Katalog der schlummernden Ideen

Benoit Tremsals Imaginäres Museum

„Stairway to a disaster“, konzipiert für ein Projekt im Massif du Sancy in Frankreich 2010. © Benoit Tremsal

Im Salon des refusés waren die von der Jury für die offizielle Ausstellung nicht akzeptierten Werke zu sehen, 1863 in Paris – damals ahnte dort niemand, daß zu den Zurückgewiesenen Bilder gehörten, die später zu Stars der Moderne avancierten. Zu den „Refusés“ zu gehören heißt also nicht, keine Qualität und keine Zukunft zu haben. Das gilt auch für die Werkkonzepte, die in dem Bildband „Refusés und andere Sackgassen. Katalog der nicht realisierten Projekte 1992 bis 2018“ von Benoit Tremsal vorgestellt werden. Es sind oft Zufälle und äußere Umstände, die ein Projekt zunächst an der Realisierung hindern. Die Ideen und Pläne, die zum Teil umfangreichen Vorarbeiten für ein Werk im öffentlichen Raum, sind es daher wert, nicht gänzlich in der Schublade zu verschwinden. 

Der vielseitige Bildhauer und Objektkünstler Benoit Tremsal hat 78 Projekte aus den Jahren 1992 bis 2018 dokumentiert, die er für Wettbewerbe, Ausstellungen, Symposien, Kunstpreise etc. in verschiedenen Ländern erarbeitet und eingereicht hat und die nicht realisiert wurden. Aus den unterschiedlichsten Gründen – mal gewannen andere, mal fehlte den Auslobern am Ende das Geld, mal gab es gar keine Begründung oder die Organisation versagte schlicht (das kurioseste Beispiel dafür ist der Fall in Salins les Bains, wo Tremsal auf Einladung eines Kunstvereins ein Werk gestalten sollte, der Bürgermeister ihm einen Ort dafür zuwies, aber das Ordnungsamt während der Realisation einschritt und dem Künstler die Arbeit dort verbot.) Künstlerische Aktion im öffentlichen Raum ist immer auch ein soziales Experiment, und so fließen in diesen Katalog nicht nur die Dokumente, Erläuterungen, Fotos und Skizzen zu den Projekten ein, sondern oft auch die Erfahrungen, die Tremsal in den vorbereitenden Arbeitsprozessen machte. Die gehören mit zum Werk.

Um die Kunst aus ihrem Schlummerzustand im Archiv zu wecken, wählte der Künstler eine Form, die an die historischen Whole-Earth-Catalogs erinnert. Diese wild layouteten Druckwerke aus der Zeit um 1970 waren Lebenshilfe für die Alternativbewegungen; man fand darin Angebote für alles, was der umweltbewusste Aussteiger brauchte. Oder wovon er träumte. Die Kapitel sind verschränkt, fließen ineinander, das Auge kommt kaum zur Ruhe – diese Form vermittelt inspirierend Bewegung an Stelle von statischer Ordnung. Das entspricht dem utopischen Moment der Refusés, dem Impuls des Künstlers, sie nicht in der oder jenen Sackgasse endgültig zu parken. 

So entstand das Imaginäre Museum der 78 Konzepte, die aus der Zurückweisung auch eine Kraft für die Gegenbewegung geschöpft haben. Den Begriff des Imaginären Museums prägte André Malraux Ende der 1940er Jahre als Reaktion auf die zunehmende Verbreitung von Fotos: Der Bildband ersetzt die Präsentation der realen Werke. Was damals durchaus kulturkritische Fragen aufwarf,  wendet Tremsal hier ins Produktive: Der Katalog ist ein konzeptuelles Museum.  

Die Bandbreite der Formen und Themen der Refusés ist beeindruckend. Tremsal geht bei seinen Projekten in der Regel vom Prinzip der ästhetischen Intervention aus. Die Entscheidung über Materialien und Inhalte erwächst aus der je konkreten Situation, dem Ort des Werks und seinen Bedingungen. Von ihm läßt Tremsal sich inspirieren, seinen ästhetischen Zustand und seine historische Bedeutung (was auch Alltagsgeschichte meint) nimmt er auf. Die dann folgende detaillierte und rationale Planung gießt die Ideen in eine Methode, bringt sie in Form.  

Gut ein Drittel der 78 Werke sind Landschaftsveränderungen oder Eingriffe in vorgegebene architektonische oder gärtnerische Situationen durch Bodenplastiken. Arbeiten wie „Erdzunge“ und „Erhobenes Dreieck“ zeigen, dass das Prinzip in der freien Landschaft wie im Stadtraum funktioniert. Das Material ist jeweils der vorgefundene Boden. Dreieckige Einschnitte ins Terrain werden, so der Eindruck, nach oben geklappt, und es mutet an, „als hätte ein Riese“ sich hier betätigt, schildert Tremsal. Unterstützt von Stahl und Beton weist das Wiesenstück spitz in die Höhe, ähnlich der Ausschnitt des Betonbelags einer Fußgängerzone. Die Irritation beim Betrachter entsteht gerade dadurch, dass keine Fremdkörper an den Ort gesetzt, sondern der Ort selbst verfremdet wird. Die Fläche wie die Perspektive des Betrachters werden aus dem Gleichgewicht gebracht, die veränderten Koordinaten lassen auch die unveränderte Umgebung in anderer Sichtweise erscheinen: Sensibilisieren der Wahrnehmung. Eine Variante dieser Konzepte ist die Abformung vorhandener plastischer Zustände. So bei der Arbeit „Trichter“, einem Eingriff in das Gelände eines Münchner Rangierbahnhofs. Drei Bombentrichter fasst Tremsal als Negativformen auf und gibt ihnen positive Doubles, drei aufgeschüttete Kegel.

Die Sinne schärfen und das Bewusstsein wecken, diese  Absicht formuliert Tremsal explizit im Text zur „Skulptur als Implantat“, den „Zwei Schanzen“ für eine Sportanlage. Das gilt auch für ein weiteres großes Kapitel seines Werks, die eher klassischen Skulpturen und Plastiken, die für bestimmte Orte und wiederum mit engem Bezug auf diese konzipiert sind. Wenn er für den Skulpturenweg Fläming eine Holzwand entwirft, die den Blick auf die Landschaft gleichzeitig verstellt und in ihrer Struktur reflektiert, geht es ebenso um die produktive Irritation wie bei „double edged 2“, wo der Eindruck einer in den Waldboden gekippten Mauer erzeugt wird, die die Situation verfremdet und verrätselt. Tremsal stellt kein Objekt wie ein Möbel in die Landschaft, das überall stehen könnte, er setzt sich auch mit komplexen und schwierigen Situationen so auseinander, daß er dem Ort, seinen Formen und Materialien eine Resonanz gibt. Das gilt auch für die einzige Wandarbeit im Katalog, die „Himmlische Landschaft“ für ein Terminal am Münchner Flughafen, wo er für ein überladenes, ästhetisch gruseliges Ambiente eine künstlerische Lösung entwickelt, die sich hätte behaupten können. Doch mit diesem Refusé Nr. 1 beginnt die Reihe.   

Bei seinen Erkundungen eines Ortes verhält sich der Künstler mitunter wie ein Archäologe, der an gefundenen Dingen Fragmente einer Geschichte abliest. Die Geste des Grabens – nach „kleiner Geschichte“ oder „Nicht-Geschichte“ – hat Tremsal bei einigen Projekten explizit thematisiert, so bei den „Erdarbeiten“ oder bei „Verbergen“, wo er mit Material aus Magazinen und Werkstätten eines aufgegebenen Industriebetriebs arbeitet (in Kooperation mit der Künstlerin Sabine Hack). Eine andere Variante ist die fiktive Archäologie, wenn er Ruinen erfindet – das zieht sich durch mehrere Projekte; ein wichtiges Beispiel ist die Skulptur für die Deutsche Botschaft in Warschau: Das fragmentarische, funktionslose Stück Architektur aus roten Ziegelsteinen im Garten steht in klarem Kontrast zum sachlich-modernen Gebäude mit seiner glatten grünen Fassade. Die „Ruine“ kann als Hinweis darauf aufgefasst werden, daß die Geschichte der Deutschen in Warschau alles andere als „glatt“ ist. 

Im Projekt für die Warschauer Botschaft ist das Thema explizit politisch, was in Tremsals Arbeit die Ausnahme ist. Auch die Entscheidung für eine historisch-politische Aussage ist jeweils eine Reaktion auf die Bedeutung des Ortes, an dem das Werk entstehen soll. So beschäftigt sich „Virtual woman“, für Stuttgart entworfen, mit der politischen Entscheidung, die Plastik „Draped Reclining Woman“ von Henry Moore nach Kritik aus der Bevölkerung von ihrem Platz vor dem Landtag zu verbannen. Tremsal wollte sie virtuell, als Hologramm, wieder an ihren ursprünglichen Standort bringen, zu sehen auf einem goldenen Sockel mit Informationstexten zu diesem „künstlerisch-politischen Kontext“. Eine andere explizit politische Arbeit ist „Ohne Titel (Seetor)“ für Dresden, eine Arbeit für den öffentlichen Raum, die eine historische Torsituation neu interpretiert. Wo früher zwei Krieger-Torsi den Geist einer autoritär-militaristischen Gesellschaft verkörperten, sollte künftig ein Symbol für eine humane Gesellschaft stehen: zwei liegende  Säulen in Pastelltönen, darauf ein Frauenakt und gegenüber ein Männerakt. Diese inhaltliche und formale Veränderung einer Denkmalstereotype hätte der sächsischen Metropole gut zu Gesicht gestanden. 

In einem politischen Kontext bewegt sich Tremsals Kunst auch dann, wenn das Politische nicht formulierter Inhalt ist. Die gesellschaftlichen Konflikte um den Umgang mit den natürlichen Ressourcen sind in vielen Konzepten mitgedacht, wenn es um das Verhältnis von Natur und Kultur geht oder um Konsumträume und damit verbundenem Rohstoffverbrauch. Dem Beuysschen Gedanken von der „Sozialen Plastik“ nähert sich Tremsal in Projekten, die Aktivitäten des Publikums mit einbeziehen. So werden an der Erarbeitung eines „Stadtporträts“ für Esslingen Bewohner beteiligt oder es wird ein „Zukunftsbarometer“ errichtet, den Betrachter via social media mit steuern.  

Wenn der Katalog am Ende das Layout-Prinzip des Whole-Earth-Catalogs verlässt, ist das einem Projekt geschuldet, das nicht auf eine Einladung oder einen Wettbewerb reagiert, sondern eine eigene Initiative ist. Ihm kommt ein besonderer Raum im Imaginären Museum zu. Es ist ein umfangreiches Konzept zur Erinnerung an den österreichischen Komponisten Anton Webern (1883 bis 1945), das Tremsal gemeinsam mit dem Künstlerkollegen Matthijs Muller und der Komponistin Veronika Mayer entworfen hat. Die Affinität zu Themen der Musik rührt sicher daher, dass Tremsal auch Pianist ist. Weberns Musik soll im Ort Mittersill, wo der Schönberg-Schüler auf tragische Weise starb, in ein raumgreifendes Lichtkunstwerk transponiert werden. Die Laternen der öffentlichen Stromversorgung rund um einen See sind das Instrument, und das Publikum spielt via Internet mit bei der Lichtmusik. Obwohl es die Zustimmung der lokalen Verantwortlichen und einige finanzielle Zusagen gab, reichte das Geld am Ende nicht, um das Webern-Monument leuchten zu lassen. Allein für dieses spannende, innovative Konzept lohnt sich die vorliegende Dokumentation.

www.benoit-tremsal.eu