Muntere Figuren, verteilt in dörflicher Kulisse, spielen, hüpfen, turnen: Pieter Bruegels Bild „Kinderspiele“ von 1560 (hier ein Ausschnitt) ist ein Paradebeispiel für Kunstwerke, die auf den ersten Blick leicht verständlich wirken, es aber nicht sind. Bruegel der Ältere, gerne wegen seiner ländlichen Motive auch „Bauernbruegel“ genannt, war kein Bauer und einfacher Genremaler, vielmehr ein gebildeter Städter, ein wenig volkstümlicher Manierist, der für die Oberschicht malte. Für diese waren die einfachen Leute Exoten, und zu ihrem Ergötzen zeigten auch die „Kinderspiele“ eben keine harmlosen Szenen, sondern die „verkehrte Welt“, die Torheit der Menschen in allegorischer Bildsprache. „Die Welt und alles was dazu gehört ist nichts als Kinderspiel“, war Bruegels Motto, nicht im Sinne von kinderleicht, sondern von sinnlos, unehrlich, Gott verachtend. Der Kreisel, der geschlagen wird, ist wie jedes der dargestellten Spiele Sinnbild dafür: „Der Mensch muss geschlagen werden wie ein Kreisel, sonst wird er faul und sündhaft“. Satirischer Pessimismus, ein negatives Menschenbild, ganz im Gegensatz zur ersten Anmutung der bunten Szene. Deshalb haben die Kinder bei Bruegel auch nichts zu lachen, blicken ernst, sind im Grunde verzwergte Erwachsene.
Der erste visuelle Eindruck kann also täuschen, hier wegen des großen historischen Abstands. Den Wissensstand von Bruegels Publikum im 16. Jahrhundert müssen wir uns heute erst erschließen, um das Bild verstehen zu können. Dass wir uns informieren sollten, unterscheidet die Auseinandersetzung mit einem gegenständlichen Werk wie diesem nicht von der mit einem abstrakten, modernen, das sich nicht scheinbar auf den ersten Blick erschließt.
Wird irgendein Objekt oder ein Prozess als Kunst aufgefasst, bleibt die Reaktion darauf nicht bei der zunächst unbewussten emotionalen Zustimmung oder Ablehnung, es folgt in der Regel die rationale Überlegung „Kann ich das verstehen?“ und „Wie kann ich das verstehen?“. Die ästhetische Wahrnehmung mittels der Sinne und möglicherweise der ersten (ebenfalls noch unbewussten) Einordnung anhand erinnerter Vorerfahrungen ist die Voraussetzung für den intellektuellen Verstehensprozess, das Begreifen, Erfassen, Einordnen, Durchschauen. Die einfache „Perzeption“ ist immer Grundlage, zunächst für Beschreibungen, die das Gefühlte zum Sprechen bringen und in nachvollziehbare Erklärungen münden. Darauf baut das (philosophische oder kunstwissenschaftliche) Verstehen auf.
Dabei ist das Verstehen eines mutmaßlichen Kunstwerks nicht das Lösen eines Rätsels, das der Künstler stellt, mit einem vorhandenen, lediglich verborgenen Ergebnis. In dem offenen, subjektiv wie intersubjektiv vorangetriebenen Verstehensprozess sind die evidenten Fakten Ausgangspunkte für ein versuchsweises Erfassen, das tiefgreifend, aber nie endgültig sein kann. Der Prozess kann aber auch scheitern, das Werk unverstanden bleiben.
Kommunikation mit dem Kunstwerk bedeutet in hohem Maß Austausch zwischen dem Unbewußten des Künstlers und dem Unbewußten des Betrachters; die bewußten Absichten des Schöpfers erklären den Gegenstand nur zum Teil. Beide Seiten bringen ihre Dispositionen, ihr implizites kulturelles Wissen ein. Das bedeutet: Was zu sehen ist, gibt nicht sofort seine Voraussetzungen preis, die aber zum Werk gehören. Pierre Bourdieu hat das in seinen Vorlesungen zu Manet ausführlich beschrieben und den hohen Anspruch daran geknüpft, das gesamte System der Dispositionen müsse rekonstruiert werden, um ein Werk wirklich verstehen zu können. Bourdieu stellte auch fest, ein Maler müsse sein künstlerisches Denken nicht selbst formulieren können. Dasselbe gilt sicher für ein interessiertes Publikum: Es darf sich erfreuen – und sich auf Expertisen stützen, wenn es mehr wissen will.
Kunstwissenschaftliche oder kunstkritische Expertise liefert indes nicht den fertigen Rahmen, den Begriff oder das Etikett („Impressionismus“), in den das konkrete Werk zum Verständnis einzuordnen ist. Solche Kategorien können als Hinweisgeber hilfreich sein, das Spannende aber ist, was das Werk diesem Rahmen Neues hinzufügt und wie es ihn verändert.
Die individuellen Verstehensprozesse, die sich in stiller Kommunikation mit dem Werk und/oder in einer Debatte mit dem Künstler und anderen Betrachtern entwickeln, sind im besten Fall so vielschichtig und dynamisch, dass sie empirisch schwer zu fassen sind. Es gibt in der Forschung differenzierte Ansätze, aber auch eine deutliche Skepsis, inwieweit Ergebnisse allgemein gültig sein können.
Nimmt man empirische Beschreibungen von Verstehensprozessen im Feld der Kunst, lässt sich festhalten: Der Betrachter bringt seine Motivation ein, um das Verstehen zu starten und weiterzutreiben. Positive Gefühle können zunächst zu einem affektiven Urteil führen: „Das gefällt mir.“ Das Pendant sind negative Gefühle, die den Verstehensprozess mit Ablehnung beenden. Ungewissheit gegenüber Sinnesangeboten („Keine Idee, was das sein soll“) gilt psychologisch allgemein als möglicher Auslöser von Alarmbereitschaft. Nicht jeder Betrachter wendet das durch Neugier ins Positive. Unbewusste Vorurteile und die als nicht dazu adäquat verstandene Kunst können auch zu Aggressionen führen. Dagegen sind positive Urteile über die ästhetische Qualität eher bewusst und kritisch. Mit dem Grad der Informiertheit verstärkt sich die Durchdringung des ästhetischen Phänomens, was auch zu einer Dissonanz zwischen Geschmacks- und Theorieurteil führen kann.
Traditionelle (gegenständliche) und moderne (abstrakte, konkrete) Kunst stellen unterschiedliche Anforderungen. Zum Beispiel können figürliche Darstellungen Empathie auslösen. Das befördert die Motivation, sich weiter zu informieren. Verstehen liegt dann in Reichweite. Aber auch abstrakte Werke schließen angenehme sinnliche Empfindungen nicht aus. Das Begreifen allerdings wird schwieriger. Experimentelle und konzeptuelle Arbeiten sind meist weniger eingängig, was sowohl den affektiven Zugang wie die kognitive Verarbeitung erschwert. Verstehen erfordert hier umso mehr Informationen über das sinnlich Erlebbare hinaus.
„Kunst verstehen“ verlangt vom Betrachter also Arbeit. „Spontanes Verstehen“ im Sinne von starker Resonanz und Zustimmung ad hoc ist möglich, aber nicht das Ende des kreativen Verstehensprozesses. Der bietet auch die Chance von Revisionen. Belohnt wird die Mühe, wenn es gut geht, von der Lust des Verstehens – womit das Werk eigentlich erst vollendet ist.
Über das Thema diskutiert die offene Gesprächsrunde bei „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 14. November, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse. Beginn 18 Uhr.