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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Resümee: Methodische Imagination

Kapitel 8

Dass die Fähigkeit der Imagination keine „geheimnisvolle Kraft“ von Ausnahme-Individuen ist, sondern im Gegenteil eine allgemein menschliche, habe ich versucht zu zeigen. Praxis-Denken als „Ausdrucksstreben“ hat grundsätzlich die Chance, frei zu imaginieren und zu gestalten, Bekanntes neu zu sehen oder tatsächlich Neues zu schaffen, so auch im symbolischen Handeln der Kunst. Künstler:innen haben diese Chance, weil sie diese Möglichkeit in der Gesellschaft für sich erarbeitet haben – Bourdieus Feldtheorie hat die Argumentation historisch-soziologisch geerdet. Aus dieser Theorie wollte ich den etwas verdeckten Freiheits-Kern herausarbeiten, und der verbindet sich mit Arendts Gedanken zu einer Praxis der Freiheit, die einen schöpferischen Impuls beinhalten, den Aufbruch zu Neuem ohne Rücksicht auf Zwecke und Profite (ausführlicher zu diesem Aspekt der Text „Ein Spielraum der Freiheit“ in diesem Blog).

Was künstlerisches Denken ist, kann nicht neurobiologisch, psychologisch oder philosophisch bestimmt werden. Die Fähigkeit dazu ist im menschlichen Wahrnehmen angelegt und wird von Künstler:innen im Praxisprozess zum Leben erweckt, in konkrete Werke gefasst. Das beruht, wie beschrieben, auf sozialen Bedingungen und Möglichkeiten. Das bewusste Initiieren von Intuitionen, das Verändern und Erfinden von Metaphern, die Verbildlichung abstrakter Begriffe und die Verwirklichung von Bild-Ideen, die der methodischen Eigenproduktion entspringen, als neuschöpferische Entdeckung, das alles liegt in der Struktur des kreativen Denkens. Künstlerisches Denken, das ernst zu nehmen ist, nimmt eben diese Möglichkeiten ernst.

Die Fähigkeit zur Imagination, die Einbildungskraft, habe ich (mit Beuys sowie Lakoff und Johnson) versucht zu beschreiben als leibliche Fähigkeit, die grundlegend ist für bildhaft anschauliches Denken. Imagination ist eine Form der Weltwahrnehmung wie der Weltgestaltung. Sie gibt ein Bild von Sinnesdaten und gestaltet Fiktives. Ein Hinweis auf diese Doppelwertigkeit der Imagination findet sich bereits in der Romantik bei Samuel T. Coleridge: Der Dichter und Theoretiker beschrieb „primäre Imagination“ als konstitutiv für Erkenntnis und sah in einer „sekundären Imagination“ den Ursprung der Kunst (nach Christopher Long: „Imagination“, in: „Enzyklopädie Philosophie“, S. 616 ff.). Und zur Weltgestaltung durch Kunst gehört mit Beuys auch der Schritt über das Symbolische und Fiktive hinaus: Die Kunst entwickelt „neue Sinnesorgane hinzu“, die den Prozess der menschlichen Selbsterkenntnis und (politischen) Entwicklung als „Freiheitswesen“ befördern (zit. n. Bezzola, „Beuysnobiscum“, S. 140).

Auch wenn Künstler:innen grundsätzlich dieselben Denkvoraussetzungen haben wie alle Menschen, erscheint künstlerische Imagination als ein anspruchsvolles und längst nicht von jedermann beherrschtes Instrument. Künstler:innen gebrauchen Imagination gezielt, um ästhetische Prozesse zu initiieren: Methodische Imagination möchte ich das, was künstlerisches Denken im Kern ausmacht, nennen (in Analogie zur methodischen Intuition bei Beuys). In Coleridges Terminologie ist die sekundäre Imagination strukturell identisch mit der primären, unterscheidet sich aber in Intensität und Wirkungsweise von dieser. Er beschreibt sie als ein Oszillieren, eine ständige Spielbewegung zwischen Destruktion und Aufbau (vgl. Wolfgang Iser: „Das Fiktive und das Imaginäre“, S. 326 ff.).

Künstlerisches Denken zielt dabei auf die Verwirklichung schöpferischer Freiheit (deren Bedingungen und Möglichkeiten mit Bourdieu beschrieben wurden). Künstler:innen mit dieser Motivation bieten Modelle, die in andere soziale Felder hinein wirken können. Um ihre Imaginationen ästhetisch zu verwirklichen, erarbeiten sie sich und nutzen gezielt implizites Wissen oder Dispositionen, erarbeiten und nutzen einen künstlerischen Habitus. Sie professionalisieren ihr Praxisdenken. Zur Macht dieses Denkens gehört, dass alles zu seinem Gegenstand und Thema werden kann. Alle Formen und Strukturen sind im Fluss, nichts legt die Imagination prinzipiell fest. Sie ist nicht zwingend gebunden an Sprache – Bilder existieren unabhängig von ihrer Verbalisierung. Der Zusammenhang von Sprache und Imagination ist jedoch eng, wie im Abschnitt über metaphorische Konzepte beschrieben. Die sprachliche Struktur dieser imaginativen Konzepte wird nicht immer bewusst. Denken kann demnach aus allen Imaginationen schöpfen, den rein Visuellen wie den Sprachbildern.

Wenn Künstler:innen das Imaginationsspiel zu überraschenden und ästhetisch anrührenden bzw. irritierenden neuen Varianten treiben, erweitern sie möglicherweise den Horizont der Einbildungskraft des Betrachters. Gegen die verkörperte Macht der Dispositionen tritt hier in der Tat eine Gegenmacht des Zeigens (in Anlehnung an Gottfried Boehm: „Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens“), die in Bewegung bringen und inspirieren kann. „Aus Materie wird Sinn, weil die visuellen Wertigkeiten im Akt der Betrachtung aufeinander reagieren (…). Es ist ein nicht-prädikativer Sinn, dem kein sprachlicher Logos vorausgeht, an dem freilich alle erforderlichen sprachlichen Diskurse anschließen (…). Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung“, schreibt Gottfried Boehm (ebd. S.52 f.), womit sich der Kreis schließt. Das gewisse Pathos in diesem Zitat mag man belächeln und an die gewaltigen Räume von Unsinn denken, die auch existieren können. Das ändert aber nichts an dem unausschöpflichen Potenzial der Imagination, Freiräume zu eröffnen und neuen Sinn zu setzen. Ein Potenzial, das es zu nutzen gilt, ebenso wie die kritische Funktion der Urteilskraft.

In der Praxis, in konkreten Werkbiografien und den individuellen oder kollektiven Arbeitsprozessen, differenzieren sich die hier umschriebenen Möglichkeiten des Denkens aus zu spezifischen Formen, Logiken und Inhalten. Das allerdings liegt jenseits der Frage allgemeiner Grundlagen künstlerischen Denkens.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination