Entfaltete Bilder

152. Arbeit 2020; 36 x 528 cm; Aquarell. Foto: Wolfgang Grümer

Einen Leporello mit Zeichnungen von Hans Delfosse zu öffnen, das ist der Beginn des Eintauchens in eine geheimnisvolle Welt der Linien und Farbspuren, die sich nicht auf das übliche Blattformat beschränkt. Ein Kapitel des immerzu wachsenden Werks des Künstlers sind die von ihm selbst eingebundenen Faltbücher, die aus Unikat-Zeichnungen bestehen. Mein Exemplar ist eine vierteilige Ritzzeichnung von 1995. Weitere Leporellos entstanden und entstehen bis heute.

Die Technik der Ritzzeichnung hat Delfosse aus der Radierung entwickelt. Er färbt das Blatt mit schwarzer Ölfarbe ein und ritzt in diesen Grund mit der Radiernadel die feinen Linien.  Wenn das Papier, wie in diesem Fall, farbig ist, legt die Zeichnung Teile dieser Farbflächen frei. Unter den Schraffuren zeigt sich so eine weitere Bildebene, die zu den Feldern, Balken oder Kreisbögen im Vordergrund tritt. Die ungegenständlichen Bildräume lassen sich nun teilweise oder ganz entfalten. Es ist immer ein spannender Moment, wenn das 13 Zentimeter hohe Bild bis auf 125 Zentimeter Gesamtlänge wächst. Ein beeindruckendes Panorama.

Doch die Leporellos von Hans Delfosse haben eine weitere Besonderheit: Es sind eben nicht Serien von Einzelbildern, wie man sie üblicherweise von Leporellos erwartet. Die Zeichnung ist durchgestaltet; aus den Teilen ergibt sich ein Gesamtbild. Die Technik des Faltens und Entfaltens ermöglicht aber Varianten, je nachdem, wie ich Bildteile sichtbar mache oder verdeckt lasse. Die Zahl dieser Varianten hängt naturgemäß von der Zahl der Einzelblätter ab; bei einem ausgefaltet 528 Zentimeter messenden vielteiligen Werk (siehe Abbildung oben) bräuchte man schon eine mathematische Formel, um die maximale Anzahl möglicher Ansichten zu berechnen.

Schon bei der vierteiligen Arbeit in meiner Sammlung ist das Spiel faszinierend. Die Variabilitätsstrategie des Künstlers unterstreicht das grundsätzlich Offene, das Prozesshafte seines zeichnerisch-praktischen Denkens. Dazu gehört, dass der Betrachter selbst handeln kann, wenn er seine jeweilige Ansicht auswählt. Vor allem aber sprechen die Leporellos  von dem ästhetischen Erfindergeist und der künstlerischen Sensibilität des Zeichners, der das freie Spiel mit den handwerklichen Möglichkeiten und mit unterschiedlichen Materialien kontinuierlich vorantreibt. Nur aus der Beharrlichkeit des täglichen Schaffens im Atelier, die ihm ein elementares Bedürfnis ist, entsteht Neues, so hat Hans Delfosse es selbst einmal beschrieben, „wie auf einer immerwährenden Wanderung“.

Einer der Wege, die sich dabei öffnen, ist eben der des Leporellos, und ich entdecke darin eine eigenständige Variante im ohnehin eigen-sinnigen und umfangreichen Delfosseschen Werk. Wie kann einer eine solche Fülle von Bildern erfinden? Der Zeichner beherrscht sein Instrument, das Zusammenspiel von Auge und Hand, das Material – Aquarell, Acryl, Öl, verschiedene Papierqualitäten – und die Technik – Pinselzeichnung, Ritzzeichnung, Collage – und schließlich die Formen. Wobei jede Arbeit neue Herausforderungen stellt und neue Möglichkeiten eröffnet.

Die oft tief gestaffelten Bildräume können aus exakt begrenzten Feldern, offenen Liniengeflechten, Farbspuren oder -flecken und frei gestellten Lineaturen bestehen. Wenn Ordnungen aufscheinen – wie zum Beispiel senkrechte und waagerechte Parallelen, die an Gewebe erinnern -,  dann gibt es immer die Linien, die das Raster durchbrechen. Grundstrukturen scheinen vor allem dazu da zu sein, konterkariert und moduliert zu werden.

Die Imagination kommt aus dem Machen, das gilt grundsätzlich für die Arbeit von Hans Delfosse. Die Form des Leporellos gibt seinen Erfindungen besonders breiten Raum im wörtlichen Sinn; in diesen Panoramen können die Strukturen freier wachsen und sich mehr bewegen als auf dem Einzelblatt. Der Entwicklung dieser Linien und Formen zu folgen, ihren Verbindungen, Wendungen und Volten, ist der spannende Gang des Betrachters.

hans-delfosse.de

50. Arbeit 2013; 34 x 282 cm; 12 Aquarelle. Foto: Wolfgang Grümer