Kapitel 5
Was Joseph Beuys über das künstlerische Denken gedacht und geäußert hat, erscheint vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten als erstaunlich aktuell. Seine Denk- und Arbeitshaltung ist als Beispiel für die hier grundsätzlich in Frage stehende gut geeignet – auch, weil Beuys sein Praxisdenken ständig reflektiert und erläutert hat. Er hat klar gesehen, dass ästhetische Werke aus implizitem Wissen hervorgehen. Beuys nannte es erweiterte Erkenntnis, über das Rationale hinaus. Und er traute der Kunst zu (und verlangte es seinem Werk ab), die „Sinnesorganisation so zu bearbeiten“, dass der Mensch „mehr Welt wahrnimmt“ (zit. n. Tobia Bezzola in: „Beuysnobiscum“, S. 140). Das Unbewusste, die Intuition zu einem genuin künstlerischen Organ zu entwickeln, ging Beuys methodisch an. Für ihn war Inspiration das Gefühl, dem der Künstler Raum geben muss, die Offenheit für zufällige oder geplante Begegnungen, die dem aktiven Sehen (Inspiration ist kein passives Vermögen, wie oft behauptet wird) Stoff geben für spontane Ideen. Imagination kommt, so Beuys, aus dem Leib, es ist Vorstellungs- oder Einbildungskraft. Wir haben bei Lakoff und Johnson gesehen, wie bildhaft anschauliches Denken in metaphorische Konzepte mündet, die auf inkorporierten Erfahrungen, Erinnerungen gründen, die aber auch gestaltet werden können. Imagination ist ein grundsätzlich aktives Vermögen.
All dies mündet für Beuys in kreativer Intuition. Da dieses Wollen das (in keinem Fall etwa abzulehnende) analytische Denken, die Logik übersteigt – oder unterfüttert mit Gefühl und Einbildungskraft –, ist es einerseits nicht instrumentalisierbar, kaum zu kontrollieren, ist damit andererseits die Quelle für neue Erkenntnisse, für eine ästhetische Erweiterung. Wenn Beuys auch davon ausging, dass die Kraft der Intuition nicht vermittelbar ist, hielt er sie dennoch für provozierbar. Das machte sein künstlerisches Praxisdenken aus: Er entwickelte Methoden, mit Materialien, deren gefühlten Energien und Kräften in Kontakt zu treten; er erkundete Lebensprozesse, ebenso kulturelle Praktiken wie Rituale und Meditation. Immer mit dem Ziel, die Grenzen des herrschenden zivilisatorischen und kulturellen Bewusstseins zu durchbrechen, die Einengungen des instrumentellen Denkens aufzuheben (vgl. Bezzola ebd. S. 199ff.). In Steinerscher Diktion sprach Beuys in doppelter Bedeutung von „leibschöpferischen Kräften“: das Geistig-Seelische entwickelt sich aus dem Leib, wie umgekehrt das Geistig-Seelische den Leib gestaltet (Joseph Beuys: „Mysterien für alle“, S. 45 u. 177). Beuys’ Körperdenken ist gelenkiger, als das aufs Gehirn eingeschränkte: „Ich denke sowieso mit dem Knie“, einer der bekanntesten Beuys-Aphorismen von einer Kunstpostkarte, erklärt sich genau daraus.
Exemplarisch für das assoziativ-provokative Denken in diesem Sinne ist die Aktion „Titus Andronicus/Iphigenie“ von 1969: Beuys agiert auf der Bühne auf verschiedene Weise mit Material und einem lebenden Pferd, dazu sind Texte von Shakespeare und Goethe zu hören. „Formal ist der Bedeutungszusammenhang zwischen diesen drei Aktionskomponenten nicht erkennbar, jedoch wird intuitiv erfaßt – und darauf kommt es Beuys an –, dass hier anhand heterogen erscheinender Bedeutungsfelder eine Verbindung erzielt werden kann, die sich außerhalb vordergründiger Evidenz in einer Ebene der Imagination herstellt“: Beuys möchte „im Unterbewußtsein vorhandene Residuen aufbrechen“ und ästhetisch einen „chaotisch lösenden Vorgang“ initiieren. Seine „Kunst bietet nur Form“, die „Sinnesorgane stimuliert“ (Götz Adriani et. al.: „Joseph Beuys“, S. 4, 47 u. 105).
Wie kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat Beuys das (intuitive und rationale) Denken selbst zum Inhalt des künstlerischen Prozesses gemacht. Metaphorisch fasste er diese Praxis als erweiterte Form der Bildhauerei auf: „Denken ist Plastik“ nannte er das Konzept. Der räumlichen Vorstellung dahinter widerspricht nicht, dass er oft mit Diagrammen, Tafelbildern und Tabellen gearbeitet hat, die geschriebene Worte und gezeichnete Linien verbanden. Die Fläche dieser Visualisierungen stand für den abstrakten Raum – „eine Form von Räumlichkeit, in der Materialität und Idealität, das Anschauliche und das Denkbare sich mit einander verschränken: Hand, Auge und Geist können auf dieser diagrammatisch erzeugten Fläche zusammenarbeiten“, schreibt die Philosophin Sybille Krämer (in: Bromand/Kreis (Hg.): „Was sich nicht sagen lässt“, S. 180. Die Autorin bezieht ihre Aussage nicht speziell auf Beuys). Dabei entstehen materielle Spuren/Manifestationen des künstlerischen Denkprozesses, in einer Verbindung von Zeigen und Sagen (vgl. ebd. S. 186). Diese Zeichnungen sind oft Ergebnisse von Aktionen. Die Arbeiten vereinen in unterschiedlichen Anteilen Schrift; Linien, die den Text verdeutlichen (Pfeile, Verbindungen, Unterstreichungen, Einkreisung von Worten etc.); freie Linien, Schraffuren, Raumlinien, gestische Linien (Energie, Bewegung); geometrische Elemente; figürliche Elemente (Silhouetten von Mensch, Sonne, usw.); Symbole und Piktogramme. Auch Material collagierte Beuys mitunter in solche Bilder, so bei „Aktion im magnetischen Raum“ 1964 (im Katalog „Zeichnungen“, S. 179).
Diese Methode, die einem in der Neurobiologie behaupteten Entweder-oder von Kreativität und methodischer Rationalität (so z.B. Kandel in „Das Zeitalter der Erkenntnis“, S. 553) im Denken widerspricht, setzt intuitiv auf einen Effekt, der unter dem Begriff Emergenz auch in der Metapherntheorie eine Rolle spielt: In einem Denkprozess entsteht durch das Zusammentreffen verschiedener Inhalte etwas Neues, dessen Eigenschaften sich nicht in den Ursprungselementen finden. Emergenz übrigens kann als starkes Indiz dafür gelten, dass es geistige Phänomene gibt, die nicht biochemisch determiniert sind.
Für Beuys war es wichtig, und das ist es auch für meine Überlegungen, dass „Gefühl und Empfindung allein“ nicht zum Kunstwerk führen: Das ergäbe „ein diffuses, sentimentales Resultat ohne geistige Gestaltung“. Jeder Gestaltungsprozess, jeder Denkvorgang bedürfe einer ordnenden Form. „Die Form organisch lebendig zu erhalten, in ihr den Energiezusammenhang unmittelbar aufzuzeigen, ist nur möglich, wenn sie die Kraft des ursprünglich chaotischen Impulses ebenso enthält wie die kreativ prozessuale Einbindung des Empfindens“ (Bernd Klüser in: Joseph Beuys: „Zeichnungen“, S. 78 u. 79). Die Bewegung zwischen Wärmepol und Kältepol (in Beuys’ Terminologie), ein Prozess in Interaktion mit dem Betrachter, gilt als Kernelement der Plastischen Theorie.
Die gestaltende Kraft der Intuition formt das Werk, bildet den Künstler und wirkt in die Gesellschaft – das Stichwort dazu lautet „Soziale Plastik“. Kunst im nach Beuys „erweiterten Sinne“ ist, so schreibt Harald Szeemann, „keine systemkonforme Aktivität, deshalb ist sie für Beuys >die einzige revolutionäre Kraft. Das heisst, nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich die Verhältnisse ändern<“ (Harald Szeemann in: „Beuysnobiscum“, S. 176). Beuys’ Kurzformel dafür war: „Kunst gleich Kreativität gleich menschliche Freiheit“ (zit. n. Adriani et. al., S. 119).
Beuys hatte eine gesellschaftliche Entwicklung diagnostiziert (und davon sein künstlerisches Denken abgesetzt), die sich seitdem nicht grundlegend geändert hat – und deshalb auch heute nicht nur von Künstlern in ihrer Praxis kritisiert wird. „Reichtum des Verstandes und Armut der Sinne sind zwei Seiten desselben Zivilisationsprozesses“, so reformulierte der Sozialphilosoph Oskar Negt das Problem und folgerte: „Dadurch, daß die Sinne blind bleiben, hat auch der Verstand seine Sehkraft verloren“ („Der politische Mensch“, S. 303 u. 359). Was heißt „Bildung der Sinne“ in einer zunehmend unsinnlichen (oder medial verkürzt sinnlichen), hochtechnisierten Alltagsumwelt?, fragt Negt. Es kann nur darum gehen, die „Sehkraft“ von Sinnen und Verstand, die oben beschriebene Kraft der Imagination und der Intuition also, zu stärken – ein Praxisdenken dazu hat Beuys exemplarisch entwickelt und in Werkprozessen realisiert. Die Bildung der Sinne und des Geschmacks sind Elemente der Entwicklung von Urteilskraft. Das reflektierte Unterscheidungsvermögen, das dem je Besonderen seinen Eigen-Sinn lässt, ist Voraussetzung auch für politische Urteilsfähigkeit. Wirklich künstlerisches Denken ist demnach nie unpolitisch.