderwertig? Jedenfalls dann, wenn er nicht echt ist.

Die Differenz von Kitsch und Kunst lässt sich so bestimmen: Ein Kunstwerk ist interpretierbar, weckt das Bedürfnis nach Deutung, der Kitsch dagegen nicht; er ist eindeutig und (unter)hält passiv. Es handelt sich immer um Stereotype, um die vermeintlichen populären Gewissheiten. Die Offenheit und Vielschichtigkeit von Kunstwerken stünde demnach dem Kitsch fremd gegenüber.

Der Kitschtest für Artefakte, die mit einer Kunstbehauptung auftreten, ist allerdings nicht so einfach zu handhaben. Denn Künstler spielen gerne mal mit Kitsch, machen ihn zum Inhalt ihrer Arbeit. Aber ist das Werk deswegen kitschig? Wesentlich entscheidend ist, in welcher Form die populären Klischees verarbeitet werden. In den Collagen von Max Ernst entstehen aus den banalen Vorlagen rätselhafte und faszinierende surreale Räume. Der Pop-Artist Claes Oldenburg präsentiert alltägliche Gegenstände wie einen Apfelkitsch (das Wort passt wunderbar, ist aber etymologisch nicht verwandt) in inadäquatem Material, wie z.B. weichem Stoff, und riesig vergrößert. Diese deutlich ironische Geste bricht das Klischee.

Von Oldenburgs ironischem Kunstgriff hat Koons gelernt: Auch er übersteigert die Dimensionen seiner Motive, der bunten Blumensträuße und Luftballons. Doch die Ironie verblaßt im Ansatz vor der Erhabenheit der hochglanzpolierten Objekte in edlem Material. Koons produziert – oder lässt produzieren – für den Kunstmarkt der Investoren, die Millionen für ein solches Objekt bezahlen. Seine Werke sollen unkompliziert und für jeden verständlich sein. Nichts steckt dahinter, aber das Publikum darf staunen: über die handwerkliche Perfektion, Glanz und Größe und die astronomischen Preise. Fischbach wäre sicher begeistert.

Überzuckert. Meine Metapher für Kitsch ist das übertrieben Süße. Eine fotorealistische Malerei von Sarah Graham ist das passende Bild dazu: In ihrer Serie „Wilderness of Kitsch“ zeigt sie eine Anhäufung von Süßigkeiten in ihren bunten Verpackungen. Die britische Künstlerin präsentiert den Alltagskitsch, häuft ihn auf zu einer geschlossenen Welt des Süßen. Mit ihrem versuchten Kurzschluss von Kitsch und Kunst will Graham dem Kitsch wohl entgehen. Knifflig, doch ich sehe im Klischee hier nur das Klischee. Interpretieren lässt sich da weiter nichts. Sonst könnte ich auch gleich die Süßigkeiten im Supermarkt interpretieren. Wie sagte Clement Greenberg: Kitsch „ist für den Betrachter vorgekaute Kunst“.

Ein mögliches Fazit: Wenn die Kunst Kitsch verarbeitet, können vielschichtige und produktive Werke  entstehen. Wenn umgekehrt der Kitsch Kunst verarbeitet, dann dient der Kunstanspruch missbräuchlich allein der sozialen und kommerziellen Aufwertung des Eindimensionalen, der gefälschten Gefühle für „edle Herzenseinfalt“.

Die Sitzecke als Falle

So viel Widerspruch, wie ihn die Aussagen von Noemi Smolik bei mir hervorrufen, ist nicht gut zu übermitteln. Es ist halt alles falsch an ihren Thesen zur Kunst anlässlich der documenta 15, abgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kunstforum. Dieser Gegenstand der Kritik und eben meine Kritik drohen, in ein quantitatives Mißverhältnis zu geraten.

Lieber reagiere ich erst einmal angemessen: satirisch.

Gelesen habe ich, bei  der schätzenswerten Noemi Smolik also, das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa habe kuratiert, auf der d15 „nicht einzelne Kunstwerke“ zu zeigen, sondern weitere Kollektive eingeladen, um deren Aktivitäten zu diskutieren. Und deshalb begegne der Besucher in der Kasseler Ausstellung „überall vielen Sitzecken“. Jetzt wird’s gemütlich, dachte ich spontan erfreut, endlich muss ich der Kunst nicht gehend und stehend und gehend den Wegezoll entrichten. „Sitzecken“, das hätte Duchamp auch einfallen können. Obwohl – seine Fountain, nicht weit vom Sofa, ist ja auch durchaus praktisch.

Das will ich sehen, ganz klar. Aber deswegen ab nach Kassel? Nicht nötig, 15 Minuten von meinem Zuhause gibt es ein Möbelgeschäft. Mit Sitzecken, vielen, sogar Liegeecken. Meist sind die riesig und haben gedeckte Farben; viel seriöses Grau, etwas langweilig. Aber da steht auch ein quietschbunter Ecksitz, das gerade im Preis reduzierte Modell Lumbung aus Biobaumwolle mit Reisfüllung…

Darauf lässt sich bequem räsonnieren, auch über trockene Themen wie den „modernen Kunstbegriff“, den Expertin Smolik mal im Norden, mal im Westen ansiedelt. Aber eben nicht im Süden, woher der Kaffee kommt, den wir in der Sitzecke trinken, darauf kommt es an. „Der moderne Kunstbegriff“, sagt die Bonner Kunsthistorikerin, “ ist nur eine lokale Erscheinung. Aber vor allem in der Geschichte der Menschheit nur ein kurze Episode“. Denn das Ende sei nahe, das des Kunstbegriffs, nach dem ein „Individuum“, oh je, der „Künstler*in“, ein „autonomes Objekt“ erschaffe für „ein individuelles Betrachten“. Zwei Einsame, und dann auch noch ein autonomes Objekt, das ist wirklich hart. Ein Staubsaugerroboter fährt jetzt zwischen den Sitzecken herum.

Und dann will dieser nordwestliche Kunstbegriff auch noch auf der ganzen Welt gelten, dieser Kolonialist. Womit dann in Süd und Ost ganz andere Kunstbegriffe unterdrückt werden. Deswegen, sie hat es gesehen, laufen in Kassel Filme, die den Verlust der eigenen Lieder und Rituale betrauern, den Verlust der „kulturellen Identität“.

Die indonesischen Lieder und Rituale sind weg? Ja wenn… Sie sind jetzt alle auf youtube, zu sehen und zu hören; sie haben Millionen Klicks.

Genug der Albernheiten. Ich kappe diesen Faden meiner Erzählung und versuche, Haltung zu bewahren. Obwohl ich eben nicht verstehe, wie die zitierte Autorin, von der ich gute Texte kenne, ein solches Zerrbild des modernen Kunstverständnisses entwerfen kann. Der ursprünglich europäische Kunstbegriff, der tatsächlich längst so global ist wie der Kunstmarkt, war immer ein offener Begriff, immer vielfältig und veränderbar. Der Künstlerhabitus des einsamen Helden an der Staffelei war und ist zugleich Mittel der sozialen Positionierung, Marketing und Ziel der künstlerischen Kritik. Die Autonomie als Freiheitsbegriff ist nie zu denken ohne den gesellschaftlichen Hintergrund, ohne das soziale Feld. Doch bei alldem meint dieser Begriff die Möglichkeit, dass jeder seine Kunst machen kann – so wie er es für richtig hält.

Autonomiestreben verhindert Gemeinsamkeit keineswegs. Demokratische Kollektive haben Künstler schon im 18. Jahrhundert gegründet, die Engländer waren da Vorreiter. 1735 übrigens im Kulturkampf Insel gegen Kontinent, ein Vorläufer heutiger Debatten bereits am Beginn der Moderne. Und seitdem suchten unzählige Gruppen, Vereine, Kommunen usw. ihren kollektiven Sinn im Rahmen des modernen Kunstbegriffs. Kollektive galt es aber in der Geschichte oft auch zu überwinden, wenn sie diktatorisch auftraten.

„Partizipative Kunst“ wiederum meint im Fachjargon alles, was seit 1919 (als Duchamp seine Schwester einspannte, um ein Werk zu entwickeln) das Publikum einbezieht. Die Beispiele sind Legion, hier nur zwei: Joseph Beuys hat zu dem Thema gerade in Kassel seine Spuren hinterlassen. Und Gunter Demnig spannt aktuell weiter sein europaweites Netz unter Beteiligung tausender Menschen auf, die damit ihre kulturelle Identität entwickeln. Aber auch er ist ein individueller Künstler, mit Hut.

Die Künstler*innen aus dem globalen Süden, denen meine Solidarität gilt, haben die Chance, den modernen Kunstbegriff in ihrem Sinne zu entwickeln und zu verändern. Dabei wird dieses Paradigma auch ihre Kunst verändern, richtig. Gerade das kann zu etwas Gutem führen. Schließlich geht es ja um den Dialog der Kulturen, jedenfalls sollte es das.

Aber leider: Das meiste, was ich zum kuratorischen Selbstverständnis der documenta gelesen habe, führt in Sackgassen. So wie Noemi Smoliks Beitrag. Und das ist nicht lustig.

Faszinierendes Fast-Nichts

Dieser Blog ist textlastig. Bilder, die für sich sprechen, kommen auf artigart zwar vor, doch sie sind die Ausnahme. Das wird auch so bleiben, denn hier geht es vor allem um Fragen an die Kunst, das Vergewissern, das Gespräch, ja – und auch um die Lust am Schreiben.

Also Sprache. Jedoch soll nie vergessen sein, dass ein Bild nicht durch einen Text vollständig erklärt, übersetzt, ersetzt werden kann. Na, wer will das schon? Der Vorwurf, die Bilder hinter verbalen Wissenskonstruktionen verschwinden zu lassen, ist den Disziplinen, die sich mit Kunst befassen, allerdings oft gemacht worden, allen voran der Kunstgeschichte und der Kunstphilosphie. Und sicher zu Recht.

Angesichts eines Bildes können wir in und mit günstigen Augenblicken erleben, wie ergreifend das Visuelle sein kann, wie vor jeder Erklärung das Bild in seiner nicht sprachlichen Präsenz wirkt. Wie ein Rätsel bleibt. Sich diesem Erleben zu öffnen, bevor die Seh-Konventionen, die Wissens-Konnotationen und damit das Übersetzen des Visuellen in Begriffe losgehen, ist nicht leicht. Vielleicht hilft eine gewisse Übung.

Vielleicht. Die menschliche Sinneswahrnehmung funktioniert nicht ohne Imagination. Unbewusst spielen in jedem Augenblick metaphorische Konzepte der Welterkenntnis eine Rolle. Unschuldiges Sehen wäre demnach unmöglich.

Darauf setzen die medialen Bilder, die uns täglich umgeben, deren immerwährende Bewegung schon lange als Flut, als Überflutung beschrieben wird. Sie sollen triggern, ganz bestimmte Vorurteile aufrufen. Sie funktionieren in einem sprachlichen Rahmen, in dem das rein Visuelle verschwindet. Darauf reagiert die bekannte künstlerische Strategie, Klischees zu verfremden, um das urspüngliche Bild wieder sichtbar zu machen.

Es gibt Bilder oder Bildbereiche, die für den Markt der Medien nicht taugen: Die leere Fläche ist bei diesem Spiel nicht brauchbar, wie eine ungenutzte Werbetafel.  Vergeudetes Material. In der Kunst allerdings funktioniert das Nichts oder das Fast-Nichts. Ein frühes Beispiel: In der Verkündigungsszene von Fra Angelico (Fresco in San Marco, Florenz, 1441) ist die leere Wand, die das Bildzentrum zwischen den Figuren genauso ausfüllt wie offen lässt, eine Projektionsfläche für die Imagination des Betrachters, ein visuelles Ereignis, das nichts festlegt. Springen wir in die Moderne, finden wir Leinwände mit raren Markierungen, delikate abstrakte Szenen, oft inspiriert von ostasiatischen Vorbildern. Nebenbei: Auch in der Plastik spielt der Gegensatz von leerem Raum und Materie eine Rolle, so bei Chillida, der die Dynamik der Grenze sinnfällig machte.

Oder gleich monochrome Tafeln: Dass aber solche visuell radikal reduzierten Bilder in ihrem Sehangebot zu beliebig, offen zum Gebrauch für jegliche Interpretation sind, ist ein richtiger Einwand. Weiße, schwarze oder andersfarbige Quadrate haben ihre Wirkung erschöpft. Ihr Ornament bietet kein Rätsel mehr.

Das weiße Blatt ist für den Schreiber wie für den Zeichner die Chance und die Herausforderung, Neuland zu betreten, den ersten Buchstaben, den ersten Strich zu setzen. In dem Moment beginnt das Bild, und die Spannung zwischen den Markierungen, der leere Raum im Feld der Zeichnung, also das Fast-Nichts, bleibt weiter spannend. Es vibriert zwischen den Rändern und nur mit ihnen. Wer offen ist  für das Visuelle, findet für seine Übung hier einen Ausgangspunkt. Vielleicht.

Ölpastell auf Papier

Es geht nicht darum, Bilder mit opulenter Fülle, durchgearbeitete Flächen, das Spiel mit allen Registern abzuwerten. Im Gegenteil: Damit das Visuelle seine Feste feiern kann, müssen die Grenzen des allzu schnellen Begreifens und Wissens erst recht aufgehoben werden. Die Offenheit des Fast-Nichts, als Vermögen im Hintergrund des Betrachtens, erleichtert einen Zugang auch hier. 

Auf zum nächsten Turn

Eines der äußerst seltenen Fotos vom affective turn, kurz nach dem Paradigmenwechsel

Zu einer Mode hat es sich in den Wissenschaften entwickelt, alle paar Jahre eine Wende, wenn nicht gar eine Kehrtwende auszurufen. Meist wird das, im üblichen Jargon, englisch als Turn bezeichnet. Die „ikonische Wende“ beispielsweise war, bereits in den 1990er Jahren, eine Emanzipation von den abstrakten Begriffen, eine Aufwertung der konkreten Bilder in Kunst und Alltagskultur. Ein durchaus sinnvoller Perspektivenwechsel also.

Ohne Anstrengung habe ich flott ein Dutzend solcher Turns gesammelt: Mittlerweile gibt es den affective turn, den cultural turn, die emotional, iconic, imagic, linguistic, material, pictorial, spatial, topographical, topological turns und schließlich den visualistic turn. Hinweise auf weitere nehme ich gerne entgegen. Kaum zu glauben, dass sich das Denken und Forschen so schnell drehen kann. Ohne dass einem auf diesem Karrussel schwindlig wird.

Mir liegt nicht an einer Polemik gegen die Erneuerungsfähigkeit der Wissenschaften, doch diese ist nun gar nicht neu. Lesen wir Montaigne, schauen wir auf die Romantiker oder blättern gleich bei Goethe, nicht zu vergessen Nietzsche, Marx, Einstein… Jeder mag noch seinen, ihren Kometen beisteuern. Warum also diese ständig gewendeten Wendungen? It’s marketing, my dear.

„There is a season turn, turn, turn“ heißt es im Evergreen von Pete Seeger: Das könnte die Hymne des Turnvereins sein,  und Gründervater wäre Thomas S. Kuhn – sein Begriff des Paradigmenwechsels aus seinem Klassiker „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ist ja mittlerweile Folklore und steht in Verdacht, schuld an dieser Mode zu sein.

Gerade die Erforschung der Künste ist von den Turns betroffen, in der Affektpoetik (emotianal turn) zum Beispiel und generell mit den cultural studies, den wichtigen ethno-, anthropo- und sozio-logischen Horizonterweiterungen.

Wenn es nicht beim Looping bleibt, der nach 360 Grad wieder am Ausgangspunkt ankommt, dann geht’s mit Hilfe der Turns durchaus voran: Die Spirale ist das sprechende Bild dafür, nicht der Kreis – der endet wie der hermeneutische Zirkel. Nebenbei eine neue Perspektive auf Tatlins Turm, vielleicht. Auf jeden Fall Kunstflug ohne Lärm und Abgase.

Die Anstrengungen der Wissenschaft, ihr Denkvermögen so zu plakatieren, können Künstler*innen durchaus belächeln. Von der Sache her kann es sie nicht überraschen. Gute Kunst war immer auch das Ergebnis von unabhängigem Praxis-Denken. Turns gehören da zum Prozess. Und hier ist dann der oft zitierte Satz eines Künstlers, von Francis Picabia, tatsächlich einmal passend: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“

Kategorien
Zugabe

Klammheimliche Selbstzensur

Abgerüstet in Kassel

Der Skandal in Kassel, der gerade die Republik bewegt, ist kein Kunstskandal. Hier geht es um Propaganda, nicht um Kunst. Und gerade das ist für eine Weltkunstschau wie die documenta nicht gut. Unabhängig davon, ob die Politbilder antisemitisch sind. Das kommt hier verschärfend dazu. Viele Kommentatoren, Kritiker und Politiker melden sich nun zu Wort, doch leider nur wenige, zu wenige Künstler:innen.

Taring Padi, die indonesische Aktivistengruppe, hat sich für ihren „Fehler“ entschuldigt. Die antisemitischen Stereotypen auf ihrem Riesenwimmelbild hätten „im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen“, leider unvorhersehbar. Deswegen habe man das Banner von seinem Gerüst in der Kasseler Karlsaue entfernt.

Das ergibt keinen Sinn, wie so manches, was die Gruppe verlautbaren lässt. Nicht erst im neuen Kontext sind die Klischeefiguren mit Judenstern, Haifischzähnen, Schläfenlocken und Schweinsnasen judenfeindlich, sondern in jedem Kontext. Das ganze Werk ist eine Schwarzweißmalerei im Stil von Agitprop: Oben sitzt das richtende Volk, links sind die Bösen (einschließlich der Juden), rechts die Guten. Das ist hier schon das Maximum an Differenzierung. Damit lässt sich einer Diskussion um globale Ungleichheit und Machtmissbrauch keine erkenntnisfördernde Visualisierung an die Seite stellen.

Wie dieses Skandalbild auf die documenta kam, ist ein Krimi für sich. Der Tathergang ist noch nicht ermittelt, viele Fragen sind noch offen. Niemand will, trotz einschlägiger Warnungen, vorher etwas gewusst haben. Dabei ist das riesige Bild 20 Jahre alt und war seitdem laut Taring Padi  an vielen Orten der Welt zu sehen. Und niemand hat hingeschaut? Wenigstens das indonesische Kuratorenkollektiv der documenta, Ruangrupa, muss es doch gekannt haben, sonst hätte es allerdings den Nachweis seiner Unfähigkeit erbracht.

Bei der Vorbesichtigung der Kunstschau war das Banner noch nicht zu sehen, es müsse noch repariert werden, und dann war es plötzlich da und es gab einen Aufschrei, nein: Es begann ein Schreikonzert mit vielen Zugaben.

Es ist aber nicht das einzige Taring-Padi-Bild, das aus dem Verkehr gezogen wurde. Bis vor wenigen Tagen war im Internet eine schwarz-weiße Zeichnung der Gruppe zu sehen, die ebenfalls sehr simple Stereotypen verwendet: Die Idee universeller Menschenrechte wird als westliche Killer-Ideologie verspottet; ein bewaffneter Soldat geht unter ihrem Banner über Leichen. Die Opfer sind die armen Einwohner des „globalen Südens“. Das Bild ist nun aus dem Netz verschwunden, ein Akt freiwilliger Selbstzensur?

Nachvollziehbar wäre das, denn ein weiterer Beleg für die unbekümmerte Arbeitsweise der Haudraufs kann ihnen jetzt nicht gelegen kommen. Ihr Argument nämlich, diese Karikaturen seien nur im spezifischen Zusammenhang indonesischer Politik und Kultur zu verstehen, wird damit widerlegt. Die antisemitischen und antihumanistischen Klischees sind keine einheimische Folklore, sie stammen aus der globalisierten Bilderwelt. Ein Künstler hätte sie befragt, demontiert, entlarvt und nicht naiv übernommen.

Kunst darf selbstverständlich politisch sein, und es gibt viel gute politische Kunst. Auch Karikaturen können und sollten gut und witzig sein. Aber, und hier zitiere ich gerne den bekannten Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck: „Kunst sollte nicht >in Dienst< genommen werden. Denn sie stellt einen Raum jenseits des oberflächlich Sichtbaren und jenseits der Interpretation her; Kunst ist die Kontingenz der Form (…), und damit auch der gesellschaftlichen Möglichkeiten. In ihr können Emotionen, Erlebnisse ebenso wie Erkenntnisse und Träume Platz finden.“ Und dabei geht es Kaleck um das Sichtbarmachen des Möglichen durch Kunst auch im politischen Kampf um Menschenrechte. Das ist eine völlig andere Kategorie als das bildliche Schnellfeuer, das nun die documenta um ihren Ruf bringt.

Kategorien
Bildbetrachtung

Acht Sterne

Dmitri Reznikow in Aktion

Die Zeichnung zeigt acht schwarze Sterne auf weißem Grund; das Papierformat entspricht ungefähr DIN-A-3. Jeder Stern besteht aus vier Linien – vertikal, horizontal, zwei Mal diagonal; die Strecken schneiden sich im Mittelpunkt. Eine einfache grafische Grundform, aus freier Hand ohne Rücksicht auf geometrische Exaktheit gezeichnet. Drei Sterne in der oberen, fünf in der unteren Reihe. Ein junger Mann, dessen Gesicht frappierend an Franz Kafka erinnert, hält das Blatt vor der Brust, er zeigt es im öffentlichen Raum in Moskau. Hinter ihm nähert sich ein Uniformierter, der seine Arme bereits zum Zugreifen bereit zu machen scheint. Er blickt den unbekannten Fotografen dieser Szene vom 13. März 2022 an.

Ist die Zeichnung ein Werk konkreter Kunst? Der Schöpfer dieses einfachen Bilds hatte weniger einen ästhetischen als einen ethisch-kommunikativen Anspruch; die Abstraktion diente ihm für eine verschlüsselte Botschaft. Sterne als Auslassungszeichen, als Platzhalter für drei und fünf Buchstaben: нет война́.

„Nein zum Krieg“ meinen übersetzt die beiden Worte. Das Foto wurde in verschiedenen Medien wiedergegeben mit der Information, dass Dmitri Reznikow, der Akteur auf dem Foto, verhaftet und zu 50 000 Rubel (700 Euro) Geldstrafe verurteilt wurde, weil sein Sterne-Symbol von der Staatsmacht als verbotener Protest gegen den Krieg in der Ukraine interpretiert wurde.

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, der legendäre erste Satz in Kafkas „Der Prozess“. Warum darf der junge Mann nicht ein Blatt mit acht Sternen auf der Straße zeigen? нет война́ ist verboten, denn nach offizieller Lesart gibt es keinen Krieg, und der Protest gegen den Überfall ist ebenfalls untersagt. Also greift der Zeichner zu einer List, dadurch wird das simple Protestplakat zur symbolischen Zeichnung. Der Betrachter darf rätseln, was sie zu bedeuten hat. Die Sterne können für нет война́ stehen oder auch nicht, keine Version lässt sich anhand des Artefakts an sich beweisen.

Ob Kunst politisch verstanden wird und eine kritische Kraft entfaltet, entscheidet sich immer mit Blick auf den Kontext, so auch hier (selbst wenn das Bild nicht als Kunstwerk gedacht war). Die Moskauer Obrigkeit sah diesen Kontext, sie urteilte und verurteilte in diesem Sinne und ließ die Grauzone des nicht Beweisbaren, also den Zweifel zugunsten des Angeklagten, nicht gelten. 87,50 Euro pro Stern.

Es ist nicht überliefert, ob der Demonstrant seine Absicht zugegeben hat. Das spielte auch keine Rolle für seine Verhaftung. Die Polizei interpretierte schnell. So mutig Dmitri Reznikow war, so blamabel endete die Aktion für die Autokratie: In Russland darf man keine acht Sterne zeigen, diese Botschaft ging um die Welt. 

Was würde geschehen, wenn in Moskau Repliken von Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ gezeigt würden, als Symbol für den Zustand der Demokratie und der Menschlichkeit in Russland? „Roskomnadsor“, die russische Zensurbehörde und Kommunikationsaufsicht, lese ich bei Wikipedia, warnte bereits ausdrücklich vor der Verwendung von Symbolen, die „doppeldeutig“ sein könnten, zum Beispiel schwarzen Quadraten. Das Motiv wurde schon beim „Euromaidan“ in Kiew als Zeichen von Protest und Widerstand genutzt. Wie hoch der Straftarif in diesem Fall wäre, wird nicht berichtet. Und in der Tretjakow-Galerie soll das Original, das nunmehr gefährlichste Werk des Suprematismus, immer noch zu sehen sein.

Kategorien
Fragmente

Schönheit spart Kraft

Etwas Schönes zu sehen oder sich vorzustellen, das bedeutet gleichzeitig eine „Kraftersparnis des Denkens“. Davon war Georg Simmel überzeugt. Der Philosoph und Soziologe veröffentlichte 1896 seinen Text zur „soziologischen Ästhetik“, in dem er die Anziehungskraft des Schönen auch so beschrieb: „das Abrollen einer maximalen Anzahl von Vorstellungen mit einem Minimum von Anstrengungen“.

Anstrengend dagegen das Chaotische, Hässliche, Unsymmetrische. Wahre Kraftvergeudung. Ist die Schöne Kunst daher etwas fürs Gemüt der Gemütlichen? Für Denkfaule gar? Kuriose Thesen. Sie erinnern mich an Lu Märtens Aussage in ihrem Buch „Die Künstlerin“, „freie Arbeit, Denken, Assoziieren, Schauen“ erfordere „äußere Faulheit“ (siehe Lob der Faulheit in diesem Blog). Wohlgemerkt äußere, was bei Märten die Befreiung von der Fron der Erwerbsarbeit bedeutete, die Gelegenheit zur Muße, die wiederum als eine durchaus tätige gedacht war.

Als faule Künstler galten seinerzeit einigen Kommentatoren Yoko Ono und John Lennon, die sich für Kunstperformances einfach ins Bett legten. Ihre Bed-Ins in Amsterdam und Montreal waren friedliche Aktionen gegen den Vietnam-Krieg. Der Publicity-Erfolg zeigte, dass die Verweigerung von Betriebsamkeit und Leistung als Skandal funktionierte.

Faulheit als Programm irritiert. Geht es aber nicht eher um die zitierte Muße? Produktive Zeit für die Kunst ist Freiheit, aber keine Freizeit. Den Wert der Muße haben natürlich auch die Profiteure längst erkannt und begonnen, ein Geschäft daraus zu machen. Selbstoptimierung, Fitmachen für den Job – das verwertet die Muße, und schon mit der Ratgeberliteratur dazu lässt sich Geld verdienen. Nix mit Freiheit.

Was also soll der Künstler, der weder fremd bestimmt noch faul sein will, dazu sagen? Joseph Beuys ernährte sich ja bekanntlich durch Kraftvergeudung, wie er verkündete. „Müßiggang“ ist auch ein interessanter Begriff an dieser Stelle. Es steckt Muße darin, aber auch Bewegung. Eine aktuelle Ausstellung in der Withechapel Gallery zu London, Titel „A Century of The Artist’s Studio“, beschäftigt sich mit dem Atelier als Ort der Kunstproduktion, und einem Pressebericht zufolge geht es dabei auch um „Müßiggang“, um das Atelier als Spielfeld für Blödsinn und Schabernack.

Was dabei herauskommt, muss nicht schön sein. Doch dem „Abrollen einer maximalen Anzahl von Vorstellungen mit einem Minimum von Anstrengungen“ kommt es sicher sehr nahe.

Met, das rote Buch

Mark Met: Kasper, Collage aus Kohle- und Farbstift-Zeichnungen, 20 x 20 cm

Der Teufel wirkt gar nicht so unsympathisch. Endlich sehen wir auch mal seinen Hinterkopf, die markante Frisur: ein Mittelscheitel bis in den Nacken. Symmetrie mit Hörnern. Dagegen möchte ich dem Kasper nicht im Dunkeln begegnen: Er erscheint unheimlich und rätselhaft. Das Lächeln falsch, falls er nicht gleich grimmig dreinschaut. Es geht um die Köpfe der bekannten Spielfiguren fürs Kindertheater, diese bunt bemalten Klischees aus Plastik. Mark Met hat sie vielfach gezeichnet mit Kohle, farbigen Stiften und Kreiden. Der in Windeck lebende Künstler ist seit vielen Jahren fasziniert von solchen und anderen Fantasie-Figuren, deren Charaktermöglichkeiten er zeichnerisch auslotet. Prinzessin trifft Spiderman – Met zeigt Szenen aus bisher ungeschriebenen Geschichten.

Es gibt mindestens noch zwei andere Motivreihen, die er in den letzten Jahren intensiv bearbeitet hat:  in Holz geschnitzte Repliken von Kultfiguren aus ehemaligen Kolonien für den Tourismus-Markt, die der Zeichner in einer deutschen Privatsammlung fand, und Bilder von Affen. Eine Kombination, die in aktuellen Debatten vielleicht heikel wirken könnte, doch steckt dahinter kein auf- oder abwertender Vergleich zwischen den Abstraktionen menschlicher Figur und den evolutionsgeschichtlichen Verwandten des Homo sapiens. Es geht, wie bei den erwähnten Spielzeugfiguren, um das Rätsel einer bildlichen Verwandtschaft, um das Wiedererkennen oder Fremdsein angesichts des Ähnlichen. Es sind Charakterfiktionen, die Met aus ihren Klischees löst und verwandelt.

Met, der als Performer auch schon im Gorilla-Kostüm auftrat, zeichnet mit Ernst und Humor. Seine Szenen sind hintergründig, oft witzig, gerade in den Kombinationen der Motive. Mal sind die Figuren detailliert geschildet, mal freier notiert. Überblendungen und die Auflösung in freie Lineaturen verwendet er ebenso wie in jüngster Zeit die Collagetechnik. Die bringt noch einmal einen Schub an faszinierenden Bildvarianten. Und all das ist schön zu sehen beim Durchblättern des neuen Künstlerbuchs „Met. Climate of Hunger“, das zweite in dieser Art nach „Pongo“ im vorigen Jahr. 100 Zeichnungen hat Met in dem rot eingebundenen Werk, Auflage 50 Exemplare, versammelt. In dieser schön komponierten Abfolge steckt eine Fülle von Ansichten, Anregungen und Überraschungen.

Mark Met: o.T. (Masken auf Prinzessin), Collage aus Kohle- und Farbstift-Zeichnungen, 20 x 20 cm

AugenBlick

zur Ästhetik der Überflussgesellschaft
Kategorien
Kunst-Simulationen

Heimliche Helfer

Der Schachtürke und sein Meister. Quelle: wiki commons

Das treffende sprechende Bild für „Künstliche Intelligenz“ ist schon ziemlich alt. Der Kupferstich von Joseph Racknitz oben stammt  von 1789 und zeigt den „Schachtürken“, ein kompliziertes und lustig gestaltetes mechanisches Wunderwerk, 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten Wolfgang von Kempelen erfunden und gebaut. Er verblüffte damit vergnügungssüchtige Fürst*innen, die glaubten, der Apparat könne tatsächlich selbstständig Schach spielen. Doch nicht die Türkenpuppe mit ihren Zahnrädern gewann die Partien. In Wahrheit war ein im Kasten verborgener Mensch der überlegene Spieler.

Die Analogie zum Computer ist schnell erklärt: Die Superrechenmaschine wird heute immer wieder und gerne als weitgehend selbstständiger Akteur präsentiert und vermarktet. Als Künstler gar, der seine menschlichen Konkurrenten in den Schatten stellt. Dabei sitzen auch in diesem Kasten verborgene Menschen. Bislang kann kein noch so leistungsfähiger und teurer Computer mehr als das, was ein Programmierer ihm eingegeben hat. Auch wenn die Algorithmen mittlerweile so kompliziert sind, das selbst die Ingenieure nicht mehr erklären können, wie ein Ergebnis zustande gekommen ist – auch das ist so programmiert.  „Wenn wir es nicht mehr verstehen, nennen wir es künstliche Intelligenz“, lautet ein Szene-Witz.

Das erinnert stark an den klassischen Genie-Gedanken. Auch der bezog seine Überzeugungskraft, zumindest in der populären Variante, aus dem Unerklärlichen: Wie konnte der Schöpfer, der Dichter oder Maler, so etwas Überwältigendes gestalten? Es musste göttliche Eingebung sein, oder das Genie selbst war göttlich. Die Neuauflage des Geniekults ist der KI-Kult.

Aber auch der ist zu durchschauen. Die Versprechungen der Computer-Industrie, dass ihre Erzeugnisse bald die menschliche Intelligenz und Kreativität überflügeln werden, haben der Branche zu satten Forschungsgeldern verholfen. Das führte unter anderem dazu, dass zeitweise ungefähr 40 Prozent der europäischen KI-Start-ups in Wahrheit nichts mit „Künstlicher Intelligenz“ zu tun hatten, sondern lediglich über dieses Label Zuschüsse einstrichen, schreibt der Mathematik-Philosoph Stefan Buijsman („Ada und die Algorithmen“, S. 11).  Nachdem die KI-Versprechungen deutlich hinter der Realität zurückblieben, versiegten Geldquellen. Aber dann und vielleicht gerade deshalb kam die Kunst ins Spiel. Der Computer als Künstler generierte wieder Schlagzeilen. Kunstmarktakteure schafften es, für „KI-Kunst“-Produkte Käufer zu finden, die richtig viel Geld bezahlten. Mittlerweile bezeichnen selbst seriöse Kunst-Fachzeitschriften diese Simulationen als Kunst.

Da ist er wieder, der „Schachtürke“.  So wie weiland von Kempelen mit seinem Kasten von Residenz zu Residenz zog, um den Potentaten Geld aus der Tasche zu ziehen, veranstaltet heute die KI-Kunst ihre eigene Kirmes. Und der heimliche Spieler ist der Programmierer. Er darf nicht erkannt werden, denn der Computer muss der Schöpfer sein, das elektronische Genie.  

Der Künstler verbirgt sich hinter dem Werkzeug. Aber auch, wenn er das nicht tut und – wie mittlerweile einige Akteure – den Computer als Instrument nutzt so wie Pinsel und Meißel, auch dann sind nicht alle Mitspieler zu sehen. Es gibt nicht nur einen, sondern viele verborgene Programmierer, die „KI“ überhaupt erst einsatzfähig machen. Die Algorithmen oder die selbstlernenden neuronalen Netze, die in riesigen Datenmengen Muster erkennen sollen, müssen diese Datenmengen ersteinmal haben. Das besorgt die Schattenarmee der Clickworker, Menschen, die für einen lächerlichen Lohn in Heimarbeit die Infos eingeben. Das machen Hausfrauen, Arbeitslose und andere Prekäre in aller Welt. Sie müssen sich bloß  im Internet bei entsprechenden Portalen einloggen. Unternehmen, die solche Jobs anbieten, können sich auf Crowd-sourcing-Seiten präsentieren, zum Beispiel der von amazon. Der Konzern nennt diesen Marktplatz bzw. den dort verdingten Arbeiter sinnreich „Mechanical Turk“.

„mturk.com“ ist die gelebte Selbstironie der KI-Akteure. Der Mechaniker von Kempelen stand gleichsam für die gute alte Geisterbahn, amazon beamt seine Idee in die Hypersphere. Die globale Kunstwerkstatt der Clickworker bleibt anonym und ungesehen. Trotz ihres Einsatzes aber, trotz immer größerer Datenmengen kann sich bisher kein Computer eigene Regeln setzen und diese bei Bedarf durchbrechen, was zur Kunst nun einmal gehört. Seine Werke sind Imitationen. KI-Kunst ist getürkt.

Zart und geistreich

Heinrich Küpper, o.T., Bleistift und Pastellkreide, 20 x 29,5 cm; aus einem Künstlerbuch-Unikat 2000-2003

Ein ungeheures graues Spinnennetz ist da entstanden, ein schier unendliches Gewebe, gezeichnet in dunklem Selbstvergessen – gleichsam mit eingeschlummerter Seele, aber mit großem Scharfsinn. Eine kolossale Kritzelei, diese Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig. Alles Gegenständliche ist hinausgeworfen. Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend.

Diese Sätze verwendete Gottfried Keller in seinem Roman „Der grüne Heinrich“, um den Erzähler sowie die Figur des Malers Erikson ein sie irritierendes Bild schildern zu lassen, das die Hauptfigur Heinrich Lee gezeichnet hatte. Die Diagnose am Ende lautet „Abstraktion!“. Und das ist in dem Text von 1854/55, in der ersten Fassung des Romans also, ein vernichtendes Urteil: „Dein Gekritzel (…) zeigt mir, daß du dich übel befindest“, sagt Erikson zum „grünen Heinrich“.

Dieselben Formulierungen, rund 150 Jahre später auf die Zeichnungen von Heinrich Küpper (1919 – 2009) bezogen, zielen nun nicht mehr auf ein verdammendes Urteil. Sie passen überraschend gut zu der Arbeitsweise des Künstlers, der die „kolossale Kritzelei“ mit geübter Hand, stetiger Schaffenslust und in immer neuen Variationen betrieb. Der zufälligen Namensgleichheit des fiktiven und des realen Heinrich soll keine verborgene Bedeutung  zugeschrieben werden, aber es ist ein schöner, passender Zufall. Denn in der Arbeitsweise, der fiktiven im Roman und der realen in Küppers Werk, gibt es deutliche Parallelen. Nur die künstlerische und gesellschaftliche Bewertung dessen, was da sichtbar wurde, hat sich radikal geändert.

So befand sich Heinrich Küpper immer besonders wohl bei der zeichnerischen Arbeit, die sein Lebenselixier war. Das Erstaunliche ist indes nicht, dass sich die Ansichten über die Abstraktion bekanntermaßen gewandelt haben, sondern dass Gottfried Keller solche Bilder schon zu einer Zeit beschrieben hat, als es sie in der Kunstwirklichkeit noch gar nicht gab. Die ersten abstrakten Werke lassen sich um 1900 in der westlichen Welt ausmachen, also deutlich noch nach der zweiten Fassung des „Grünen Heinrich“ von 1879/80. Der schweizer Schriftsteller kannte freilich die Voraussagen einer abstrakten Kunst in der romantischen Literatur.

Aber solche Ideen brachten ihn in einen ernsten Konflikt, dem zwischen dem Anspruch einer damals für angemessen und schicklich gehaltenen Landschaftsmalerei und dem nicht gesellschaftsfähigen Subjektivismus einer Bildlichkeit, die sich frei machte von den tradierten Vorstellungen. Keller, der sich als Maler gescheitert sah, nahm diesen in der Kunstöffentlichkeit später wichtigen Konflikt um viele Jahre vorweg; und er ließ ihn im Roman nicht gut ausgehen.

In der ersten Fassung stirbt Heinrich Lee am Ende, unversöhnt mit sich, seiner Kunst und der Welt überhaupt. Allerdings finden sich zur „Kritzelei“ hier die geradezu liebevollen Beschreibungen, die eingangs zitiert sind – und die sich im Nachhinein als zukunftsweisend lesen lassen. Das ändert sich in der zweiten Version, dort sind das „Selbstvergessen“ und der „große Scharfsinn“ gestrichen, gerade das, was tiefer in die Antriebe für diese Arbeitsweise blickt. Stattdessen ist Heinrich Lee nun „in dem Netze gefangen“, und auch, wenn er am Ende dieser Fassung  am Leben bleiben darf: Sein kolossales Bild wird in diesem Fall von Erikson zerstört, in einem eigenmächtigen Anfall von Bildersturm.

Seine grandiose Utopie der Abstraktion war Keller offensichtlich nicht geheuer; sie bleibt aber hellsichtig. In dem, was Künstler und Schriftsteller tun, liegt eben oft mehr Sinn, als sie selbst wissen. Der Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu hat das in seinen Manet-Vorlesungen erhellend beschrieben: Es gibt immer einen Unterschied zwischen Intention und praktischem Sinn. Das gilt auch für das „Gekritzel“ des „grünen Heinrich“. Es verletzt etablierte künstlerische Begriffe und lässt sie hinter sich, weil das Zeichnen als körperliche Aktion sie nicht braucht. Der Körper versteht Dinge, die nicht gewußt und nicht verstanden werden, so Bourdieu, aber auch in automatischen Gesten steckt ein Gedanke – mit eingeschlummerter Seele, aber mit großem Scharfsinn.

Wer die Bilder im Auge und in der Hand hat, befindet sich nicht übel wie der arme Heinrich Lee, er darf sich glücklich schätzen – wie es Heinrich Küpper war, der seine Art des Zeichnens lächelnd, mit der Hand gestikulierend beschrieb, nie mit Worten. Er arbeitete so in einer Zeit, in der die Abstraktion sich in Europa durchgesetzt hatte. Allerdings interessierte er sich kaum für diesen sehr weiten Begriff. Seine faszinierenden Werke entstanden ohne erklärte Theorie, in innerer Freiheit und aus tiefer Freude am Machen und Schauen auf diese Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig.

Heinrich Küpper, o.T., Bleistift und Pastellkreide, 20 x 29,5 cm; aus einem Künstlerbuch-Unikat 2000-2003

Der Bilderfinder

62. Arbeit 2018, Acryl auf MDF, 40 x 30 cm. Foto: Wolfgang Grümer

Jedesmal, wenn ich Hans Delfosse in seinem Atelier besuche, hängen neue Bilder an der Wand, die in den Tagen davor entstanden sind. Sein Werkprozess kennt keine längere Unterbrechung. Auf einem der großen Tische liegen bereits die nächsten angefangenen Arbeiten: Erste Aquarell-Linien sind auf dem Blatt zu sehen, eine Grundlage für eine gewebeartige Struktur aus vertikalen, horizontalen und diagonalen Parallelen. Wenn diese Strichlage getrocknet ist, folgt mindestens eine weitere. Die Lasuren entwickeln sich zu den am Ende gültigen Farbtönen, die Geraden ergeben die hellen und dunklen Flächen, die in sich differenzierte Gesamtform – ein Stoff, der genauso präsent wie rätselhaft ist, der zum geduldigen Sicheinsehen einlädt in Komplexität und Nuancen.

Der Künstler experimentiert konsequent mit den Möglichkeiten der Techniken – neben dem Aquarell vor allem Acrylmalerei und Papiercollage – und des Materials – außer Aquarellpapieren nimmt er zum Beispiel Hartfaser, MDF und OSB als Malgründe – und findet dadurch überraschende neue Ergebnisse.  Dieselbe Zeichentechnik und Bildstruktur kann auf der rauen OSB-Spanplatte einen vollkommen anderen Charakter annehmen als auf dem Büttenpapier.

Die Flächen können aber auch vollkommen mit feinen Schraffuren in wechselnden Richtungen oder mit Feldern von Punkten bedeckt sein. Jeder neue Parameter potenziert die Zahl der möglichen Kombinationen und Varianten.

Wenn er Blätter zuerst mit organischen Formen bemalt oder bereits bedruckte Papiere – Abbildungen seiner Arbeiten aus Katalogen z.B. – benutzt und dann sein strenges Linienraster darüberlegt, ergibt sich eine spannende Dissonanz der Schichten, etwa zwischen einem eher informellen und dem geometrischen Teil.  

Eine andere Variante des Eingriffs in das Gewebe ist die darübergelegte Linie, die Felder abgrenzt und Richtungen markiert. So entsteht eine weitere Bildebene, die die Regelmäßigkeit der Parallelen durchbricht. Allerdings ist diese Regelmäßigkeit ohnehin relativ: In den Allover-Strukturen wimmelt es von subtilen Abweichungen, das Raster scheint geradezu seinen eigentlich Sinn als Ausgangspunkt für Unregelmäßigkeiten zu haben. Die Acrylarbeiten auf glattem Chromoluxkarton zeigen das deutlich: Hier wird die Farbe nach dem Auftrag mit einem harten Gegenstand in Linien wieder abgenommen. Es entstehen Unschärfen in dem noch zähflüssigen Acryl, schwimmende Ränder und verschiedene Farbstärken.

Einer kunsthistorischen Einsicht über die freie Abstraktion zufolge entstehen nichtgegenständliche Bilder durch originelle Arbeitsverfahren, durch die Erfindung  einer Methode. Die scheinbar einfachste Variante wäre das monochrome Farbfeld. Dann käme die Farbfeldmalerei, die gestische Abstraktion und so fort. Hans Delfosse setzt auf Verfahren, die, wie beschrieben, zu reich differenzierten Bildern führen, indes ist er bei einer einzigen Methode nicht stehen geblieben: Er hat das Methoden-Erfinden selbst zum Verfahren gemacht.

So hat er Techniken der Radierung umfunktioniert: Seine „Ritzzeichnungen“ entstanden mittels Radiergriffel auf schwarz eingefärbten Papieren. Diese Zeichnungen, bzw. Drucke davon,  tauchen heute in Collagen wieder auf. In die neuen Kombinationen seiner feinen Linienstrukturen setzt er frei gestellte schwarze Linien, ebenfalls mit dem Messer ausgeschnitten und teilweise wie in einer Intarsienarbeit eingelegt.

Noch ganz andere kompositorische Möglichkeiten eröffnet der Leporello. Die gefalteten Zeichnungen lassen sich zu – teilweise über fünf Meter langen – Großformaten oder nur in Teilen entfalten. Daraus ergibt sich eine Fülle von Varianten. Hier wird das Bedürfnis des unermüdlichen Bildererfinders wohl besonders deutlich, dem künstlerischen Prozess immer neue Wege zu weisen. (Siehe dazu das Kapitel „Entfaltete Bilder“ in diesem Blog.)

Die Ideen kommen beim Machen. Das Problem für Hans Delfosse ist nicht, dass die künstlerische Imagination ein knappes Gut ist. Seine methodische Abstraktion folgt seinem Wissen, seinem handwerklichen Können, seiner Reaktionsfähigkeit im Dialog mit dem Material und nicht zuletzt seiner bildnerischen Neugier. Eine nichtgegenständliche Malerei und Grafik, längst befreit von der Aufgabe, metaphysische Bedeutungen transportieren zu müssen, kann gleichwohl viel bedeuten: Aktualisierte schöpferische Freiheit etwa, und ein erfülltes ästhetisches Glücksversprechen für den Macher wie den Betrachter gleichermaßen.

Ist ein Werk fertig, der Künstler vom Ergebnis überzeugt, verdrängt es ein früher entstandenes von seinem Platz an der Atelierwand. Ein Bild enthält die Impulse für das nächste – auf dem Arbeitstisch kann das Bilder-Finden/ Bild-Erfinden also weitergehen.

hans-delfosse.de

(Die Ausstellung „Hans Delfosse: Malerei, Papierarbeiten, Leporellos“ im Museum Burg Wissem in Troisdorf endet am 1. Mai mit einer Künstlerführung um 15 Uhr.)

78. Arbeit 2017, Acryl auf Chromoluxkarton, 109 x 78 cm. Foto: Wolfgang Grümer

Keine Angst vor Nylonstrippen

Wer einmal die Aufgabe hatte, Bilder an die Wand zu bringen mittels Nylonschnüren, die von Metallschienen unter der Decke baumeln, der kennt seitdem diverse Flüche. Die Haken an den Strippen auf die richtige Höhe zu bringen, die Schnüre in gerade Linien zu zwingen, das ist schon eine Kunst für sich. Wehe, die präsentierten Objekte sind zu leicht, dann zeigen die Kunststoffseile so richtig ihr Eigenleben.  Und ist die schwierige Arbeit endlich vollbracht, sieht das Ergebnis – bescheiden aus. Inhaber von Ausstellungsräumen, die vor nichts mehr Angst haben als vor Nägeln und damit Löchlein in ihren weißen Wänden, sind die natürlichen Feinde der Künstler respektive ihrer Helfer, die den Auftritt zu gestalten haben.

Ilse Wegmann ist mit diesem Problem jetzt beispiellos kreativ umgegangen. Anlässlich ihres 80. Geburtstags hat sie eine exzellente Ausstellung im „Kunstraum Bad Honnef“ inszeniert. Die Nylons sind dort besonders dick und widerspenstig, falls mal jemand sein Klavier aufhängen will. Ausweglos? Nicht für die Künstlerin, die die lästigen Schnüre kurzerhand in ihre Werke einbaute. Was sich sonst störend ins Bild drängt, ist jetzt entschiedener Teil des Bildes, siehe Foto.

Das Ergebnis des so intelligenten wie frechen Coups ist überzeugend und witzig. Keine Verlegenheitslösung: Das Zurschaustellen des Materials und seiner Eigendynamik passt perfekt zu der Aussage der Objekte, die im Wesentlichen aus zerrissenen Bildern und leeren Rahmen bestehen. Ilse Wegmann hat für diesen Anlass die Leinwände in Streifen zerlegt, die sie 2014 in diesem Kunstraum unter dem Titel „Stummfilm“ gezeigt hatte. „Inzwischen ist dieses Thema abgearbeitet, nicht mehr relevant,“ sagt sie, es sei also an der Zeit, „mich von einigem Ballast zu befreien.“ Die Aktion des munteren Streifenreissens fand Ende 2021 im Bonner Kunstmuseum statt, unter Beteiligung des Publikums.

Nun hängen die Stoffteile aus den Rahmen oder auf Kleiderbügeln. Die Künstlerin hat spielerisch verschiedene Varianten entwickelt, und das Ergebnis ist sehenswert. Der Titel der Schau lautet treffend „Film/Riss“. Aus Ballast lässt sich was machen.

kunstraum-badhonnef.de (bis 30. Januar)

AugenBlick

50°48’50“ Nord, 7°35’33“ Ost, 150 Meter über Normalnull

„947-5“ könnte auch „Bankraub“ heißen

Einen Tiefpunkt des Jahres 2021 in der bundesdeutschen Hochkunst gilt es zum Jahresende noch zu vermerken: Gerhard Richters abstrakter Bildzyklus mit dem Titel „Birkenau“ war unlängst wieder in den Schlagzeilen. Die vier Werke in Richters üblicher Rakeltechnik wurden mit großem Tamtam für das in Berlin geplante „Museum des 20. Jahrhunderts“ angekündigt. Zurzeit sind sie in Düsseldorf im K 21 zu sehen (bis April 2022).

Diese Bilder hat Richter 2014 gemalt, zunächst „Abstraktes Bild“ betitelt und dann in „Birkenau“ umbenannt. Seitdem reißen die kontroversen Diskussionen darüber nicht ab. Der Kölner Künstler hatte historische Fotos von Opfern des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau auf jeweils 2,60 mal 2,00 Meter abgemalt und dann in seiner Manier mit Farbstrukturen überzogen. Denn seine Erkenntnis war, so wird kolportiert, man könne das Grauen von Auschwitz nicht abbilden. Sicher richtig, und nun waren es eben abstrakte Werke in Rakeldeko. Dass Richter später doch diesen sprechenden Titel gewählt hat, als könne es irgendeine innere Beziehung zwischen gewischten Farbstrukturen und dem Thema geben, das warf und wirft dann erst recht Fragen auf. Und zwar künstlerische wie ethische.

Wenn im Richterraum des geplanten Museums dereinst einige Tafeln dieser Machart nebeneinander hängen, und die einen heißen dann „Abstraktes Bild (834-2)“ oder „(947-5)“ und die anderen „Birkenau“, dann sollten die Kuratoren mal testweise die Schilder mit den Titeln vertauschen. Wetten, dass es funktioniert, dass Besucher vor „08-15“, jetzt „Birkenau“, andächtig verharren? Das Aufladen solcher Malerei durch Benennung funktioniert eben nicht, sonst könnte man ein x-beliebiges Richter-Werk auch „Sommerfest“ oder „Bankraub“ nennen. Und  sich dann tiefsinnig was dazu denken.

Die Loblieder, die auf Richters „Birkenau“-Zyklus gesungen werden, überzeugen alle nicht, weil sie diese simple Tatsache zu offensichtlich übertönen wollen. Und damit sind wir beim ethischen Problem, das den Künstler wie seine unkritischen Bewunderer gleichermaßen betrifft: Diese Malerei ist nicht nur unehrlich, durch die visuell nicht einlösbare Zuschreibung wird der Holocaust – einmal mehr – instrumentalisiert. Wenn ich mir den Vorgang vorstelle, die abgemalten Fotos der Opfer mit Farbe zu überdecken, unsichtbar zu machen, habe ich ein gelinde gesagt ungutes Gefühl. Böse formuliert: Da wird den Opfern mit dem Rakel eins ausgewischt.

Und was ist mit denen, die vielleicht wirklich tief ergriffen vor dem Zyklus stehen und der Geschichte gedenken? Sie verhalten sich so wie religiösen Symbolen gegenüber, die Ehrfurcht erzeugen. Kirche braucht solchen Kitsch, um die Menschen bei ihren Gefühlen zu packen. Das Erinnern an die Geschichte des Holocaust braucht das nicht. Hier haben wir die Gedenkstätten, die Orte und Dokumente, noch haben wir auch Zeitzeugen, alles dies, was nicht nur Gefühle vermittelt, sondern auch Erkenntnisse. Und wir haben auch Kunstwerke, die das leisten, was die Richter-Bilder nicht leisten. „Stolpersteine“ zum Beispiel. Hoffentlich werden wir Gunter Demnigs großartiges Projekt im „Museum des 20. Jahrhunderts“ wiederfinden.

Kategorien
Aus der Wirklichkeit

Pandemietauglich: der Schmuckeremit

Schmuckeremit im Muskauer Park, mit Impfnachweis

Eine vergessene Kunstfigur freut sich – still und einsam, wie es ihr geziemt – über eine unerwartete Renaissance. Lange war der „Schmuckeremit“ aus der Mode, nun plötzlich ist er auf dem Weg zum perfekt pandemietauglichen Rollenmodell. Wer hätte denn mehr Abstand zum Publikum, als der von ferne winkende Bewohner einer malerischen Grotte? Während die Musikkneipen und die Theaterbühnen großen Aufwand treiben müssen, um überhaupt Künstler und Zuschauer in eine sichere Konstellation zu bringen, wenn die Akteure nicht nur vom Balkon trällern wollen, hat der Darsteller eines romantischen Einsiedlerlebens in einer weitläufigen Parkanlage da überhaupt kein Problem. Unbekümmert um 2G (plus) oder 3G setzt er sich einfach in Positur, krault seinen Bart und ruft: „Jetzt glotzt mal schön romantisch!“

Die ganz Coolen nennen sich „ornamental hermits“ und posieren in den Netzwerken mit Selfies. Ganz klar, dass es auch Schmuckeremitinnen gibt, allerdings ohne Bart, weshalb sie es noch haben schwer in diesem Metier. Die Vorbilder der lebenden Zierfiguren stammen aus dem 18. Jahrhundert. In englischen Landschaftsparks gehörten sie zum Inventar, meist nur mäßig gut bezahlt, dafür aber völlig stressfrei. Sich den Besuchern des Parkbesitzers von Ferne im wallenden Gewand zu zeigen, das war ja schon alles, was sie zu erledigen hatten.

In der Regel gelten die Eremiten heute als Selbstständige, die frei entlohnt werden, es gibt aber auch bereits 400-Euro-Jobs in diesem florierenden Gewerbe. Die Gewerkschaft verdi feilt deshalb schon an einem Tarifvertrag „Ornamentale Dienstleistungen“. Das Problem dabei ist, die echten Künstler von denen exakt zu unterscheiden, die irgendwo in anderen Berufsgruppen als bloße Schmuckelemente existieren.  

Superheldinnen

Sie waren in ihrer Arbeit mindestens so gut wie Männer, brauchten aber mehr Mut, mehr Kraft und mehr Geduld als diese: Künstlerinnen hatten es in der Vergangenheit in der männlich dominierten Kunstwelt bekanntermaßen schwer. Für ihre höheren Anstrengungen wurden sie schlechter bezahlt und mussten sich noch dumme Sprüche anhören. Da gibt es einige Überlieferungen bis in die heutige Zeit. Ein treffendes Beispiel erzählt die Künstlerin Carola Willbrand aus dem Leben der Kölner Malerin Käthe Schmitz-Imhoff (1893 – 1985): „So viele talentvolle Leute laufen auf der Straße herum, und dann wird so ein Frauenzimmer aufgenommen!“, schimpfte Professor Spatz, als Schmitz-Imhoff in den 1920er Jahren an der Düsseldorfer Kunstakademie zum Studium antrat. Und damit begannen erst die Schikanen.

Doch es hat sich geändert, es bessert sich. Stellten 1882 die Künstlerinnen nur 5,6 Prozent aller Kunstschaffenden, waren es 1925 immerhin 18,9 Prozent – und heute sind es stolze 60 Prozent. Aber das Ziel der Geschlechter-Gerechtigkeit ist noch nicht erreicht, klagt zum Beispiel der Deutsche Kulturrat: Künstlerinnen verdienten Stand 2017 „erschreckende 24 Prozent“ weniger als Künstler. Und nur ein Drittel der von den Bundesländern erworbenen Werke war von Frauen geschaffen, Stand 2000. In der Neuen Nationalgalerie in Berlin sind nach der Wiedereröffnung im April 2021 von 132 mit Werken vertretenen Kunstproduzenten 22 Frauen, berichtet das Aktionsbündnis „fair share“. Mit 35 von insgesamt 250 gezeigten Arbeiten haben Frauen hier einen Anteil von mageren 14 Prozent.

Soweit einige Schlaglichter auf die soziale Lage. Dass Künstlerinnen heute viel sichtbarer, viel erfolgreicher sind als noch vor wenigen Jahrzehnten, liegt entscheidend an der starken Haltung der Frauen, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts allen Widerständen zum Trotz den Weg zum und durchs Künstlerinnen-Dasein geebnet haben. Carola Willbrand beschreibt solche Wege, schildert Pionierinnen der Kunst des 20.  Jahrhunderts in ihrem sehr persönlichen Buch mit dem Titel „Alle meine Künstlerinnen sind Superheldinnen“. Das vor kurzem erschienene schön gestaltete Werk mit ihrem Text zu Begegnungen mit 30 Frauen, die für ihre eigene Künstlerinnen-Biografie jeweils eine große Rolle spielen, entält auch frei aufgefasste Porträt-Zeichnungen Willbrands von vielen der Protagonistinnen.

Für Carola Willbrand begann der Kontakt zur Kunst mit ihrer Tante Käthe, eben der erwähnten Künstlerin Schmitz-Imhoff. Sie und ihre Bilder waren in der Kindheit präsent, sogar in Carolas Kinderzimmer: ein Gruselbild. Die Schwester ihres Vaters gehörte zu der Malerinnen-Generation, die sich in einer Zeit durchgesetzt hat, in der das noch die absolute Ausnahme war. Sie schlug den schwierigen Künstlerinnenweg ein und machte ihn damit auch für andere begehbar.

Käthe Schmitz-Imhoff war Vorbild, aber hat ihre Nichte nicht direkt unterstützt in ihrem eigenen Bemühen, Künstlerin zu werden. Bei gemeinsamen Atelier-Besuchen jedoch konnte Carola beeindruckende Künstlerinnen-Persönlichkeiten kennenlernen. So hatte sie die Chance, von Fifi Kreutzer (1891 – 1977) zu erfahren, dass Lernen und Ausprobieren der Beginn aller Kunst ist. Von Grete Schlegel (1897 – 1987) berichtet sie die Einsicht, dass man auch das an der Akademie Gelernte später als Ballast wieder abwerfen muss, um seinen eigenen künstlerischen Weg zu gehen. Marta Hegemann (1894 – 1970), Irmgart Wessel-Zumloh (1907 – 1980) und viele weitere Künstlerinnen treten auf und werden zu Superheldinnen – weil sie „ein anderes Leben verkörpert“ und zudem die Schrecken von Nazi- und Kriegszeit „mit ihrer Kunst überlebt“ haben, so Willbrand.

Die vielen Atelier-Kontakte in jungen Jahren waren prägend und nicht genug. Als junge Frau flog Carola Willbrand in die USA und nahm dort Kontakt zu Künstlerinnen auf. So lernte sie in New York Louise Bourgeois kennen, von der sie sich gegängelt fühlte, und Georgia O’Keeffe, mit der sie zwar kaum sprach, die sie aber auf der Ghost Ranch bei der Arbeit beobachten konnte. Manchmal teilt sich ganz Wichtiges nonverbal mit: „Dieser Anblick traf mich bis in die Eingeweide“, schreibt Willbrand, „diese Ausschließlichkeit Georgia O’Keeffe’s Künstlerinnen-Sein begleitet mich bis heute, weckte ein Vertrauen auf die eigene Kraft.“

Die beeindruckenden Begegnungen in ihrer Kindheit und Jugend „waren meine Ausbildung“. Zurück in Köln beginnt dann so richtig das Künstlerinnen-Leben und der Werkprozess von Carola Willbrand. Und so wie ihre Schilderung der Zeit mit Tante Käthe ein Stück rheinische Kunstgeschichte schreibt, ist das Folgende ein zentraler Teil Kölner Kunstgeschichte seit dem Ende der siebziger Jahre. Wichtige Künstlerkolleginnen für sie in der Zeit waren vor allem Krimhild Becker (1940 – 2010) und Marianne Tralau, zu der sie noch heute Kontakt hat.

„Superheldinnen“, je nachdem wie man das hört, kann es nach Comic klingen oder hochtrabend. Beides trifft es nicht. Carola Willbrand gelingt es, authentisch zu beschreiben (und eindrucksvoll zu bebildern), warum „ihre“ Künstlerinnen das Etikett verdient haben.

http://carolawillbrand.de

Kategorien
Apropos künstlerisches Denken

Auf Nietzsche wollte keiner hören

Eigentlich hatte Friedrich Nietzsche den Geniekult bereits 1878 erledigt. In seinem „Buch für freie Geister“ mit dem Titel „Menschliches Allzumenschliches“ gibt es im Kapitel „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“ einen Abschnitt (Nr. 162), der mit der „Kinderei der Vernunft“ kurz und klar aufräumt. Das Genie unter den Künstlern tut praktisch auch nichts anderes als zu formen, zu versuchen, zu lernen, so der Philosoph. Diesen Prozess unterschätzen die Kunstbetrachter und staunen das Fertige und seinen Schöpfer als vollkommen an. Aber, so Nietzsche: „Wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt.“

Die erfrischende Abkühlung ist gut gegen getrübten Blick. Und das ist wichtig, weil mit dem Unterschätzen des Werkprozesses, der künstlerischen Arbeit und damit der eigentlichen Leistung ein Überschätzen eines nur äußerlichen Status einhergeht. Dessen Klischees zufolge kommt das Werk nicht aus dem Ringen des Künstlers, aus seinem Denken, sondern aus Eingebung „von oben“ oder aus dem „wunderbaren Vermögen“ des Genies. „Kinderei der Vernunft“ eben.

Nietzsche bietet eine psychologische Erklärung dafür, warum seine Zeitgenossen so etwas gerne glauben: Sie wollen sich von den außergewöhnlichen Leistungen der Künstler nicht erniedrigt fühlen. Mit dem Göttlichen muss man nicht wetteifern, das entlastet. Und die Bewunderung, möchte ich ergänzen, hebt einen dann noch über die gewöhnlichen Menschen, die nix davon verstehen. 

Aber auf Nietzsche hörte, zumindest an dieser Stelle, kaum einer (und er selbst blieb später auch nicht bei seiner Geniekritik). Noch weit bis ins 20. Jahrhundert blieb der Geniekult in unterschiedlichen Varianten lebendig, genährt auch von Künstlern selber. Erst nach 1945 änderte sich das allmählich. Nun gab es immer mehr spannende Werkstattberichte statt fertiger Bewunderung. Ein schöner treffender Satz in diesem Zusammenhang ist der von Hans Platschek auf Kandinsky gemünzte: „Das Geistige in der Kunst kommt  aus der Hand.“

Nun wissen wir es also längst. Erstaunlich vor diesem Hintergrund ist die öffentliche Äußerung einer Kunstexpertin, Mitarbeiterin eines renommierten deutschen Museums, vom Oktober 2021. Sie hatte erwartet, dass Künstler*innen Götter und Göttinnen gleich sind, und musste mittlerweile lernen: Es sind auch Menschen, durchaus fehlbare, die hart um ihre Sache ringen. Der alte Mythos hält sich hartnäckig. Doch die Fachfrau hat den zitierten Gedankengang von Friedrich Nietzsche nachvollzogen (sicher ohne es zu wissen), 140 Jahre später.

Zum artigart-Thema „Das Rätsel künstlerischen Denkens“ gab es am 28. Oktober 2021 eine spannende Publikumsdiskussion in der Stadtbibliothek Siegburg. Damit begann die von der Bibliotheksleiterin, Christiane Bonse, initiierte Reihe „Kunst und Brot“ mit Rüdiger Kaun als Moderator und Jürgen Röhrig als Themenreferent. Sie wird im nächsten Jahr fortgesetzt.

Baumeister, Beuys und Bourdieu

Kategorien
Fragmente

Lob der Faulheit

Praktische künstlerische Kreativität erfordert „freie Arbeit, Denken, Assoziieren, Erleben, Schauen“ und: „äußere Faulheit“. Davon war Lu Märten überzeugt. Die feministische und sozialistische Kunstkritikerin (1879 – 1970) formulierte das so in ihrem wegweisenden Buch „Die Künstlerin“, das sie vor dem Ersten Weltkrieg schrieb und 1919 veröffentlichen konnte. „Faulheit“ dürfte ein Reizwort für die meisten Künstler*innen sein, denn Kunst macht ja bekanntlich viel Arbeit. Im Atelier geht es darum, von der Muse geküsst zu werden, und nicht von der Muße. Und diese Zuwendung läßt sich nur im emsigen Schaffen erreichen, nicht beim Chillen. Oder doch? James Suzman hält künstlerische Aktivitäten ja, wie im Blog-Kapitel „Kunst aus Langeweile?“ beschrieben, für einen „Zwitter aus Arbeit und Muße“. Da darf es sogar, meint er, auch Langeweile geben, aus der am Ende etwas entsteht. Aber deshalb ein Lob der Faulheit singen?

Gedankenschwer, aber tatenarm lässt sich keine Kunst machen. Was ist dann aber mit „äußerer Faulheit“ gemeint? Märten sah die gesellschaftliche Arbeit „in der Regie des Kapitals“ als absolutes Hindernis für „künstlerische oder Gehirntätigkeit“. Das galt vor allem für Frauen, die ihre tradierte Rolle in Küche und Kinderzimmer, Arbeiterinnen dazu noch in der Fabrik auszufüllen hatten. Als Künstlerinnen mussten sie sich davon frei machen, sich dem Produktions- und Verwertungsprozess entziehen. In dessen Logik also faul sein, um in künstlerischer Freiheit fleißig sein zu können. So wie es diejenigen bürgerlichen Künstler machten, die ein Vermögen im Rücken hatten.  Sollte diese Möglichkeit für alle gelten, brauchte es die Solidarität aller, vor allem die von Mann und Frau, darauf zielte Lu Märten.

Ein „Recht auf Faulheit“ in ganz ähnlichem Sinn hatte bereits Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, Ende des 19. Jahrhunderts eingefordert. Damals war das eine Spitze gegen den Kampf des Industrieproletariats für ein Recht auf Arbeit. Lafargue ging der Arbeitsethos, auch angesichts von unmenschlicher Kinderarbeit, entschieden zu weit. Dass in der künstlerischen Arbeit dagegen nicht andere die Ziele bestimmen, die Abläufe und die Zeiten, ist der fundamentale Unterschied. Und Lu Märten wollte mehr kreative, selbstbestimmte Zeit für alle. Dahinter steckte kein Lob der Faulheit, sondern eine humane Utopie. „Geniale Leistung“ brauche „Stille, dazu Schweigen, Intensität und Freiheit“.

Diese Art der „äußeren Faulheit“, meine ich, ist auch den heutigen Künstler*innen zu gönnen. Gerade weil es in der übrigen Arbeitswelt vielfach um effektive Ausbeutung von Kreativität geht. Die Unentwegten dort, immer im Dienst, brauchen ein „Demotivationstraining“, findet der Schriftsteller Guillaume Paoli. Sie sollen lernen, sich zu entbinden, von vorgefertigten Zielen und „gefälschten Motivationen“ Abstand zu nehmen. (Das sarkastische Lachen an dieser Stelle kommt von denen, die täglich um ihre Existenz kämpfen und derlei Thesen für elitären Luxus halten. Aber auch sie kennen im Zweifel Dinge, die sie weniger hassen als ihren prekären Job.) Der Befund, der hinter Paolis Ideen steht, markiert auch die Distanz zwischen bloß Kreativen und denen, die sich der Kunst widmen können – in emsiger Faulheit.   

Eine Geschichte der Bäume

Benoit Tremsal 2021. Repro: Jürgen Röhrig

Der Künstler Benoit Tremsal besucht Pablo Picasso, er zwinkert René Magritte zu und wundert sich über Marcel Duchamp. Er tanzt gar mit Egon Schiele und trocknet schließlich mit Salvador Dali. Selten habe ich witzigere Bildtitel gelesen als die zu der 23-teiligen Grafikserie „Eine Geschichte der Bäume“, die Benoit Tremsal 2021 geschaffen hat. „Playing with Gauguin“ oder „Passing at Gerhard Richter“ lauten weitere der überwiegend ironischen Etiketten, andere schlichter „van Gogh revisited“ und „Cézanne remix“. Dass die Blätter allesamt kunsthistorische Bezüge haben, wurde nun schon deutlich. Tremsal erzählt seine Version der Geschichte der Baum-Motive in der modernen Kunst von Caspar David Friedrich bis Albert Oehlen.

Das Augenzwinkern bleibt nicht auf die Texte beschränkt, auch die am PC entstandenen Bildcollagen begegnen den großen Vorbildern mit Humor. Am deutlichsten im Fall Duchamp, von dem es hier kein Baummotiv gibt, sondern einen Tremsal-Baum, der aus dem hölzernen Barhocker des Duchamp-Objekts „Fahrrad-Rad“ und dem umgedrehten Readymade des metallenen Flaschentrockners besteht: „Wondering about Duchamp“.

Die Baum-Motive entstammen einerseits bekannten Werken der zitierten Künstler und zeigen deren typische Stilmerkmale. Anderseits hat Tremsal seine Holzobjekte, die van-Gogh- und andere Bäume nachempfinden, hier neu ins Bild gesetzt. In jedem Fall werden die charakteristischen Stämme mit Linien umspielt, vor aquarellhafte Hintergründe montiert oder mit geometrischen Elementen konfrontiert, so dass vielschichtige Bildräume entstehen. Es sind Szenen gesteigerter Künstlichkeit, die sich ästhetisch sehr weit vom natürlichen Ursprung ihres Motivs entfernen.

Doch diese Entfernung war als Bewegung vorgezeichnet. Schon die Vorbilder zeigen keine naturalistischen Pflanzen. Bäume für sich sind hier kaum Thema, sind eher Symbol oder Struktur, meist Solitäre und keine Wälder. Nie sind Wurzeln zu sehen. Der Baum wird zum Ornament, und das Ornament zum Spielmaterial. 

Schauen wir auf das Vorbild, den Baum im Forst, dann zeigt sich das Spiel freilich als  marktwirtschaftlicher Ernst. Wenn der Harvester kommt und ruckzuck riesige Stämme in Kleinholz verwandelt, erscheint imaginär als Motto der Holzindustrie: „Nur ein toter Baum ist ein guter Baum“. Ein Teil der Stämme wird zu kleinen Spänen zerschreddert und mit Leim und mechanischer Hilfe zu Möbelholzplatten geformt. Beschichtet mit einer künstlichen Maserung bekommen die Bäume wieder Holzoptik. In dieser Geschichte der Bäume entsteht Ironie industriell. Und Benoit Tremsal treibt diesen Prozess weiter, treibt ihn auf die Spitze, wenn er die ausrangierten Spanplattenmöbel vom Sperrmüll rettet und wieder abstrahierte Bäume, seine Baumobjekte daraus baut. Baumsilhouetten à la van Gogh, Matisse, Mondrian… Tremsal initiiert einen künstlerischen Verwertungskreislauf, in dem es um die ästhetische wie ideelle Wertschätzung der Dinge, ihres Materials und ihres Formenpotentials geht.

Auch der Beuys-Baum mit Basaltstele fehlt nicht in der Grafikserie. Zu diesem Motiv hat unser Künstler einen besonderen Bezug. 1982 war Benoit Tremsal im Rahmen des Beuys-Projekts „7000 Eichen“ Baumbotschafter in Frankreich. Hier ging es tatsächlich um Pflanzen, um Bäume mit Wurzeln, die Städte verwalden sollten. Schon damals war ein Gespräch über Bäume, anders als zu Brechts Zeiten, kein Schweigen über Untaten mehr. Das Thema blieb immer aktuell, ist heute, wie wir wissen, aktueller denn je: Wie gehen wir mit der Natur um? Wie gehen wir mit den Menschen um? Zwei Formulierungen ein und derselben Frage. Die Bilder der Bäume in Tremsals Geschichte transportieren all dies im Untergrund mit. Sie zeigen aber vor allem, wie künstlerische Imagination sich behauptet, wie sie ihre eigenen Wege geht, sich das Material und die Formen nicht nehmen lässt, neu aneignet, wiederverwendet, eben ihre eigene Geschichte erzählt – und vor allem den Humor nicht verliert.

Benoit Tremsal 2021. Repro: Jürgen Röhrig