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Bildbetrachtung

Blicke, die nicht ins Programm passen

August Sander: „Mutter und Tochter“ (Ausschnitt)

Zwei sehr ernste Gesichter schauen den Betrachter an, so wie sie 1912 dem Fotografen August Sander in die Kamera geblickt haben. Der Ausdruck links angespannt, fast ängstlich; rechts eher resigniert. Die beiden Frauen aus dem Westerwald haben sich fein gemacht für das in ihrem Leben sicher außergewöhnliche Ereignis, ins Bild gebannt zu werden. Fein, was die Kleidung und den sparsamen Zierrat betrifft. Für den Friseur hat es nicht gereicht – keine Zeit, kein Geld? Reich werden die Porträtierten nicht gewesen sein; Gesichter und Hände sprechen von einem Leben mit harter, einfacher Arbeit. Sie posieren für Sander, es soll ein gutes Foto werden, aber sie scheinen sich unsicher, ob sie dem Anlass gewachsen sind. Ich habe hier einen Ausschnitt gewählt, der das Statuarische mildert und die am stärksten sprechenden Bereiche fokussiert.

„Mutter und Tochter, Bauern- und Bergmannsfrau“ lautet die Bildunterschrift. Keine Namen. Welche der beiden Frauen ist die ältere, welche die Bergmannsfrau? Dieser Unterschied spielte offenbar keine Rolle. Sander dachte über die Personen hinaus an Typen. Hier hatte er zwei Figuren für seine visuelle soziologische Recherche: So sehen sie aus, die einfachen Frauen vom Land. Individualität ist hier schwer auszumachen, aber entsprachen Mutter und Tochter wirklich dem Klischee? In jedes Foto drängt sich bekanntlich auch das, was nicht den Absichten der Bildgestaltung folgt. So könnte die distanzierte Skepsis der Frauen den ganzen Vorgang in Frage stellen. Niemand, der mit seinem Abbild Betrachter wirklich ansprechen will, darf so schauen. Keine Influencerin heute würde damit Followerinnen finden.

Wie hat der Fotograf mit seinen Modellen gesprochen? Wußten sie, dass es nicht um ihre Gefühle und inneren Ansichten – beim Fotografiertwerden wie überhaupt – ging, sondern um das „Antlitz der Zeit“, um ihre Rolle als typische „Menschen des 20. Jahrhunderts“? Wer einmal Menschen mit der Kamera porträtiert hat, dem wird vielleicht die Erfahrung nicht fremd sein, dass sich in einem Dialog während der Prozedur andere Haltungen ergeben, als die unserer Westerwälderinnen. Respekt und Neugier auf Individualität befördern Selbstbewusstsein. Davon sprechen diese „Antlitze“ nicht.

Sander ist dafür kritisiert worden, dass seine gestellten Posen dem Konzept folgen und nicht der Suche nach Individualität. Die Klischees, die er schildert, seien deshalb ästhetisch nicht überzeugend. Sympathie mit den Abgebildeten wurde ihm abgesprochen; er zwinge die Menschen in seine Bildidee, selbst wenn es sie lächerlich mache.

So sehr die beiden Gesichter von Distanz sprechen statt von Dialog, so bedeutet ihr Ernst doch auch, dass sie sich selbst ernst nehmen, weil ihr sorgenvolles Bauern- und Bergleuteleben gar nichts anderes zulässt – auch, wenn sie im Sonntagsstaat für den durchreisenden Fotografen posieren. Diese Blicke gehören zu den intensivsten und eindrucksvollsten in Sanders Porträtwerk. Sie durchschauen das Programm des Anlasses wohl nicht – sie schauen darüber hinaus. Und das ist doch am Ende ästhetisch gelungen.