Ein Spielraum der Freiheit

Die Künstlerin, der Künstler, die Betrachter und auch die Kunstwerke haben ihren je eigenen Bewegungsraum. In diesen sich berührenden Sphären spielen sich die Prozesse der Kunstkommunikation ab, die gelingen können, soweit eben „Spielräume der Freiheit“ eröffnet und genutzt werden. Diese These möchte ich im Folgenden erläutern.

Wenn wir über Kunst sprechen, meinen wir ein kulturelles Phänomen, eine Institution, in der es um Artefakte geht. Beteiligte sind der Künstler (Autor) und Rezipienten, wobei unter letztere alle die verschiedenen Akteure subsumiert sind, die mit der Kunst auf ihre Weise umgehen. Der Autor ist frei in dem, was er tut. Der Rezipient ist frei darin, wie er ein Werk aufnimmt. Kunst ist das, worüber Konsens besteht, dass es Kunst ist. Sonst ist es Hobby, Design, Handwerk, Kitsch oder was immer. Diese Unterscheidung ist hier nicht als Rangfolge im Sinne der alten bildungsbürgerlichen Wertehierarchie gemeint, sondern wird als sachliche Unterscheidung von Arbeits- und Lebensbereichen beibehalten (in dem Bewusstsein, dass die Grenzen fließend sind). Das heißt, die Freiheit der Kunst wird auch als Kriterium dafür angesehen, dass die Kunst nicht als indifferenter Teil einer allumfassenden Ästhetisierung praktisch verschwindet. (Gerade das ist nicht nur ein Interesse der Freiheit, sondern auch der Käufer, die soziale Distinktion einhandeln wollen.) Gäbe es diese Freiheiten nicht, wäre das oben genannte Thema bereits erledigt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass es sie gibt – wobei Freiheit oder Autonomie immer vielfältig bedingt und eingeschränkt sind, wie im übrigen Leben -, können wir uns den Zusammenhang näher anschauen.

Spielraum als Metapher meint Bewegungsraum, Freiraum. Das Bild stammt aus der Mechanik, wo „etwas hat Spiel“ bedeutet, dass eine Bewegung ungehindert ablaufen kann, nichts ist zu eng oder zu fest geschraubt. Auf den Menschen übertragen heißt das: Er hat Raum, sich frei zu entfalten. Spielraum ist dann ein Synonym für Freiheit des Denkens und des Handelns.

Spiel als nicht ernste, nicht einem praktischen Zweck dienende Betätigung meint etwas anderes: Der Spieler probiert Rollen, Masken, Regeln; experimentiert mit Dingen; er kann sein Agieren vom Zufall bestimmen lassen und dem Glück eine Chance geben; er kann auf vielfältige Weise spielen, aber er kann jederzeit aus dem Spiel aussteigen. Für die Kunst indes ist dieser Spiel-Begriff problematisch. Viele Künstler werden ihn für ihre Arbeit ablehnen. Ihnen ist es ernst; sie empfinden ihre künstlerische Arbeit als existenziell, sie widmen ihr ihr Leben. Sie haben die Freiheit, Spielregeln eben nicht zu akzeptieren; sie dürfen Spielverderber sein. Das heißt nicht, dass es dabei keine spielerischen Haltungen und Methoden in Werkprozessen geben kann. Unberührt von diesen Überlegungen ist auch die große Tradition unterschiedlicher Spielbegriffe in der philosophischen Ästhetik, in der Kulturtheorie und speziell der Spielwissenschaft.

Aber um diese Aspekte soll es hier nicht gehen, zumal daraus kein für dieses Thema eindeutiger Spielbegriff zu gewinnen ist. Es geht vielmehr grundsätzlich um Handlungsfreiheit. Der Spielraum ist der, den die Freiheit zum Handeln innerhalb der Grenzen der Möglichkeiten hat.

Zu der Begrenztheit der subjektiven Möglichkeiten trägt auch die Widerständigkeit, partielle Unverfügbarkeit, das Eigenleben des Objekts bei, auch bereits im Prozess des Machens. Ästhetische Formen entwickeln sich nicht immer wie geplant, Unvorhergesehenes ereignet sich. Ein Werk kann in einem veränderten Kontext einen anderen Ausdruck annehmen. Für solche Erfahrungen stehen in den einschlägigen Debatten z.B. Begriffe wie „Eigenmächtigkeit der Ästhetik“ (Rauterberg) oder „Logik der Bilder“ (Böhm).  Sowohl für den Künstler wie den Betrachter muss das Werk nicht vollständig fassbar, in Sprache zu übersetzen und verständlich sein. Unverständlichkeit gehört in den Spielraum des Objekts. Das Werk kann seinem Schöpfer fremd gegenüber stehen. Wie sehr diese Distanz und die unmögliche Idee ihrer Überwindung Künstler umtreibt, wird vielleicht im Pygmalion-Mythos deutlich, auch in der Geschichte des Golem oder in neuer Zeit in Urs Widmers Erzählung „Indianersommer“, in der ein Betrachter in eine Bildszenerie steigt und dort auf den Maler trifft. Zur Distanz gehört auch das Gefühl: „Das Werk wird noch da sein, wenn ich nicht mehr bin“. In jedem Fall: Der Künstler muss sein Werk in die Freiheit der Sichtbarkeit entlassen.

Was für den subjektiven Spielraum aus Sicht der Anthropologie für alle Menschen gilt, hat für den Künstler eine besondere Bedeutung. Seine Handlungsfreiheit braucht und beansprucht einen besonders großen Spielraum. Künstler neigen dazu, auf der Suche nach dem Eigenen und dem Neuen Grenzen zu überschreiten und Regeln zu brechen. Der künstlerische Spielraum wird damit zum Raum der Freiheit. So schließt sich dieser Argumentationskreis: Ohne Freiheit keine Kunst. Aber ist damit nicht einem unterdrückten Künstler in einer Diktatur sein Künstlersein abgesprochen? Das wäre ein höchst unerwünschter Erfolg für die Diktatoren. Die Frage ist, welche Freiheit unterdrückte Kunst dennoch braucht  und haben kann. Der politisch verfolgte Künstler, der trotzdem ein Werk schafft (Ai Weiwei in China ist ein prominentes Beispiel), kämpft um den Spielraum, trotz aller Widerstände und Einengungen. Auch wenn sein Spielraum eingeschränkt wird, ist seine Anstrengung umgekehrt umso wichtiger, weil er das Existenzrecht – seines und das der Kunst überhaupt – verteidigt. Hier wird noch einmal deutlich, dass es nicht immer um ein Spiel geht. In diesem Spielraum ist es mitunter todernst.

Der Begriff Spielraum beschreibt die bedingte Freiheit, die relative Autonomie sehr gut. Die Kunst braucht, wie beschrieben, ein Mindestmaß an äußerer Freiheit, um entstehen und wirken zu können. Offenbar ist aber die Dimension des politischen Spielraums nicht allein maßgebend für die Qualität eines Werks. Die einfache Gleichung „Je größer der Spielraum, desto besser die Kunst“ geht nicht auf. Auch in repressiven Verhältnissen kann die Kraft der Imagination ihre Wirkung auf unterschiedliche Weise entfalten. „Das Vorstellungsvermögen bleibt auch in der Gefangenschaft frei“, lässt Imre Kertész die Hauptfigur in seinem „Roman eines Schicksallosen“ sagen; er ist Häftling im KZ Buchenwald, so wie seinerzeit der Schriftsteller. Die Möglichkeit, dass ein Mensch – und damit seine Freiheit – ganz vernichtet wird, ist leider immer gegenwärtig. Wesentlich aufgrund historischer Erfahrungen gibt es in der Bundesrepublik einen starken Schutz der Kunstfreiheit in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dieser Schutz darf auch nicht, wie bei anderen Grundrechten durchaus, durch ein Gesetz eingeschränkt werden. Politisch ist der Spielraum in Deutschland also sehr groß, im Unterschied zu vielen anderen Ländern. Die Künstler hierzulande sind rechtlich frei dazu, ihr eigensinniges  Werk zu schaffen. Die dafür notwendige innere Freiheit kann und muss jeder selbst entwickeln. Der innere Freiheitsdrang, die Kreativiät im Kopf und in der Hand, ist offensichtlich entscheidender als der Spielraum, den die äußeren Bedingungen gewähren. Zum mentalen Spielraum gehört notwendig auch die Fähigkeit zur Reflexion des Werkprozesses und zur Selbstkritik, die den Horizont offen hält für eine Weiterentwicklung.

Frei sein darf der Künstler darüberhinaus von allen Zumutungen: Er ermittelt nicht die Wahrheit, ist nicht zuständig für Schönheit, Verständlichkeit oder Repräsentativität. Er muss nicht den Betrachter in Atmosphären einüben oder therapieren, nicht politisch sein, nicht unpolitisch sein. Er darf sich für unzuständig halten, die Realität wiederzugeben, und er muss auch keine Gegenentwürfe liefern. Er hat das Recht, sich dem Anspruch zu widersetzen, bedeutsam zu sein oder innovativ. Er darf alle Ansprüche an ihn ignorieren und jegliche Indienstnahmen seiner Arbeit ablehnen. Er ist frei darin, das alles freiwillig zu tun, er darf aber immer seinem Eigensinn folgen. Noch vieles, was Philosophen, Pädagogen, Kunsthistoriker, Kritiker und Staatsbeamte dem Künstler auftragen wollen, ließe sich sammeln. Explizite und implizite Vorstellungen, was Kunst zu sein hat, finden sich in allen ihren Texten.  Und es gibt die vielen faszinierenden Beispiele  großer Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrer Eigensinnigkeit alle diese Zumutungen unterlaufen. Und, nicht zu vergessen: die unaufhebbare Schwierigkeit, ein komplexes Werk zu erfassen. Die Kunst ist jedenfalls der Igel, der dem Hasen des Betriebssystems oder anderer sozialer Zusammenhänge immer voraus sein kann. Wenn er es denn will und seinen Spielraum nutzt.

Was ist die Freiheit und die Verantwortung des Rezipienten? Wie in jeder Form der Kommunikation geht es auch in der Kunst um das Gelingen dieser Kommunikation. Das Werk, die Darstellung, der konkrete Auftritt, spricht zum Betrachter in unterschiedlicher und mehr oder weniger schwer verständlicher Weise. Selbst hermetische Werke sind zumindest an einen idealen Betrachter gerichtet. Gelingen heißt in der Kunst sicherlich etwas anderes als in der Alltagskommunikation. Wenn Kunstwerke ein offenes Sinnangebot machen, wenn das Verstehen ein letzlich unabschließbarer Prozess ist, dann ist auch das Ziel der Kommunikation in Bewegung und damit das Gelingen. Es geht demnach nicht einfach um ein harmonisierendes Ein-Verständnis. Irritationen können Teil des Prozesses sein, ebenso die Infragestellung der Kommunikation. Ästhetische Lust und Freude am Werk vor jeder verbalen Erklärung können zu den Grundlagen des Gelingens gehören so gut wie Kenntnisse und gedankliche Fähigkeiten.

So ist angedeutet, dass die Arbeit des Rezipienten anspruchsvoll sein kann. Sie ist ebenfalls schöpferisch (und muss nicht in allem den Intentionen des Künstlers folgen). Soweit der Betrachter das Gelingen der Kommunikation verantwortet, kommt es darauf an, dass er sich auf das Werk kritisch und selbstkritisch einlässt.

Klassische Kunst lässt sich in der Regel eher über die Betrachtung von Inhalt und Form erschließen als moderne, die narrative Inhalte auch verweigern kann. Sie folgt keinem Kanon, oft gibt es in der Darstellung Brüche, Fragmente und letztlich Sinnverweigerungen, die sich einer hermeneutischen Interpretation entziehen. Der Rezipient hat die doppelte Aufgabe, Kriterien des Verständnisses zu ermitteln und diese gleichzeitig in Frage zu stellen. Das verlangt nicht nur die rhetorische Struktur vieler Werke. Die Kritikfähigkeit ist auch Voraussetzung für die möglichst große Unabhängigkeit von (vermeintlichen) Autoritäten und Experten, die gerne ihre interessegeleiteten Sichtweisen absolut setzen, den unterschiedlichen Zwecken des Betriebssystems folgend. Davon darf sich der Betrachter frei machen, er hat die Möglichkeit, seinen eigenen Eindrücken und Empfindungen zu trauen und sich Wissen anzueignen, das ihn einem Verständnis und damit einem Gelingen der Kommunikation näher bringt. Er darf ein Angebot aber auch ablehnen. Wer sich nicht mit einem Werk befasst, kann logischerweise kein Urteil darüber bilden. In der Alltagspraxis sieht das mitunter anders aus: Hier herrscht dann oft die Sprache des Ressentiments und der Verunglimpfung. Eine sachliche Kritik und von Argumenten getragene Zurückweisung andererseits bleibt immer – soll das Freiheitsrecht der Kunst nicht beschädigt werden – ein Standpunkt in einer offenen Diskussion. Eine Zensur kann auch hier nicht stattfinden. Wenn Bilder aus öffentlichen Ausstellungen, ein Obelisk mit einer Inschrift von einem städtischen Platz oder ein Gedicht von einer Wand im öffentlichen Raum entfernt werden, weil es partielle Einwände bzw. Empfindlichkeiten dagegen gibt, wird auch die allgemeine und freie öffentliche Debatte darüber erschwert, wenn nicht ganz verhindert.

Das letzte Wort wird nicht gesprochen. Ästhetische Erfahrung und Kunstkommunikation sind offene Prozesse, prinzipiell ohne Ende, in denen der Spielraum der Freiheit ständig neu eröffnet wird.

Am konkreten Beispiel eines Kunstwerks – „13. 4. 1981“ von Olaf Metzel – möchte ich zeigen, welche Freiheit sich ein Künstler nimmt, wie sein Spielraum eingeschränkt wird, wie frei oder unfrei ein Publikum reagiert und wie eine Debatte über den Kunststatus geführt wird. Das Exempel deckt dabei viele, sicherlich nicht alle denkbaren Hinsichten und Kriterien ab.

Nach einer Demonstration am 13. 4. 1981 auf dem Kurfürstendamm fand der Berliner Künstler Olaf Metzel am Straßenrand eine Anhäufung rot-weißer Absperrgitter mit einem Einkaufswagen darauf vor. Er fotografierte dieses Objekt und machte später den Zufallsfund zum Ausgangspunkt seiner Arbeit für den öffentlichen Raum, eben auf dem Kurfürstendamm, mit dem Titel „13. 4. 1981“. Diese Plastik, 1987 aufgestellt im Rahmen des städtischen Projekts „Skulpturenboulevard“, erinnert in der repräsentativen Einkaufsmeile an die Proteste der Hausbesetzerszene  in einer Weise, die die Relikte der Demo gleichzeitig zitiert  und verfremdet. Metzel ließ Polizeiabsperrgitter, Einkaufswagen zum Transportieren von Wurfgeschossen, der Überlieferung nach Pflastersteine, und eben diese Steine in vergrößerter Dimension herstellen. Aus den rot-weißen Gittern konstruierte er einen 11,5 Meter hohen Turm mit waagerechten und senkrechten sowie dynamisch nach oben strebenden Linien. Unten liegen die (um ein Vielfaches vergrößerten) Steine, einer liegt oben im Einkaufswagen. Der Metzel-Turm lud erfolgreich nicht nur zum Betrachten, sondern auch zum darauf Klettern und Sitzen ein.

Der Künstler negierte den tradierten Ansatz der Möblierung des öffentlichen Raums durch  (Schmuck-) Kunst, die inhaltlich nichts mit ihrem Standort zu tun hat. Sein Werk ist nicht Beiwerk, sondern greift einen wunden Punkt der Stadtgeschichte, genau den Konfliktstoff des Ortes auf, an dem „13. 4. 1981“ installiert wurde. Damit unterschied sich die Plastik von allen anderen des Projekts, die eher der Dekoration der Stadt dienten (so beschrieben im „Kunstforum“ Nr. 84, S. 326). Zwar bezeichnet Metzel selbst seine Arbeit als Agieren auf der „verlängerten Spielwiese“, meint damit die Wirkungslosigkeit auch kritischer Kunst, doch eben diese „Verlängerung“ ist sein Freiraum. Er  gibt ein ästhetisch-politisches Statement ab, das sich dann als gar nicht so wirkungslos erweist. Das erinnert an den Beuysschen Gedanken, dass Kunst politisch wirken, dabei aber immer ästhetisch eine Sensation bieten soll – sonst wäre sie uninteressant.

Metzel holt die Plastik buchstäblich vom Sockel. Sein ironisch verfremdetes Zitat einer vorgefundenen Situation verweigert sich jeglichem Harmoniebedürfnis, der Aufhübschung durch Kunst. Vielmehr provoziert er den Konflikt neu. Dabei ist sein Werk formalästhetisch durchaus auch ein Genußangebot. Und es taugt zum Benutzen für eine Kletterpartie. Das Gerüst bietet Ausblick von oben, aber keinen Anlass für moralische Überhöhung.

Im öffentlichen Raum entfaltet sich am sichtbarsten ein Eigenleben des Werks. Wie das Objekt vom Publikum benutzt  wird, ist nicht planbar. Aber auch die Spannung zwischen ästhetischer Form (Anklang an Tatlins dynamischen Turm) und Lakonie des Alltagsmaterials ist ein lebendiger Prozess, der nicht still zu stellen ist.

Der Kultursenator als Auftraggeber hat das Werk ermöglicht und trotz aller Angriffe von Teilen des Publikums und der Boulevardpresse verteidigt; es blieb 1987 und auch noch im folgenden Jahr an seinem Ort. Den Mut zum Ankauf und zu einer dauerhaften Präsentation hatte die Stadt Berlin dann nicht. Hier endete für Metzel der Spielraum der äußeren Kunstfreiheit. Erst ein privater Käufer sorgte Jahre später dafür, daß das Werk auf seinem Gelände im Stadtraum wieder sichtbar wurde. Aber die Sicht auf „13. 4. 1981“ ist heute, räumlich wie inhaltlich, eingeschränkt. Metzels Plastik befindet sich im Exil – entschärft: Sie war für den Kurfürstendamm gemacht, nun wirkt sie wie ein Selbstzitat.

Soweit Reaktionen des Publikums in dem Buch „Olaf Metzel: 13. 4. 1981“ (München 2005) überliefert sind, zeugen sie nicht von freier Denkweise der Kommentatoren. Es sind mehr oder weniger aggressive Gesten der Verweigerung, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk und damit eine debattenfähige Argumentation nicht erlauben. Die Feindseligen reagieren reflexhaft auf das Signal, das Metzel setzt, und sparen sich das Nachdenken. Es gibt auch Aufrufe zum Mord – größer kann die innere Unfreiheit wohl nicht sein. Hierauf kann kein Angebot sachlich-inhaltlicher Diskussion antworten.  Die empörten Bürger vermeiden ihrerseits eine ästhetische oder kunstkritische Betrachtung. Sie  verlegen sich auf Scheinargumente wie „Kunst kommt von Können“, wobei unklar bleibt, was genau sie an der Plastik für nicht gekonnt halten, oder „Das wollen wir von unserem Steuergeld nicht bezahlen“. Das erste das bekannte Klischee ohne Aussagekraft, das zweite ein Missverständnis der Rolle des Steuerzahlers in einem demokratischen Staat.

Es wird außerdem den uninteressierten Teil des Publikums geben, und es wird diejenigen geben, die das Werk gut heißen. Letztere haben sich in der Debatte eher zurückgehalten. Schon 1987 ist die Minderzahl der reaktionären Wutbürger unverhältnismäßig laut, gerne auch anonym. Die Freiheit, die der Künstler sich nimmt, erzeugt bei ihnen Rachegelüste. Ein „Aktionskreis Kunst“ spricht sich aus für „absolute Freiheit der Kunst“, meint aber so etwas wie Vogelfreiheit; spricht von „demokratischen Rechten“, meint aber die Mobilisierung eines Mobs. Im Unterschied zu heute standen dafür noch keine „sozialen Netzwerke“ zur Verfügung. In den Augen solcher Wortführer ist wahre Kunst, im öffentlichen Raum oder überhaupt, bloßer Zierat, formschön und inhaltsleer, niemals ein Stein des Anstoßes. Ein Werk ist die staunenswerte artistische Leistung eines soliden Handwerkers. Wer das nicht liefert, ist demnach kein Künstler.

Etwas nicht als Kunst zu akzeptieren, ist legitim, aber hier geht es den Empörten letztlich darum, den Spielraum der Freiheit, und damit die Kunst überhaupt, nicht zu akzeptieren.

Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische?

Der Befund ist offensichtlich: Kunstausstellungen – ob documenta, Biennale oder im Museum – haben heute fast immer ein politisches Thema. Von vielen Kommentatoren wird das aktuell als beklagenswerter Zwang wahrgenommen. Man könne sich ohne politische Inhalte gar nicht mehr sehen lassen, sagen Kuratoren. Fördergelder seien oft an die Vorgabe gebunden, soziale Relevanz herzustellen. Häufig zu lesen ist auch die Kritik, dass die Politkunstwerke plakativ Inhalte verkünden und dabei keinem ästhetischen Anspruch mehr genügen. An einen berühmten Künstler wie Ai Weiwei werden keine höheren formalästhetischen Ansprüche gestellt als an eine NGO, meint Wolfgang Ullrich. Und die Kunst erzeuge dort medial die größte Aufmerksamkeit, „wo sie am wenigsten Kunst ist“, so Larissa Kikol. Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische, das ist die Frage.

Die Grenzen zwischen Polit-Aktivismus und freier Kunst verschwimmen zusehends – das Stichwort dafür lautet „Artivismus“. Es scheint geradezu, als sei die öffentliche politische Debatte zu einem erheblichen Teil in die Kunst ausgewandert. Und die verschafft sich dadurch neue gesellschaftliche Relevanz. Vor allem das Flüchtlingsthema ist präsent, aber auch grundsätzliche Kapitalismuskritik und die Klimadebatte. Diskurse, die in der offiziellen, institutionalisierten Politik stagnieren, haben so einen anderen Ort gefunden: Politik im Kunst-Exil. 

„Aktivistin trifft Passivistin“ lautete 2019 die Überschrift zu einem Artikel in der tageszeitung über das Zusammentreffen von Thunberg und Merkel beim UN-Klimagipfel, ein treffendes Schlaglicht auf unser Thema. Ein Zitat aus einem Text der Philosophin Rahel Jaeggi kann dies untermauern: „Tatsächlich grassiert die Entpolitisierung von Bereichen, die Bereiche gemeinsamen Handelns sein könnten; tatsächlich verfängt sich die Politik im Versuch verwaltungstechnischer oder marktförmiger Lösungen von Problemen, die sich so nicht lösen lassen werden“ (2008 in „Wie weiter mit Hannah Arendt?“). Und die eminent politisch denkende Künstlerin Hito Steyerl schrieb 2018: Weil „Macht heute eher ökonomisch als politisch kodiert zu sein scheint“, fühlten sich selbst diejenigen ohnmächtig, die politisch repräsentiert werden. In dieser Lage sind die Künstler oder Artivisten als Lieferanten politischer Statements gefragt, ja mehr noch: als Moderatoren, Sozialarbeiter und Gruppendynamiker (so beschrieb es der Kritiker Christoph Bartmann): Als „erweiterte Sozialpolitik qualifiziert sich die Kunst heute für Relevanz und Subventionen“. Und die Betrachter kommen zu den Artivisten oft nicht mehr um zu schauen, sondern um mitzumachen: Betriebsamkeit, so die vielfältige Klage, ersetzt das intensive ästhetische Erlebnis. Der hier von mir vertretene Ästhetikbegriff ist dagegen der: Kunst eröffnet einen Raum der Freiheit für sinnliche Erfahrungen, die das Selbst- und Weltverständnis verändern können, über die Notwendigkeiten der Natur und die kulturellen Zwecke hinaus. 

Wo aber bleibt das Ästhetische? Diese Frage stellt sich umso drängender, je mehr Politik mittels Kunst gemacht wird. Für Ai Weiwei zum Bespiel sind künstlerisches Schaffen und politisches Engagement identisch. Er erweitert das Konzept des Readymades und lässt oft einfach die Dinge sprechen: Rettungswesten von den Fluchtrouten des Mittelmeers, Eisenstäbe aus eingestürzten Gebäuden in China und anderes mehr. Das Flüchtlingsboot, das der Schweizer Künstler Christoph Büchel zur Biennale von Venedig 2019 dort an den Kanal gestellt hatte, spricht dieselbe Sprache. Verstanden wird sie, weil das Publikum den politischen Kontext kennt. Diese Sprache benötigt für ihren simplen Inhalt keine besondere Form. Ein Rätsel wäre die Form nur für den, der das Offensichtliche nicht versteht. 

Die Rettungsweste übrigens hat als Statement und Symbol eine besonders steile Karriere gemacht, die erst von der Pandemie 2020 gestoppt wurde. Es gibt nicht nur mehrere Künstler außer Weiwei, die die Weste für ihre Installationen benutzen, ihr Gebrauch verbindet auch nahtlos Artivisten mit Aktivisten, wie zum Beispiel die Verdi-Jugend auf einem Bundeskongress für die Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. Der Auftritt der Gewerkschafter in roten Rettungswesten ergab ein treffendes Bild für die ästhetische Ununterscheidbarkeit von politischer Kunst und Gesellschaftspolitik. Und für die Aufgabe jeglicher Originalität. Was dabei gewonnen werden soll, ist moralische Relevanz. Aber gibt es eine Kunst, die ästhetisch insignifikant und dennoch wichtig ist?

Diese Künstler benutzen die Materialien und Formen für ihre Konzepte so, als seien sie umstandslos verfügbar. Die Dingsymbole oder schlicht Signale bringen dabei ihre formalen Qualitäten, ihre Formästhetik nur zufällig ein. Folgt man an der Stelle den Überlegungen des Soziologen Hartmut Rosa, ist auf diese Weise keine wirkliche Resonanz möglich. Für ihn setzt eine produktive Resonanz voraus, dass sowohl Werk als Betrachter ihren Eigensinn ins Spiel bringen, ihre Unberechenbarkeit und partielle Unverfügbarkeit. Der Gedanke des „offenen Kunstwerks“ (Umberto Eco) kommt hier ins Spiel. Resonanz ist eben kein Kurzschluss, bei dem der Betrachter nur die Chance hat, eindeutig Vorgegebenes zu entziffern und nachzuvollziehen. 

Um die Autonomie oder Widerständigkeit und Eigensinn des Werks ist es in der aktuellen Politkunst oft so schlecht bestellt wie um den kreativen Interpretationsspielraum des Betrachters. Die Symbolik der Rettungsweste ist näher am historischen Agitprop als an differenzierten künstlerisch-politischen Positionen wie denen von Joseph Beuys (Stichwort Soziale Plastik) oder den kritisch-ästhetischen Konzepten von Hans Haacke. Wenn Wahrnehmung überhaupt, vor allem aber Kunstwahrnehmung kein simples Decodierungsverfahren ist, sondern kreatives Erleben, Ereignis, dann ist der Rezipient mit Agitprop schlicht unterfordert. Solche Angebote nehmen ihm die Chance, selbst Mitschöpfer zu sein, seine Phantasie und soziale Intelligenz ins Spiel zu bringen. 

Wenn Kunst also auf diese Weise nicht funktioniert, dann auch nicht ihr politischer Anspruch. Dass sie grundsätzlich nie im politikfreien Raum stattfindet, ist evident. Auch L’art pour l’art lässt sich in einen Kontext rücken, in dem sie politisch instrumentalisiert oder gar brisant wird. (In Diyarbakir ist jede Kunst politisch, sagte Övgü Gökce als Leiterin des dortigen Kunstzentrums.) Das lässt sich an zahlreichen Beispielen der Kunstgeschichte wie an aktuellen Werken ablesen. Für die Frage nach einer „Politischen Ästhetik“ ist aber über das Phänomen der Kontextualisierung hinaus die Diskussion des inneren Zusammenhangs wichtig, der zwischen Kunst und Politik besteht. Der lässt sich plausibel darstellen mit Hilfe des Denkens von Hannah Arendt, die das Politische und das Ästhetische im Begriff der Freiheit zusammenführte. 

Politisierung des Ästhetischen: Für Arendt ist Freiheit der Sinn von Politik. Das Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit ist ein Recht jedes Bürgers, ohne dessen aktive Wahrnehmung und freie Entfaltung Demokratie nicht gelebt werden kann. Spontaneität, einen Anfang setzen können, die Fähigkeit, die Dinge neu zu interpretieren, ist ein Merkmal politischen Verhaltens (und kann die etablierte Politik immens irritieren, siehe die Reaktionen auf das Video von Rezo). Urteilskraft, die von einem konkreten Standpunkt aus in das Gemeinwesen wirkt, ist eine grundlegend wichtige Fähigkeit im politischen Diskurs. Damit bezieht sich Arendt auf Kant, und sie versteht Urteilskraft wie Kant auch als unverzichtbar in ästhetischen Fragen: Mit ihrer Hilfe wird begründet über Geschmack gestritten. 

Die politische Freiheit ist Garant der Freiheit der Kunst. Und das Ästhetische wiederum, das keinem äußeren Maßstab folgt, sondern seinen eigenen setzt und sich alleine auf seine sinnliche Evidenz berufen kann, das Werk ebenso wie das Urteil darüber, liefert Arendt das Modell für das Politische. 

Künstlerisches Handeln unterscheidet Arendt, wie jedes Handeln, von Herstellen. Handwerk und Technik produzieren nach Plan, Kunst handelt frei – ein Werk setzt den neuen Anfang, es darf seine Strategie erst im Werkprozess entwickeln und offen bleiben für unterschiedliche Ansichten. Wenn es einen Resonanzraum eröffnet, ist es nicht eindeutig, nicht ideologisch – Ideologie nannte Arendt Flucht aus der Erfahrung. Die Frage ist hier, ob ästhetisch insignifikante Werke am Ende überhaupt politisch wirken können, da sie dem Betrachter keinen (Spiel-)Raum der Freiheit eröffnen. 

Meine Ansicht ist, dass erst das „offene Kunstwerk“, das nicht Mittel zum Zweck einer eindeutigen Botschaft ist, überhaupt eine politisch-ästhetische Erfahrung zulässt. Beim Signal „Flüchtlingsboot“ dagegen ist die Urteilskraft kaum gefragt, denn es geht nicht um das Boot, nicht um das Sehen, sondern sofort um das bereite Wissen. Den vielleicht moralisch ehrenwerten Effekt, den das Wrack zwischen den Luxusyachten auslöst, braucht die Kunst nicht. 

Wie ließe sich eine politisch-ästhetische Erfahrung anhand eines Kunstwerks beschreiben? Man könnte hier Beispiele der genannten Beuys und Haacke heranziehen oder, um Ai Weiwei gerecht zu werden, von ihm andere, anspruchsvollere Werke. Oder wir erinnern uns an die Plastik von Olaf Metzel „13.4.1981“, die nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen Asyl auf einem Privatgelände am Berliner Spreeufer gefunden hat. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Grundsätzlich ist mir als Summe wichtig: Die ästhetische Qualität und Autonomie (um das alte Wort noch einmal zu gebrauchen) ist nicht das Hindernis für soziale Relevanz, sondern im Gegenteil der Garant dafür. Hannah Arendt ging sogar noch weiter, dieses Zitat aus ihrem Vortrag „Freiheit und Politik“ stelle ich daher an den Schluss: „Ein Gemeinwesen, das nicht ein Erscheinungsraum für die unendlichen Variationen des Virtuosen ist, in denen Freiheit sich manifestiert, ist nicht politisch.“

Was ist Kunst?

Die Frage „Was ist Kunst?“ setzt voraus, dass der Fragende schon etwas mit dem Begriff Kunst verbindet. Er fragt nicht nach für ihn sinnlosen Buchstaben, sondern aufgrund bestimmter Konnotationen. Vermutlich dieser: Kunst ist materiell ein gestaltetes Objekt; eine Zeichnung, ein Gemälde, eine Fotografie, eine Skulptur, eine Plastik, eine Installation, ein Video, eine Performance. In der Konzeptkunst kann das Objekt auf einen Text reduziert sein. Es geht um Artefakte, die nicht ohne Zutun eines Autors in der Natur vorkommen. Natürliches Material kann aber zum Artefakt werden, ebenso wie kulturelle Gegenstände, die aus handwerklicher oder industrieller Produktion von Gebrauchsgütern stammen. Die Sichtbarkeit des Artefakts kann aufs Minimale reduziert, sie kann aber nicht völlig aufgehoben sein. Damit ist die Bildende Kunst von der Musik oder dem Hörspiel abgegrenzt, logischerweise auch von ihrer völligen Nicht-Existenz. Kurz: „Was ist Kunst?“ heißt: „Wann ist ein Artefakt Kunst?“.

Bei der Frage nach der Kunst geht es also um von Menschen geschaffene Artefakte. Es sind aber nicht alle solche auch Kunst. Der überwiegende Teil der Gegenstände in unserer Kultur beansprucht nicht, Kunst zu sein, und wird auch nicht als Kunst und Werk angesehen. Der kleinere Teil, dem dieser besondere Status zugesprochen wird, zeigt seinen Kunstwerkcharakter aber nicht (zwingend) in seinem Material, seiner Struktur oder Form; offenbar gibt es kein Wesen oder Wesentliches, das die Kunstwertigkeit beweist. Daher, heute wie vor 100 Jahren, die Irritation und Verunsicherung in großen Teilen des Publikums.

„Ich sehe es dem Objekt nicht an, warum es zur Kunst gehören soll. Also noch einmal: Was ist Kunst?“.

Die handwerklich überzeugend gemachten gegenständlichen Malereien des 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts so wie deren stilistische Nachfolger lösen diese Irritation nicht aus, weil das Publikum allein die technische Leistung und die illusionistische Suggestion überzeugt. Doch seitdem diese Kriterien nicht mehr die alleine gültigen sind, seitdem diese Werke wie alle absoluten Wertsetzungen in Frage gestellt sind, ist eine Neuorientierung nötig. Malewitschs schwarzes Quadrat, Duchamps Urinal „Fountain“ (1917), das gestische Informel, der streng reduzierte Minimalismus, aktuelle Formen freier Zeichnung u.v.a.: Künstlerische Haltungen und Arbeiten verunsichern vielfach, auf je eigene Weise. Das ließe sich im Einzelnen beschreiben. Vorläufig halte ich hier fest, dass diese Verunsicherung nichts Negatives sein muss, sondern notwendig ist und potenziell produktiv. Der fraglose Zustand der Autorität ist beendet. Die Frage „Was ist Kunst?“ wird damit geöffnet und kann offen gehalten werden. 

Aber das wird sie in der Regel nicht: Viele Instanzen im Kunstbetrieb beantworten die Frage durch eigene Setzungen, in ihrem jeweiligen Interesse. Sammler, Händler, Galeristen, Kuratoren, Museumsdirektoren und Kunsthistoriker, auch Kritiker, sie alle sagen, was Kunst ist. Es ist demnach das, was in den White Cubes, in Messekojen und in Auktionshallen zu sehen ist. Es ist das, was am Markt erfolgreich ist und hohe Preise erzielt. Es ist schließlich das, was in Veröffentlichungen präsentiert wird. Kunst ist eine Institution ist Institutionskunst. 

Ist diese Antwort auf die Ausgangsfrage auch richtig, so ist sie noch nicht ausreichend. Sie sagt etwas Wichtiges, markiert aber nur einen Zwischenstand. Halten wir fest: Werk-Betrachtung, und sei sie noch so intensiv, reicht nicht und gibt kein Kunst-Wesen preis. Es muss noch etwas dazu kommen: die Institution als soziale Instanz. Duchamp hat genau das bereits 1917 bewiesen. Andersherum könnte man ein technisches Massenprodukt einer ästhetischen Betrachtung unterziehen, die Qualität aufzeigen würde. Wie bei einem Kunstwerk. Doch deshalb ist es noch keines.

John Searle hat es zuletzt plausibel beschrieben in „Wie wir die soziale Welt machen“. Dazu gehört auch die Unterabteilung Kunst. Kunst als Institution beschrieben macht sie vergleichbar mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Regierung oder die Ehe. Grundsätzlich funktionieren diese Institutionen nur, wenn sie anerkannt werden, die Regierung von der Bevölkerung, die Ehe von den Partnern. Andernfalls verlieren sie ihre Legitimation und lösen sich auf. Institutionen beruhen auf vereinbarten Grundsätzen, ihre einzelnen Entscheidungen müssen verhandelt und, wenn sie gelten wollen, eben anerkannt werden. 

Wie verhält sich das in der Kunst? Eigener Erfahrung und vielen Beschreibungen zufolge, sollen die Vereinbarungen der Künstler und der Funktionäre (s.o.) ausreichen, um die Entscheidung darüber , was in die Institution zulässig gehört, zu legitimieren. Das große Publikum wird mit der Setzung konfrontiert, Zustimmung wird selbstverständlich akzeptiert, Ablehnung als Banausentum abgetan. Eine breite Diskussion darüber, was Kunst ist, was ihre Qualität sein könnte, findet nicht statt. Womit tatsächlich eine qualifizierte Debatte gemeint ist und nicht etwa eine Abstimmung mit Mehrheitsentscheid. Das gerade nicht. Was hier kritisiert wird ist, dass die Frage „Was ist Kunst?“ nur von einer Oligarchie der Eingeweihten und Shareholder beantwortet wird (wie im Feudalismus). Dadurch ist das unsichere Publikum entlastet: „Seht, das ist Kunst!“.

Damit ist die Frage für viele aber trotzdem nicht beantwortet. „Das soll Kunst sein? Ich verstehe das nicht.“ Die Kathedralen der Institution können nicht immer und alle überzeugen. Doch das war schon im Fall Duchamp so. Auf dieser anderen Ebene müssen wir die Frage neu stellen: „Was meint der, der fragt, was Kunst ist?“ Wer die Frage offen stellt, also nicht sagt: „Das soll Kunst sein? Das kann mein Hund“, so bloß polemisch Desinteresse zeigt; wer es wirklich wissen will, der hat ein berechtigtes Interesse, das ernst zu nehmen ist. Er stellt nämlich im Grunde eine künstlerische Frage.  

Diese Interessenten haben vielleicht vieles gesehen, was epigonal, schlecht gearbeitet, undurchdacht oder einfach Etikettenschwindel ist, und sie fragen zu Recht nach Kriterien, nach Qualität und kritischer Unterscheidung. Es geht hier um Teilhabe an der Institution, ein Anliegen, gegen das nichts einzuwenden, das aber gegen die Kunst-Oligarchen nicht leicht durchzusetzen ist. Den Fachleuten sollen ihre Aufgaben hier nicht streitig gemacht werden, ihre Expertise soll nicht missachtet werden. Es geht um Bildung und Mündigkeit, um Kunstkompetenz und die Chance, diskursiv entsprechend zu handeln. Das sind übrigens Ziele, die demokratisch legitimiert sind und keinem offiziellen Curriculum widersprechen.  

Auf dieser Ebene, die sich befreit und abgegrenzt hat sowohl von der Ignoranz als auch vom Machtdiktat der Kunstbetriebsfunktionäre, lässt sich die Ausgangsfrage in einem immer noch vorläufigen Schritt näher beantworten: Kunst ist ein Artefakt, von dem ich als Betrachter überzeugt bin in der Weise, dass ich ihm künstlerische Qualität zubillige.

Das Ich ist dabei, wie immer, nicht nur rational, sondern – und ganz wesentlich – auch emotional. Ebenso ist es nicht alleine, es orientiert sich an oder grenzt sich ab vom Wir. Größere Wirkung entfaltet Kunst, wenn sie eine Gruppe von Menschen ergreift. Aber ist die Kunst, sind die Künstler dann noch frei? Sind sie abhängig von der Zustimmung der Betrachter?

Die Kunst darf und kann frei sein, so wie auch die Kunstbetrachtung. Freiheit kann nur ungeteilt sein. Dass der Markt, die Institution die Freiheit der Künstler wie der Betrachter potenziell einengt (damit ist zu möglichen Vorzügen von Markt und Institution nichts gesagt), ist ein vielfach beklagtes Phänomen. Künstler setzen sich immer damit auseinander, wie sie ihre Arbeitskraft, ihre Phantasie vor manchen Mechanismen des Marktes schützen können. Betrachter sollten dazu auch kommen.

Erst aus der Freiheit, die in Sensibilität der Wahrnehmung und Informiertheit ihre Grundlagen zur Entfaltung hat, lässt sich die Frage „Was ist Kunst?“ auf eine wirklich produktive Weise stellen. Demnach: Kein falscher Respekt vor den Institutions-Instanzen, keine Scheu vor der eigenen Emotionalität. Wichtig ist dann die Geduld, das Interesse an der Kunst mit Information zu füttern. Mit dieser Haltung kann ich in jede Ausstellung gehen und erfahren, wie ich auf die Artefakte reagiere, mich fragen, warum das so ist und wie ich die Erfahrung mit beschreibbaren Kriterien von Qualität, mit Wissen über Künstler und Werk zusammenbringen kann. Dann ist die Frage nach der Kunst durchaus eine beantwortbare.