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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Institution der Freiheit

Kapitel 7

Von einigen Bourdieu-Lesern wurde die Kritik geäußert, der Soziologe lasse – noch zu sehr im Strukturalismus verhaftet – dem Individuum zu wenig Raum für eigenständiges Denken und freies Handeln. Das Feld und der Habitus gelten da oft nur als Festlegungen, als determinierend. Bei genauem Hinsehen aber finden sich (in den „Regeln der Kunst“, in den Manet-Vorlesungen, im dokumentierten Gespräch mit dem Konzept-Künstler Hans Haacke) starke Aussagen zur subjektiven Freiheit, vor allem in Bezug auf das künstlerische Praxisdenken (zur Kritik an Bourdieu siehe das Kapitel „Kritik und blinde Flecken“ im Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich/ Boike Rehbein, S. 401 ff. Das Gespräch mit Haacke ist abgedruckt in dem Buch: Pierre Bourdieu/Hans Haacke: „Freier Austausch“). Immer ist die künstlerische Freiheit bei Bourdieu an die Struktur des Feldes und die Position des Akteurs darin gebunden. Mehr noch: Sie wird aus diesen erst erklärbar. Die Autonomie des künstlerischen Felds ist Garant subjektiver Autonomie. Schön paradox: Die Möglichkeit der Freiheit, so Bourdieu, zwingt sich jedem auf, der die Rolle des Künstlers ausfüllen will („Die Regeln der Kunst“, S. 225).

Im künstlerischen Feld sieht er die Positionen weniger festgelegt als in anderen sozialen Feldern, sie sind weniger an formale Voraussetzungen gebunden, dadurch auch unsicherer. Die strukturelle Offenheit, die Lücken im System begünstigen dessen Veränderung durch künstlerisches Handeln. Die Chancen „subjektiver Wahrnehmung“, „schöpferischer Macht“ oder wie Bourdieu den Eigensinn der Akteure immer auch nennt, hält er jedenfalls für institutionalisiert. 

Hintergrund dafür ist auch seine Ablehnung idealistischer Bewusstseinsphilosophie bzw. des (marketingtauglichen) Mythos vom genialen Schöpfer. Künstler verkörpern zwar „Institutionen der Freiheit“, aber die Bedingungen der Möglichkeit dazu liegen nicht im Subjekt: Es geht um die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit eines „Subjekts“ (ebd. S. 407 u. 332); das Feld erschafft den Schöpfer. 

Voraussetzung für einen Werkprozess in relativer Unabhängigkeit ist die „uneingeschränkte, affektive, emotionale Besetzung“ des Projekts (S. 139), demnach eine den Menschen in seiner Subjektivität fordernde Prämisse. Ausdrucksimpulse folgen körperlich verankerten Wahrnehmungsschemata; das implizite Wissen ist erworben, gehört zum Habitus. Das ist eine professionelle Arbeitsgrundlage, die entwicklungsfähig bleibt. Künstler:innen können dabei den Strukturen wie sich selbst gegenüber in reflexive Distanz treten, sprich: über ihr Denken und ihre Ziele im Praxisprozess nachdenken. Und ihr „Ausdrucksstreben“ (S. 16) kann alle Formvorgaben überformen. Bewusste Berechnung, Intentionen bauen darauf auf; Bourdieu führt das nicht aus, doch lässt sich schließen, daß er ihren Anteil am Prozess für variabel je nach Akteur und Kontext hält. 

Hans Haacke beweise, so Bourdieu, „daß ein Einzelner enorme Wirkungen erzielen kann“, bezogen auf die gesellschaftspolitischen Themen Haackes: „indem er sich dem Spiel verweigert, gegen die Regel verstößt“. Haacke sieht sich als Künstler in der Rolle eines Repräsentanten symbolischer Macht, eben weil er „Ausdrucksfreiheit“ in Anspruch nehme. Welches Denken ist damit praktisch verbunden? Bourdieus Hinweis ist, dass der Künstler Analysen aus der Strenge des Begriffs „in die Sphäre der Empfindung überträgt, wo die Sensibilität und die Gefühle hausen“. Das sei die spezifische Kompetenz des Künstlers („Freier Austausch“, S. 88, 10 u. 34).

Künstlerisches Denken zielt in dieser Praxistheorie der ästhetischen Ausdrucksfreiheit nicht auf Erkenntnis, auf eine Wahrheit, sondern zunächst auf die Erweiterung der Wahrnehmung. Der Weg geht von der Festlegung zur Öffnung des Blicks. Mit diesem Prozess ist sowohl bei der Künstler:in wie bei der Betrachter:in ein ästhetisches Urteilen verbunden, eine Fähigkeit, die selbständige Urteilskraft verlangt. „Urteilen und Entscheiden“ um der Gestaltung der gemeinsamen Welt willen ist bei Hannah Arendt eine Haltung „im Kulturellen und im Politischen. (Arendt: „Kultur und Politik“, in: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, S. 300). Die Philosophin ließ als einzigen Bereich der Herstellung von Dingen der Kultur (der Technik, der Fabrikation) die Kunst zu als freiheitsfähig gleich dem idealen politischen Handeln. Das war Jahre vor Bourdieus soziologischen Untersuchungen, die sich so auch als Bestätigung von Arendts Thesen lesen lassen. 

„Unabhängig von allen Zweck- und Funktionszusammenhängen“ sind Kunstwerke, die weniger dem Herstellen als dem freien Denken und Handeln entspringen, „in ihrem Sosein, in ihrer Qualität immer gegenwärtig“, setzt Arendt die im künstlerischen Feld produzierte Möglichkeit der Autonomie absolut. Ihre „Fähigkeit, von sich aus zu ergreifen“, verlieren Werke der Kunst, wenn sie als Tauschwert berechnet ihren kulturellen Wert einbüßen (ebd. S. 289 u. 278). Künstler:innen, so interpretiere ich Arendt, denken künstlerisch nicht mit Blick auf den Markt. Das Feld ist eben, so schildert es Bourdieu, gegen den Markt und seine Ent-Wertung der Kunst entwickelt worden – von Akteuren einer sozialen Klasse, wie eben Manet, die sich „Ausdrucksfreiheit“ leisten konnte. Fragen der sozialen und ökonomischen Zugangsbeschränkung stellen sich nach wie vor, auch wenn es prinzipiell jedem freisteht, das Erbe jener Akteure anzutreten.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination