Die Aura im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit

Endgültig widerlegt: Dieses Schicksal ereilte vor kurzem den berühmten, meist kurz „Kunstwerk-Aufsatz“ genannten Text von Walter Benjamin. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 1936 erstmals publiziert, ist wohl einer der meistzitierten Titel des 20. Jahrhunderts und taucht bis heute in kunsttheoretischen Schriften zuverlässig auf. Die Pointe kurz gefasst: Wenn ein Werk nicht mehr einmalig und damit echt ist, dann verliert es für den Betrachter seine Aura des Besonderen, Wert- und Weihevollen. Dieser Prozess begann mit der Entwicklung der Drucktechnik und nahm mit Fotografie und besonders dem Film an Fahrt auf. Massenproduktion, unlimitierte Wiederholbarkeit, das verändert die Wahrnehmung der Kunst und verhindert Unikat-Preise auf dem Markt.

Lassen wir es dahingestellt, dass Benjamins Analyse im Einzelnen diskussionswürdig ist und seine allgemeine Folgerung unrealistisch war, nun beginne insbesondere mit dem Avantgardefilm eine große politische Zukunft der Kunst, in der die Massen kritisches Bewusstsein zwangsläufig entwickeln und der Gebrauchswert den Tauschwert ersetze. Hollywood konnte darüber nur lachen – und Kasse machen. Gleichzeitig liquidierte Stalin den sowjetischen Avantgardefilm und damit den wichtigsten realen Baustein für Benjamins Utopie. Ein Trauerspiel. Aber eines war ja richtig an seiner Beobachtung: Mit wiederholbarer, technisch leicht und billig reproduzierbarer Kunst konnte man nicht so handeln, wie mit auratischen Unikaten. Künstler und Galeristen, Sammler und Händler mussten sich besonders für die Fotografie Strategien einfallen lassen, um so etwas wie Quasi-Originalität zu erzeugen, die höhere Preise legitimierte.

Bei Werken, die digital erzeugt und nur virtuell vorhanden sind, ist das kein kleineres Problem. Wie also herankommen, an die ungeheuren Investitionssummen, die auf dem Kunstfinanzmarkt bereit stehen? Die Lösung hat nun Mike Winkelmann alias Beeple vorgeführt: Der US-Digitalkünstler hat eine Fotocollage mit einer komplizierten digitalen Echtheitssignatur zum fälschungssicheren Original gemacht. Der Datensatz lässt sich natürlich reproduzieren, aber nicht die Signatur. Das ist, wie Benjamin sagen könnte, die neueste „Entwicklungstendenz der Kunst  unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“. Er hätte sich nicht träumen lassen, wie diese heute aussehen.

Die Aura wird nun also technisch produziert, was in diesem Fall bereits zu einem Verkaufserfolg führte: Das Beeple-Werk, an dem das Künstlichste wohl die Echtheit ist, erzielte einen Preis von 69,3 Millionen Dollar. Es gab einen Käufer, der wohl wusste, was er tat: einen Fonds, der sich auf zertifizierte Digitalkunstdateien spezialisiert hat. Kaum ein Medium ließ sich diese Sensation entgehen; wobei auffällt, dass der Inhalt, die mögliche Aussage der Bildcollage, keinen wirklich interessierte. So verblasst das Künstlerische neben dem Glanz des Technischen und des Geldes.

Nun weiß die breite Masse, das es so etwas gibt: Unikate auf der Festplatte. Und auch über deren Folgekosten wurde berichtet. Die Süddeutsche Zeitung schilderte am 24. März,  dass die komplizierte digitale Erzeugung und fortwährende Unterhaltung von Aura und Echtheit Unmengen von Rechnerkapazität und damit Strom verbraucht. So lernen wir mit Grausen: Diese Art „echter Kunst“ existiert nicht nur virtuell, sondern frisst ganz analog Energie und leistet einen wenig originellen Beitrag zur Klimakatastrophe. Kein Fortschritt, und deshalb gewinnbringend – da ist die Digitalkunst nicht einmal Avantgarde.