In Bunt und in Farbe

Karl-Theo Stammer: o.T., Linolschnitt

Aus Karl-Theo Stammers überaus umfangreichem Werk gibt es jetzt vom Künstler ausgewählte Beispiele in Nümbrecht im „Haus der Kunst“ zu sehen. „Liniengebilde“ hätte man die Schau überschreiben können. Das weist darauf hin, dass Stammer nichts abbildet – es sei denn Linien. Aber das, was er in der Welt an Lineaturen aufnimmt, ist ihm Anregung, um daraus Eigenes zu machen. Stammer ist ein Virtuose darin, ständig neue Strategien zu entwickeln, zeichnerische Strategien mit unorthodoxem Materialeinsatz, aus denen sich immer neue und nie gesehene Liniengebilde ergeben.

1951 im Rheinland, in Sinzig, geboren, lernte Karl-Theo Stammer schon als Kind Südtirol kennen, was biografisch deshalb von Belang ist, weil er seitdem zwei Heimaten hat: außer Bonn, wo er meistens lebt, ist das Bruneck im Pustertal. Und so ist sein künstlerischer Werdegang eng mit beiden Regionen verbunden: In Köln hat er Kunst formal studiert, in den Alpen hat er seine eigenen Studien betrieben.

Und das oft per Fahrrad. Stammer zieht seine Linien gerne im Gelände, Skizzenblock und Fotokamera im leichten Handgepäck. Er hat mir einmal von einer Tour von Bruneck nach Wien erzählt. Start um Mitternacht, 500 Kilometer in 14 Stunden – und nicht immer geht es bergab. Es wäre Stoff für eine Künstlerlegende, aber auch diese hätte einen wahren Kern: Was der Theo macht, macht er intensiv, voller Begeisterung und mit sportlichem Elan.

Deshalb fehlt die Kunde vom Rennrad fahrenden Künstler auch in keinem Katalogtext, den beeindruckte Kunst-Fachleute wie Dieter Ronte, Pauline Liesen oder Frank Seidel zu Stammers Werk geschrieben haben. Und das ist nicht das einzige Motiv aus der Künstlervita, das wie ein Refrain immer wieder auftaucht: Die anderen beiden sind Stammers Liebe zur klassischen Musik und sein Faible für den 1. FC Köln.

Stichwort intensiv: 2020, zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, entstand das umfangreiche Künstlerbuch „In the mood of Ludwig van“. Dazu tippte Stammer 250 Typografie-Zeichnungen mit einer alten mechanischen Schreibmaschine auf DIN-A-4-Blätter. Zum 500. Geburtstag wird das keiner mehr machen. Aber mehr als 500 Fotos aus Bruneck versammelte Stammer in seiner Bilder-Hommage an die zweite Heimat – ein Foliant. Und schließlich der Fußballverein: Auch ihm widmete der Künstler Bilder.

Energie und handwerkliche Disziplin darf man Karl-Theo Stammer nachsagen, sein Bewegungsdrang mündet in Schaffensdrang, seine Entdeckerfreude ist mit Lust am Spiel, am bildnerischen Spiel verbunden. „Nagelscherenschnitte“ wäre eine durchaus zutreffende Bezeichnung für die Technik der abstrakt ornamentalen Werke, die Stammer zwischen zwei Gläsern, also von beiden Seiten sichtbar präsentiert. Das wäre dann ein weiteres Erzählmotiv, das Katalogautoren lieben: Der Künstler schneidet die kleinen freien Flächen zwischen Linien von Bleistiftzeichnungen säuberlich mit der Nagelschere aus und erzeugt so lichtdurchwirkte filigrane Liniengebilde, die an die orientalischen Fensterschirme, die Maschrabiyya erinnern, die mit ihren geometrischen Ornamenten das Licht auf bestimmte Weise erscheinen lassen. Bei Stammer haben wir es indes mit frei aus der Hand gezeichneten organischen Formen zu tun, die mit der Schere freigelegt sind. Zitat: „Ich bin ein fanatischer Schneider“.

Damit sind wir bei der Technik des Linolschnitts, der sich Stammer ebenfalls eingehend gewidmet hat. Oft ist die freie Zeichnung mit farbigen Flächen konfrontiert. Der Dialog von strenger Form und lebendiger Linie ist hier das Thema, neben der Farbe – die hier noch regelrecht gebändigt wird, während sie in anderen Arbeiten förmlich explodiert: Bunte Liniencluster zeigen die neuesten Arbeiten, Zeichnungen mit Ölpastell von diesem Jahr 2023. „Dialog in Bunt und in Farbe“ hat Stammer diese Ausstellung wie eines seiner Bücher betitelt; es geht um die Übersteigerung von bunt.

Die Zeichnungen hier wirken wie gekonnte Mischungen aus Zufall und Absicht. Und die kalkulierte Mitwirkung des Zufalls zeigt sich oft in den verschiedenen Werkgruppen. Der Künstler experimentiert mit dem Material, zeichnet mit gebündelten Farbstiften, nutzt die Konturen irgendwelcher Gegenstände, Pappreste oder die freie Hand als Schablonen. Oder er unterlegt sein Zeichenblatt mit anderem Material, um Frottage-Effekte mit aufzunehmen: Linien-Gewebe und Flächenmuster in Variation.

„Er konnte schon in frühester Jugend einen perfekten Kreis zeichnen“, auch das ist ein beliebtes Versatzstück in historischen Künstlerlegenden. Aber was ist unpersönlicher als ein perfekter Kreis? Zugegeben, am Rennrad ist er wichtig. Aber nicht in der Kunst: „Mich fasziniert die Sinnlichkeit der Linien, ich will etwas ausdrücken“ hat Stammer mir bereits 2006 in den Block diktiert. Die großen Blätter mit Rötel und Kohle erfüllen diesen Anspruch. Allein angesichts der vielen sinnlichen, lebendigen und ausdrucksstarken Kreise und Kreissegmente in dieser Ausstellung lässt sich erahnen, was das Glück des Zeichners ist: Sehend Linien ziehen mit der Hand, immer andere, immer neue. Bis das Bild stimmt und das nächste beginnen kann.

kt-stammer.de

Die Ausstellung des Kunstvereins Nümbrecht wird am 5. März um 15 Uhr eröffnet und ist bis zum 26. März zu sehen.