Die Faszination von Graffiti ist ebenso ungebrochen wie die Aversionen dagegen. Ein halbes Jahrhundert, nachdem Wandzeichner begannen, auch in Deutschland den öffentlichen Raum zu erobern, haben sich die Graffiti- und Street-Art-Werke etabliert, legale wie illegale. Die Debatte des vorigen Jahrhunderts, ob das Kunst ist oder Schmiererei, ist längst erledigt. Graffiti ist in jeder Weise in der Kunstszene angekommen: in den Museen, Galerien, in Magazinen und Büchern. Kunstwissenschaftler befassen sich intensiv mit dem Phänomen, so wie unermüdlich die Polizei, die den Kunsthistorikern ihr Bildmaterial zur Verfügung stellt. Kommerziell gesehen ist Graffiti kreatives Kapital. Allerhand Produkte für junge Kunden werden in dieser Bildsprache gestylt. Und die Immobilienwirtschaft ist auch nicht mehr durchweg der Erzfeind der illegalen Szene: Wandbilder gleich Lifestyle gleich Verkaufsargument. Das gilt in großen Städten auch für den Tourismus.
Soviel Vereinnahmung ist vielen subversiven Sprayern nicht recht. „Blu“ zum Beispiel hat in Berlin eigenhändig sein publikumswirksames Wandbild schwarz übermalt. Er löschte ein Postkartenmotiv. Auch andere möchten gegen das „System“ malen und nicht dafür. Sie sind überzeugt davon, ihre eigene Art von Kunst zu sprayen, aber bitte widerständig und autonom.
Graffiti und Street Art (nicht scharf voneinander zu trennen; das erste bezeichnet eher illegale Schriftbilder, das zweite Bildwerke, die auch legal sein können) sind Artefakte in einem sozialen Feld, in dem spannende Konflikte ausgetragen werden. Es sind zum Teil neue Runden in altbekannten Kämpfen: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gegen Akademie; Freiheit der Kunst gegen bürgerliche Moral; prekäre Existenz oder Anpassung an den Markt. Dazu kommt die Frage „Wem gehört der öffentliche Raum?“.
Gegen die Verödung und Betonierung der Städte trat explizit bereits in den 1970er Jahren Harald Naegeli an. Der Sprayer platzierte seine Figuren auf meist öden Wänden und ließ sie mit Witz auf die gebauten Strukturen reagieren. Legendär ist seine in Köln verwirklichte „Totentanz“-Serie. Der Schweizer, der nach Jahren in Deutschland jetzt wieder in Zürich lebt, hat nach einer Ausstellung im Siegburger Stadtmuseum 2014 dort eine legale Wandzeichnung hinterlassen. Die Person Naegeli liefert ein Paradebeispiel für den zwiespältigen Umgang mit illegaler Kunst: In Düsseldorf wurde er offiziell ausgestellt, sollte aber auch Strafe zahlen für ein illegales Wandbild an der Kunstakademie; in der Schweiz musste er eine Haftstrafe verbüßen, wurde aber auch mit einem Zürcher Kunstpreis bedacht.
Anders als studierte Künstler wie Naegeli lernen die meisten Sprayer in sehr jungen Jahren ihr Handwerk auf der Straße. Die Vorbilder aus den USA waren stilprägend für die Tags und Pieces, also Buchstabenkürzel und ausformulierte Schriftbilder. Man nennt sich Writer; einzeln oder in der Crew geht es um Street-Credibility und Fame: Die Szene entwickelte bzw. übernahm ihr eigenes Vokabular. Die Fantasienamen der Sprayer dienen auch der Tarnung. Abenteuerlust, der Reiz des Verbotenen, der Stolz auf das eigene Bild im Kiez oder auf der S-Bahn als psychologischer Antrieb; das Gemeinschaftserlebnis, das Zischen der Sprühdose und der Geruch des Farbnebels – das alles beschreiben Akteure als positive Erlebnisse.
Mit dem ungelenken Tag in irgendeiner urbanen Schmuddelecke fängt es an, und am vorläufigen Ende der Entwicklung stehen heute hochprofessionelle Werke, die in generalstabmäßig geplanten Crew-Aktionen auf kaum zugänglichen Fassaden oder auf S-Bahn-Zügen im laufenden Betrieb verwirklicht werden. Außer der Fähigkeit, ein gelungenes Bild zu gestalten, kommen hierbei logistische wie artistische Kompetenzen zum Einsatz. Man muss gut strukturiert, hierarchisch organisiert und sportlich sein, um da mitmachen zu können. Ein neues Feld der Werkproduktion ist mit dem Regiefilm eröffnet, der das bloße Dokumentarfoto mehr und mehr ablöst. Wer sich im Internet einen Action-Film der Crew „1UP“ (One United Power) anschaut, bekommt einen guten Eindruck davon: Kameraführung (mit Handkameras und Drohnen), Bildschnitt und Sound würden auf einem Filmfestival mithalten können.
Bei allem Erfolg ist Graffiti nicht entkriminalisiert. Sachbeschädigung, mitunter in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, wird verfolgt. Zwischen Polizei und Sicherheitsdiensten auf der einen und Sprayern auf der anderen Seite hat sich ein Katz-und-Maus-Spiel etabliert. Spezialisierte Rechtsanwälte begleiten das Geschehen. Die Täterschaft wiederum wird als sehr heterogen beschrieben. Wer nachts loszieht, um illegal zu malen, kann Schüler oder Beamter, Hausfrau oder Mitarbeiter eines Verkehrsbetriebs sein, meist zwischen zwölf und 50 Jahren alt. Ein Querschnitt der Gesellschaft offenbar, auch mit deren Vorurteilen: Frauen hatten es schwer in der Szene, als Künstlerinnen gelten zu können; das ändert sich langsam.
Ebenso vielfältig sind die Stile und Bildsprachen der Street-Artisten. Der einfache „Tag“ als Existenzbeweis, „Ich war hier“, oder als Reviermarkierung, ist ästhetisch nicht anspruchsvoller als das Herz in der Baumrinde. Die Schriftbilder der Writer dagegen sind in Form und Farbgebung oft sehr aufwändig. Mittelalterliche Buchstaben-Malereien waren wohl zuletzt ähnlich ambitioniert. Diese „Pieces“ zeigen einen Fantasie-Namen und geben zusätzliche Informationen wie Alter, Crew-Mitgliedschaft oder anderes preis. Thematische Botschaften sind nicht damit verbunden, das Politische liegt im Kontext: Eroberung eines öffentlichen Raums. Dass diese Bilder überhaupt etwas zu bedeuten haben und nicht etwa Nichts, wie weiland Jean Baudrillard in seinem Text „Kool Killer“ behauptete, hat nicht zuerst die Kunstwissenschaft herausgefunden, sondern die Polizei bei ihren akribischen Ermittlungen.
Dass sich die Schriftbilder in ihrem Gestus vielfach ähneln, hat mit der gestalterisch durchaus konservativen Haltung der Autoren zu tun. „Odem“ aus Dortmund, einer der Pioniere des Genres, hat einmal beschrieben, dass er das Wesen des Buchstaben sucht, Regeln erkennen und einhalten will. Und alle, die etwas gelten wollen, müssen das auch tun. Da sind die nicht an Schrift orientierten Malereien der Street Art freier. Wenn, dann wird der Autonomie-Anspruch hier eingelöst. Abstrakte Farb-Eruptionen à la Katharina Grosse sehen schon erhaben aus, wenn sie von „Moses & Taps“ großflächig auf ein Gleisbett gesprüht werden.
Warum gerade die Deutsche Bahn unfreiwilliger Spitzenlieferant für Malflächen geworden ist, hat sicher etwas mit der aus den USA übernommenen Arbeitsweise zu tun und auch damit, dass so viele Lärmschutzwände, Züge und Stellwerke geboten werden. Das Ergebnis ist beim Publikum umstritten. Wer mag es schon, wenn das Zugfenster undurchschaubar geworden ist. Oder wenn schalkhafte Akteure eine täuschend echte Zugtür auf die Bahn gemalt haben, die sich nicht öffnen lässt.
Das erinnert an die Spaß-Guerilla Ende der 1960er Jahre, die ebenfalls als eine Quelle für heutige Street Art gesehen werden kann. Da wird die Aussage dann inhaltlich politisch, wobei hierzulande aktuell Umweltthemen häufiger vorkommen. Auch der legendäre „Banksy“ liefert so etwas. Jüngst hat er wieder Furore gemacht mit einem Werk, das eine Situation im öffentlichen Raum geschickt für seine Form nutzt: Ein verstümmelter Baum steht vor einer Brandmauer, auf die der Sprayer viel grüne Farbe gibt. Mit aufgestochenen Farbdosen lässt sich die sehr hoch spritzen, so dass sich zusammen gesehen das Bild eines sehr ergrünten Gezweigs ergibt. Schön gemalt dazu noch eine lebensgroße Figur, während die grünen Schlieren dann doch eher so aussehen, wie wütende Gegner es von allen Graffiti behaupten: geschmiert. Und dann rückte jemand dem Bild mit weißer Wandfarbe zu Leibe, und die schöne Ironie in diesem Fall ist, dass daraufhin in der Presse zu lesen war: Kunstwerk beschmiert. So ändern sich die Perspektiven.
Die Konflikte, die sich in einer demokratischen Gesellschaft aus dieser Art Kunstpraxis ergeben, sind ernst zu nehmen, aber harmlos im Vergleich zu denen in autokratisch geführten Staaten oder Diktaturen. In Russland ist politisches Graffiti ungleich riskanter, und doch gibt es viele mutige Aktivitäten, wie ein Blick auf die Internet-Plattform „nowobble.net“ zeigt. Auf einer Mauer in Sankt Petersburg hat ein Schablonensprayer das Google-Signet in „Goolag“ transformiert. Das ist überraschend und witzig, wirkt anders als die bloße Aufforderung „Kein Krieg“. Streng sanktioniert wird beides. Der Petersburger Sprayer wurde während der Arbeit verhaftet; Mitstreiter vollendeten später sein Werk und fotografierten es – bevor das Kunstwerk überschmiert wurde.
Graffiti ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst und Brot“ am Donnerstag, 16. Mai, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.