Die Sitzecke als Falle

So viel Widerspruch, wie ihn die Aussagen von Noemi Smolik bei mir hervorrufen, ist nicht gut zu übermitteln. Es ist halt alles falsch an ihren Thesen zur Kunst anlässlich der documenta 15, abgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kunstforum. Dieser Gegenstand der Kritik und eben meine Kritik drohen, in ein quantitatives Mißverhältnis zu geraten.

Lieber reagiere ich erst einmal angemessen: satirisch.

Gelesen habe ich, bei  der schätzenswerten Noemi Smolik also, das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa habe kuratiert, auf der d15 „nicht einzelne Kunstwerke“ zu zeigen, sondern weitere Kollektive eingeladen, um deren Aktivitäten zu diskutieren. Und deshalb begegne der Besucher in der Kasseler Ausstellung „überall vielen Sitzecken“. Jetzt wird’s gemütlich, dachte ich spontan erfreut, endlich muss ich der Kunst nicht gehend und stehend und gehend den Wegezoll entrichten. „Sitzecken“, das hätte Duchamp auch einfallen können. Obwohl – seine Fountain, nicht weit vom Sofa, ist ja auch durchaus praktisch.

Das will ich sehen, ganz klar. Aber deswegen ab nach Kassel? Nicht nötig, 15 Minuten von meinem Zuhause gibt es ein Möbelgeschäft. Mit Sitzecken, vielen, sogar Liegeecken. Meist sind die riesig und haben gedeckte Farben; viel seriöses Grau, etwas langweilig. Aber da steht auch ein quietschbunter Ecksitz, das gerade im Preis reduzierte Modell Lumbung aus Biobaumwolle mit Reisfüllung…

Darauf lässt sich bequem räsonnieren, auch über trockene Themen wie den „modernen Kunstbegriff“, den Expertin Smolik mal im Norden, mal im Westen ansiedelt. Aber eben nicht im Süden, woher der Kaffee kommt, den wir in der Sitzecke trinken, darauf kommt es an. „Der moderne Kunstbegriff“, sagt die Bonner Kunsthistorikerin, “ ist nur eine lokale Erscheinung. Aber vor allem in der Geschichte der Menschheit nur ein kurze Episode“. Denn das Ende sei nahe, das des Kunstbegriffs, nach dem ein „Individuum“, oh je, der „Künstler*in“, ein „autonomes Objekt“ erschaffe für „ein individuelles Betrachten“. Zwei Einsame, und dann auch noch ein autonomes Objekt, das ist wirklich hart. Ein Staubsaugerroboter fährt jetzt zwischen den Sitzecken herum.

Und dann will dieser nordwestliche Kunstbegriff auch noch auf der ganzen Welt gelten, dieser Kolonialist. Womit dann in Süd und Ost ganz andere Kunstbegriffe unterdrückt werden. Deswegen, sie hat es gesehen, laufen in Kassel Filme, die den Verlust der eigenen Lieder und Rituale betrauern, den Verlust der „kulturellen Identität“.

Die indonesischen Lieder und Rituale sind weg? Ja wenn… Sie sind jetzt alle auf youtube, zu sehen und zu hören; sie haben Millionen Klicks.

Genug der Albernheiten. Ich kappe diesen Faden meiner Erzählung und versuche, Haltung zu bewahren. Obwohl ich eben nicht verstehe, wie die zitierte Autorin, von der ich gute Texte kenne, ein solches Zerrbild des modernen Kunstverständnisses entwerfen kann. Der ursprünglich europäische Kunstbegriff, der tatsächlich längst so global ist wie der Kunstmarkt, war immer ein offener Begriff, immer vielfältig und veränderbar. Der Künstlerhabitus des einsamen Helden an der Staffelei war und ist zugleich Mittel der sozialen Positionierung, Marketing und Ziel der künstlerischen Kritik. Die Autonomie als Freiheitsbegriff ist nie zu denken ohne den gesellschaftlichen Hintergrund, ohne das soziale Feld. Doch bei alldem meint dieser Begriff die Möglichkeit, dass jeder seine Kunst machen kann – so wie er es für richtig hält.

Autonomiestreben verhindert Gemeinsamkeit keineswegs. Demokratische Kollektive haben Künstler schon im 18. Jahrhundert gegründet, die Engländer waren da Vorreiter. 1735 übrigens im Kulturkampf Insel gegen Kontinent, ein Vorläufer heutiger Debatten bereits am Beginn der Moderne. Und seitdem suchten unzählige Gruppen, Vereine, Kommunen usw. ihren kollektiven Sinn im Rahmen des modernen Kunstbegriffs. Kollektive galt es aber in der Geschichte oft auch zu überwinden, wenn sie diktatorisch auftraten.

„Partizipative Kunst“ wiederum meint im Fachjargon alles, was seit 1919 (als Duchamp seine Schwester einspannte, um ein Werk zu entwickeln) das Publikum einbezieht. Die Beispiele sind Legion, hier nur zwei: Joseph Beuys hat zu dem Thema gerade in Kassel seine Spuren hinterlassen. Und Gunter Demnig spannt aktuell weiter sein europaweites Netz unter Beteiligung tausender Menschen auf, die damit ihre kulturelle Identität entwickeln. Aber auch er ist ein individueller Künstler, mit Hut.

Die Künstler*innen aus dem globalen Süden, denen meine Solidarität gilt, haben die Chance, den modernen Kunstbegriff in ihrem Sinne zu entwickeln und zu verändern. Dabei wird dieses Paradigma auch ihre Kunst verändern, richtig. Gerade das kann zu etwas Gutem führen. Schließlich geht es ja um den Dialog der Kulturen, jedenfalls sollte es das.

Aber leider: Das meiste, was ich zum kuratorischen Selbstverständnis der documenta gelesen habe, führt in Sackgassen. So wie Noemi Smoliks Beitrag. Und das ist nicht lustig.