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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Baumeister, Beuys und Bourdieu

Ein Essay in acht Kapiteln

Kapitel 1

Künstler:innen denken auf rätselhafte Weise besonders, haben außergewöhnliche Fähigkeiten – laut einer tradierten und immer noch weit verbreiteten Ansicht. Wie sonst sollten sie ihre oft so ungewöhnlichen, zweckfreien und anrührenden Werke schaffen? Ihr Denken scheint geheimnisvoll – zumindest auf den ersten Blick. Das Gefühl, große Maler:innen oder Musiker:innen hätten Kontakt zu ungeahnten spirituellen Sphären, wird vielfach gepflegt, vielleicht, weil es über Bewunderung hinaus ein Bedürfnis nach Ehrfurcht bedient. Rätsel jedenfalls faszinieren. Das künstlerische Rätsel allerdings erzeugt bei manchen auch Ratlosigkeit. 

Paul Klee schrieb in den 1930er Jahren: „Die Kraft des Schöpferischen kann nicht genannt werden. Sie bleibt letzten Endes geheimnisvoll. (…) Wir sind selbst geladen von dieser Kraft bis in unsere feinsten Teile. Wir können ihr Wesen nicht aussprechen, aber wir können dem Quell entgegen gehen“ („Das bildnerische Denken“, S. 17). Nicht nur Kunstschaffende, auch Philosophen und andere behaupten bis heute die geheimnisvolle Kraft der Kunst.  Dieses immer noch virulente Mysterium darf entzaubert werden – was nicht heißt, die Kunst abzuwerten. Die Leistung der Künstler:innen ist ohne die Hilfe mysteriöser Kräfte und „höherer Wesen“ eher noch höher zu veranschlagen. Hier sollen auch keine Tricks entlarvt werden; es geht um eine geerdete, eine realistische Darstellung der Basis besonderer künstlerischer Fähigkeiten. 

Für die Aura des künstlerischen Denkens ist es wesentlich, dass die Schöpfer:innen etwas vor Augen stellen, etwas zeigen, und dies in der Regel nicht selbst noch einmal beschreiben, erklären, verbalisieren. Das sehen sie nicht nur nicht als ihre Aufgabe an,  sie setzen (mit den Worten von Gottfried Boehm) gerade auf die „Macht des Zeigens“, die sich niemals auf das Sagen reduzieren lasse. Eine interessante Rolle wird später im Text Joseph Beuys spielen, der die Kraft seiner visuellen Sprache immer mit der Kraft des Sagens, des Lehrens, gar des Kündens verbunden hat. Jedoch: Für Beuys waren erklärtermaßen die nicht zwingend sprachlich gebundenen Denkweisen Intuition, Inspiration und Imagination grundlegend. 

Für jeden, der künstlerische Praxis kennt und/oder Kunstwerke betrachtet, dürfte es zunächst einleuchtend sein, dass das, was sich nicht sagen lässt, dabei eine große Rolle spielt. Ohne eine unbewusste Kraft der Imagination ist weder das Gestalten noch das Erfassen von Kunst vorstellbar. Das hat – konkret auch bei Beuys – nichts mit übersinnlich-mystischen Vorstellungen zu tun. Es geht um die Sinne, die sinnliche Wahrnehmung als Basis, es geht um einen kreativen Bezug zur realen Welt. 

Die Aura des besonderen, geheimnisvollen, wenn nicht gar genialen schöpferischen Subjekts wird trotz aller Entmystifizierungsversuche auch heute noch dort kräftig genährt, wo es gilt, den Künstler-Habitus zu etablieren. Es geht um Status, Konkurrenz, um Markttauglichkeit. Dabei wird gerade nicht verraten, wie denn dieses spezielle Denken funktioniert, wie es sich von anderen Denkweisen unterscheidet, wenn es sich denn unterscheidet. 

Im Folgenden möchte ich versuchen, die Voraussetzungen künstlerischen Denkens zu beschreiben. Als passionierter Beobachter der Kunst und eigenhändiger Zeichner entspringt mein Interesse auch der Praxis, bzw. einer Praxistheorie. Wie denkt der Künstler, indem er etwas tut? Und auf welchen Bedingungen und Möglichkeiten beruht das? Es geht also nicht allein um Künstlertheorien (Was erklären die Macher:innen zu Sinn und Absicht ihrer Arbeiten?), auch wenn sich daraus Schlüsse auf Denkweisen ziehen lassen. Auch Theorien von Philosophen zur künstlerischen Arbeit (die meistens mit Forderungen verbunden sind, wie Kunst zu denken sei und zu sein habe) sollen hier nicht im Zentrum stehen. Grundsätzlicher interessiert mich, wie Gedankenströme fließen, wie sie initiiert und entwickelt werden, schließlich zum Ziel kommen. Das hört sich nach Kreativitätstheorie an, aber auch diese allein beantwortet die Ausgangsfrage nicht. Was in dieser Disziplin verhandelt wird, trifft längst nicht nur auf künstlerisches Denken zu.

Dieses lässt sich – wie jedes Denken – nicht von vorneherein auf bewusstes Überlegen begrenzen, im Gegenteil. Die Geschichte der Kunst(-theorie) ist voll von Beschreibungen unbewussten Denkens – ohne das auch der Mythos vom Schöpfertum nicht auskommt. Das Genie ist der Nachfahre der Götter, die die Künstler inspirierten. Nietzsche und Freud haben sich dann auf je eigene Weise Sorgen um den Wahnsinn oder den Traum als Quelle gemacht. Künstlerisches Denken zu entmystifizieren heißt also, den faktischen Kern dieser Legenden freizulegen. Was ist Inspiration, Intuition und Imagination in der schöpferischen Praxis?

Inspirierend für viele Forscher war Karl Polanyis Essay „Implizites Wissen“. Sein Diktum „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen“ wird in verschieden Disziplinen gerne zitiert, bei Psychologen, Pädagogen, Verhaltensbiologen und auch in den Kunstwissenschaften. Er machte deutlich, dass wir es beim Denken nicht allein mit sprachlich verfassten und formulierbaren Phänomenen zu tun haben. Künstler:innen wissen nicht immer bewusst, wie sie denken, und das ist, Polanyi und seinen Followern zufolge, auch ganz wichtig, weil sie ihre zunächst rätselhafte schöpferische Kraft gerade deswegen haben. 

Von einer anderen Seite, von der Soziologie her, gibt es einen Weg, der zu demselben Ziel führt: Pierre Bourdieus Untersuchungen zum „künstlerischen Feld“ und den damit verbundenen unbewussten „Dispositionen“, die den Künstler leiten, beziehen sich nicht auf Polanyi, kommen aber zu einem vergleichbaren Ergebnis. Das soll nicht über den Kopf der Praktiker hinweggehen, die schon früher wussten, dass sie mehr und anderes tun, als sie explizit wissen, dass sie mit unbewusster Kraft ans Werk gehen. Neben Klee hat das Willi Baumeister geschildert, in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“. 

Das bewusste Denken ist mit dem unbewussten eng verknüpft, wie genau, darüber gibt es verschiedene Vorstellungen. Das wird zu zeigen sein, ebenso, dass Denken sich auch und gerade für Künstler nicht nur im Kopf abspielt. Es geht natürlich wie immer nicht ohne Gehirn, aber „Das Gehirn ist nicht einsam“, wie ein Buchtitel aus dem Thinktank für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg lautet. Im Gegenteil sehen Forscher wie Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle eine „Resonanz zwischen Gehirn, Leib und Umwelt“. Auch wenn das genau maßgeschneidert auf eben den Leib des Künstlers klingt, bleibt die Aufgabe herauszufinden, wie sich ein spezifisch künstlerisches Denken daraus beschreiben läßt. 

Dabei können auch die Untersuchungen zu Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern  gute Hinweise geben, wie sie der Linguist George Lakoff und der Kunstphilosoph Mark Johnson in ihrem Buch „Leben in Metaphern“ schildern. Hierbei geht es um eine Präzisierung des Zusammenhangs bewusst-unbewusst – es gibt nicht nur den Weg vom Noch-nicht- oder Vor-Bewussten zum klaren Erkennen; metaphorische Konzepte können sich im Denken so etablieren, dass sie es steuern und dabei nicht mehr ins Bewusstsein treten. Die Metapher ist eine Grundstruktur der konstruktiven Wahrnehmung, des Denkens und der Imagination. 

Am Ende wird sich zeigen: Künstlerisches Denken nutzt die grundlegende Kraft der Imagination und entwirft neue metaphorische Konzepte. Dafür entwickeln Künstler:innen – nicht nur alleine im Atelier, auch in Kooperationen – ihre je eigenen Methoden. Was eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein spezifisch künstlerisches Denken ist, denn diese Kriterien lassen sich auf alle kreativen Prozesse beziehen. Deshalb müssen auch die Motive und Ziele des künstlerischen Handelns (Praxisdenkens), müssen Kontexte und sozialer Habitus mit betrachtet werden. Es geht nicht ohne Autonomie: Wirklich künstlerisches Denken eröffnet einen (Handlungs-) Raum ästhetischer Freiheit und initiiert sinnlich-geistige Erfahrungen, die das Welt- und Selbstverständnis sowohl der Macher als auch der Betrachter verändern können.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination