Lesarten der Linie

aus dem verzweig“ nennt Sonja Karle ihr jüngstes Künstlerbuch, ein poetisch klingender Titel, der zugleich programmatisch zu verstehen ist. Denn Verzweigungen, Verbindungen, Korrespondenzen sind hier sowohl in den Motiven der Fotos und Zeichnungen, als auch in den Formen der heterogenen Bildelemente, schließlich auch in deren vielfältigen Kombinationen zu entdecken.

22 Doppelseiten – jede Einzelseite misst 21 x 21 cm – umfasst das gebundene Werk. 22 Mal stehen sich ein Foto und eine Hand-Zeichnung gegenüber. Dazu kommen mathematische Symbole, vom einfachen Punkt bis zum Wurzel- oder Summenzeichen, die in die Bilder geschoben oder frei daneben platziert sind. Sonja Karle fasst sie formal auf, dreht, spiegelt, variiert sie. Die konventionelle Bedeutung der Symbole – zum Beispiel das für Unendlichkeit – spricht mit, ist aber nur eine Variante.

Wir haben es also mit drei Bildarten, drei unterschiedlichen Lesarten und deren Logiken zu tun, die die Künstlerin verbindet – miteinander, nebeneinander, gegeneinander. Wörtlich genommen ist das Spiel mit den Zweigen in den Fotos von meist winterlich unbelaubten Bäumen, die Sonja Karle als Zeichnungen aus der Natur inszeniert. Was sie bei Wald- und Obstbäumen an Lineaturen entdeckt und ins Licht oder in den Schatten rückt – die Effekte von Sonnenstrahlen auf Wassertropfen im Verzweig inbegriffen -, ist für sich schon sehenswert. Überfrorene Brombeerranken, abgestorbene Fichten, filigrane Hainbuchen und vieles mehr – was der Spaziergänger kennt, aber so doch noch nicht betrachtet hat: Zweige, die die Form mathematischer Symbole haben; Ästegewirr, das sich unter dem Einfluss der benachbarten Zeichnung als ungekämmter Haarschopf sehen lässt; der gebogene Rücken, den auch die Fichte andeutet.

Thema der filigranen Zeichnungen sind Figuren-Metamorphosen. Aus einer einzigen Linie entwickeln sich menschliche wie tierische Formen, aus abstrakten Verzweigungen wachsen Körper. Merkwürdige Wesen, die sich offenbar noch entwickeln wollen – doch zu was? Das Ineinander von freier Form und Zeichen für Lebewesen jedenfalls spiegelt hier nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich unsere Sichtweise auf die Natur, die – mindestens seit der Romantik – immer ästhetisierend ist.

Das Konzept von „aus dem verzweig“ zeigt drei Arten der Verknüpfung der Bildkategorien: die Linienformen ähneln sich, die Formen der Symbole finden sich auch in der Botanik, beides wie beschrieben, und außerdem verbindet Sonja Karle in einigen Fällen durch die grafischen Symbole die beiden Hälften der Doppelseite. Eine Verschmelzung findet indes nicht statt, die Spannung des Heterogenen bleibt immer erhalten und fordert den Betrachter heraus.

Visuelles Denken in Reinform führt die Künstlerin uns vor. Was ihr sensibles Auge entdeckt hat, verzweigt sich in eine kaum überschaubare Vielfalt der Bildaspekte. Beim Durchblättern dieses Buchs, vor und zurück, komme ich an kein Ende. Hier gibt es immer wieder etwas zu entdecken und zu bedenken.

sonjakarle.eu

Abbildungen „aus dem verzweig“ von Sonja Karle, 2022