Kunst ist nahrhaft

Im Titel der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ in der Siegburger Stadtbibliothek steht das „Brot“ konkret für die materielle Existenzgrundlage wie bildlich für die geistige Nahrung. Die Kunst soll in keiner Hinsicht brotlos sein. Das Thema hat Künstler*innen durch die Jahrhunderte immer wieder fasziniert und angeregt. Wenn man sich anschaut, was sie da alles mit Nahrungsmitteln angestellt haben, darf man staunen. Ob sich auch Appetit oder gar Ekel einstellt, hängt wie üblich auch vom Geschmack des Betrachters ab.

Stillleben mit Früchten, Jagdstrecken oder kompletten Vorratskammern sind seit der Antike bekannt und beliebte Motive. Nahrungsmittel tauchen in Bildern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Bedeutungen auf. Im 20. Jahrhundert benutzten immer mehr Künstler*innen Lebensmittel aber nicht mehr nur als Motiv, sondern auch als Material für ihre Werke. So Marcel Duchamp in den 1930er Jahren, als er in einem surrealistischen Environment Kaffeebohnen röstete, um eine Duftnote zu setzen. Es trifft aber nicht zu, dass künstlerische Zweckverfremdung von Lebensmitteln erst in der Moderne erfunden wurde. Der Künstlerbiograf Giorgio Vasari schilderte im 16. Jahrhundert Feste, bei denen die teilnehmenden Maler und Bildhauer sich überboten mit Objekten, die anschließend gegessen wurden: Architekturen aus Würsten und Käse, Figuren aus Geflügel, Bücher aus Lasagne – ein Gang kurioser als der andere.

Solche Vorbilder werden lebendig, wenn man zum Beispiel Videos von Sonja Alhäusers Performances und Publikumsevents anschaut: Der Mann, der langsam in ein Bad von geschmolzener Schokolade taucht und braunglänzend überzogen und triefend wieder auftaucht, hätte in ein Renaissance-Künstlerfest ebenso gepasst wie der figürliche Brunnen aus Margarine, aus dem Rotwein fließt.

Als Spielmaterial in einer Performance werden Lebensmittel hin und wieder verwendet, vor allem sind sie heute aber nach wie vor Bildmotiv und Gestaltungsmaterial. Aus dem großen Vorrat sollen hier einige Appetithappen gereicht werden.

Nahrungsmittel als Motiv: Auch in diesem tradierten Genre hat die Fotografie als Technik an Bedeutung gewonnen. Die Inszenierungen sind oft sehr witzig, offenbar beflügelt gerade das Alltagsmaterial den Humor. Anna Blumes Kampf mit den fliegenden Kartoffeln in der Kleinbürgerküche sind ein Klassiker. Politische Satire gestalteten Siglinde Kallnbach mit verschimmelten Würstchen und Klaus Staeck mit einer angefaulten Birne. Ute Bartel fotografierte Wurstscheiben und montierte sie zu Ornamenten.

Petra Weifenbachs Konzept schafft die Verbindung von der Kategorie Bildmotiv zur Kategorie Bildmaterial: Aus ihren Fotos von Geflügel, Tortenstücken und anderen Leckerbissen baut sie papierene Braten oder Kuchen – ein Dreierschritt vom Lebensmittel über das Bild zum Objekt.

Das Thema Nahrungsmittel als Material hat wie geschildert auch eine lange Vorgeschichte. Seit die Futuristen „Flugzeugrümpfe“ aus Kalbfleisch verspeisten, hat sich das Essen mit Publikum als Kunstevent gehalten. Alison Knowles Auftritt mit „Make a Salad“ von 1964 war wohl die erste Salatzubereitung als Fluxus-Performance. „Eat Art“ praktizierte nicht nur Sonja Alhäuser, als Erfinder dieser Variante gilt Daniel Spoerri, der nach den Events mit Gästen die abgegessenen Tafeln zu „Fallenbildern“ machte. Alles, was noch auf dem Tisch war, wurde fixiert und als Tafelbild an die Wand gebracht. Das gemeinsame Kochen und Essen steht auch im Mittelpunkt der Kunst von Rirkrit Tiravanija. Bei all diesen und ähnlichen lukullischen Aktionen ist der Übergang zum normalen Restauranterlebnis oder der privaten Feier fließend. Kochkunst eben.

Das Material künstlerisch zu verwenden, heißt es verwandeln: Ute Bartel präsentiert Kartoffelschalen als Liniengebilde, Ilse Wegmann Objekte und Rauminstallationen mit Mehl oder Zuckerwürfeln, und sie verwendet nicht zuletzt das hier titelgebende Brot. Wenn auf einem Bild von Dieter Roth die Sonne untergeht, ist es eine fette Scheibe Salami, ziemlich vergammelt. Und seine Objekte aus Schokolade sehen auch nicht mehr appetitlich aus. Bei Roth geht es immer um den Prozess – des Verwesens in diesem Fall. Im Werk von Joseph Beuys sind Lebensmittel wie Honig, Fett oder die „1a gebratene Fischgräte“ symbolhafte Details aus seinem umfassenden Verweisungszusammenhang, in dem körperliche und geistige Nahrung eng verbunden sind.

Abschließend tut ein Schnaps, gereicht von Ben Vautier, sicher gut: „Drink to forget art“ ist sein Text zur Flasche – was an ein weiteres Motiv in der Kunst gemahnt. In Karel van Manders Lebensbeschreibungen niederländischer und deutscher Künstler erscheint der Alkohol außer als darstellbarer Gegenstand auch als Stimulans der Maler, sowie als ihre ernsthafte Gefährdung nach dem Motto „hoe schilder hoe wilder“.

Als roter Faden in dieser Geschichte heterogener Elemente zeigt sich der enge Zusammenhang von Ästhetik und Nahrung. Der bildliche Sprachgebrauch von „geistiger Nahrung“, von sinnlichen Eindrücken, die man „verdauen“ muss, von Kreativität als Prozess des Stoffwechsels lässt sich über Jahrhunderte zurück verfolgen und endet nicht mit dem Künstler-Statement „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“ (Beuys). Wenn Kunstwerke tatsächlich oder im übertragenen Sinn verspeist werden gilt die Erkenntnis: Kunst ist Brot.

https://events.siegburg.de/Veranstaltungen/Kunst-muss-nicht-brotlos-sein.html

Heine und die Geisterbahn

Während seiner Wanderung durchs Gebirg im Jahr 1824 hat der Protagonist in Heinrich Heines Erzählung „Die Harzreise“ einen Traum: Als Ritter steigt er in einen tiefen Brunnen, der in ein unergründliches Bergwerk führt, in dem allerhand Ungeheuer auf den Besucher einstürmen. Ungetüme greifen mit Krallen nach ihm, zornigen Zwergen und weißen Gespenstern muß er sich erwehren, bis er seine „Herzgeliebte“ findet und das ewige Licht erstrahlt.

Diese romantische Urszene ist aktuell wieder nachgebildet in einem Video des chinesischen Künstlers Lu Yang, dessen Werke jetzt die Kunsthalle Basel zeigt. Yangs Zeichentrickfilm „Hell“ von 2022 (zu sehen bei Youtube) zeigt in einer Videospielästhetik die Wanderung eines Helden, Heines Ritter vergleichbar, der sich in einem kunterbunten Höhlenlabyrinth aller möglichen Monster und Untoten erwehren muss, bis er das strahlend weiße Licht findet. Nur die Dame fehlt – sie ist wohl auch schon tot.

Was hier an die Kirmesattraktion Geisterbahn erinnert und erzählerisch unbedarft auftritt, wird im Begleittext der Kunsthalle unter Aufbietung zahlreicher Superlative überhöht. Es gehe in den Arbeiten von Yang um die grundlegenden Fragen des Menschseins, wie die „Ursprünge des Bewusstseins“, wird suggeriert, und es werden Bezüge zu Philosophien und Kosmologien hergestellt, ohne dass dies jemals konkret wird. Der nahe liegende Bezug zur Romantik indes wird nicht erwähnt – vielleicht aus Furcht vor Heinescher Ironie? Dieser nicht genannte Ideenlieferant hätte die banalen Szenen von Yang nur lächerlich gemacht.

In einem Video-Raum der Ausstellung, so der Baseler Text, „strotzt das Ensemble geradezu vor Sinnesreizen und zieht Betrachtende in einen Zuckerrausch aus pulsierenden Farben und Musik“, zu der makabre Gestalten „tanzen, kämpfen und uns in alternative Realitäten entführen“. Realitäten? Fiktivitäten wohl eher. Und darin waren die Romantiker besser. Das Kopfkino, das Autoren wie ETA Hoffmann, Novalis, Tieck und später besagter Heine in Gang setzen konnten, war um vieles intelligenter und spannender als der Zuckerrausch aus der CGI-Werkstatt (Computer Generated Imagery) und bot auch den Sinnen deutlich mehr. Warum ist das überhaupt von Belang? Weil im Text und im Subtext der steilen Thesen der zitierten Kuratoren immer die nun auch schon alte Mär von den ganz neuen Dimensionen, des Eigenlebens der Elektronik und der Überbietung des Humanen herumgeistert. Der Grund dafür ist, dass dieses Genre von Kunst nur so verkauft werden kann. Gerade weil die Performance so schwach ist.

Die menschlichen Möglichkeiten von Imagination und Kreativität sind aber größer als das, was Lu Yang zeigt. Sie entwickeln sich weiter, und das schneller als die Technik, auch wenn diese Quantensprünge macht. Denn schließlich waren die Menschen in ihren Phantasien den real existierenden Apparaten schon immer voraus.

kunsthallebasel.ch

In Bunt und in Farbe

Karl-Theo Stammer: o.T., Linolschnitt

Aus Karl-Theo Stammers überaus umfangreichem Werk gibt es jetzt vom Künstler ausgewählte Beispiele in Nümbrecht im „Haus der Kunst“ zu sehen. „Liniengebilde“ hätte man die Schau überschreiben können. Das weist darauf hin, dass Stammer nichts abbildet – es sei denn Linien. Aber das, was er in der Welt an Lineaturen aufnimmt, ist ihm Anregung, um daraus Eigenes zu machen. Stammer ist ein Virtuose darin, ständig neue Strategien zu entwickeln, zeichnerische Strategien mit unorthodoxem Materialeinsatz, aus denen sich immer neue und nie gesehene Liniengebilde ergeben.

1951 im Rheinland, in Sinzig, geboren, lernte Karl-Theo Stammer schon als Kind Südtirol kennen, was biografisch deshalb von Belang ist, weil er seitdem zwei Heimaten hat: außer Bonn, wo er meistens lebt, ist das Bruneck im Pustertal. Und so ist sein künstlerischer Werdegang eng mit beiden Regionen verbunden: In Köln hat er Kunst formal studiert, in den Alpen hat er seine eigenen Studien betrieben.

Und das oft per Fahrrad. Stammer zieht seine Linien gerne im Gelände, Skizzenblock und Fotokamera im leichten Handgepäck. Er hat mir einmal von einer Tour von Bruneck nach Wien erzählt. Start um Mitternacht, 500 Kilometer in 14 Stunden – und nicht immer geht es bergab. Es wäre Stoff für eine Künstlerlegende, aber auch diese hätte einen wahren Kern: Was der Theo macht, macht er intensiv, voller Begeisterung und mit sportlichem Elan.

Deshalb fehlt die Kunde vom Rennrad fahrenden Künstler auch in keinem Katalogtext, den beeindruckte Kunst-Fachleute wie Dieter Ronte, Pauline Liesen oder Frank Seidel zu Stammers Werk geschrieben haben. Und das ist nicht das einzige Motiv aus der Künstlervita, das wie ein Refrain immer wieder auftaucht: Die anderen beiden sind Stammers Liebe zur klassischen Musik und sein Faible für den 1. FC Köln.

Stichwort intensiv: 2020, zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, entstand das umfangreiche Künstlerbuch „In the mood of Ludwig van“. Dazu tippte Stammer 250 Typografie-Zeichnungen mit einer alten mechanischen Schreibmaschine auf DIN-A-4-Blätter. Zum 500. Geburtstag wird das keiner mehr machen. Aber mehr als 500 Fotos aus Bruneck versammelte Stammer in seiner Bilder-Hommage an die zweite Heimat – ein Foliant. Und schließlich der Fußballverein: Auch ihm widmete der Künstler Bilder.

Energie und handwerkliche Disziplin darf man Karl-Theo Stammer nachsagen, sein Bewegungsdrang mündet in Schaffensdrang, seine Entdeckerfreude ist mit Lust am Spiel, am bildnerischen Spiel verbunden. „Nagelscherenschnitte“ wäre eine durchaus zutreffende Bezeichnung für die Technik der abstrakt ornamentalen Werke, die Stammer zwischen zwei Gläsern, also von beiden Seiten sichtbar präsentiert. Das wäre dann ein weiteres Erzählmotiv, das Katalogautoren lieben: Der Künstler schneidet die kleinen freien Flächen zwischen Linien von Bleistiftzeichnungen säuberlich mit der Nagelschere aus und erzeugt so lichtdurchwirkte filigrane Liniengebilde, die an die orientalischen Fensterschirme, die Maschrabiyya erinnern, die mit ihren geometrischen Ornamenten das Licht auf bestimmte Weise erscheinen lassen. Bei Stammer haben wir es indes mit frei aus der Hand gezeichneten organischen Formen zu tun, die mit der Schere freigelegt sind. Zitat: „Ich bin ein fanatischer Schneider“.

Damit sind wir bei der Technik des Linolschnitts, der sich Stammer ebenfalls eingehend gewidmet hat. Oft ist die freie Zeichnung mit farbigen Flächen konfrontiert. Der Dialog von strenger Form und lebendiger Linie ist hier das Thema, neben der Farbe – die hier noch regelrecht gebändigt wird, während sie in anderen Arbeiten förmlich explodiert: Bunte Liniencluster zeigen die neuesten Arbeiten, Zeichnungen mit Ölpastell von diesem Jahr 2023. „Dialog in Bunt und in Farbe“ hat Stammer diese Ausstellung wie eines seiner Bücher betitelt; es geht um die Übersteigerung von bunt.

Die Zeichnungen hier wirken wie gekonnte Mischungen aus Zufall und Absicht. Und die kalkulierte Mitwirkung des Zufalls zeigt sich oft in den verschiedenen Werkgruppen. Der Künstler experimentiert mit dem Material, zeichnet mit gebündelten Farbstiften, nutzt die Konturen irgendwelcher Gegenstände, Pappreste oder die freie Hand als Schablonen. Oder er unterlegt sein Zeichenblatt mit anderem Material, um Frottage-Effekte mit aufzunehmen: Linien-Gewebe und Flächenmuster in Variation.

„Er konnte schon in frühester Jugend einen perfekten Kreis zeichnen“, auch das ist ein beliebtes Versatzstück in historischen Künstlerlegenden. Aber was ist unpersönlicher als ein perfekter Kreis? Zugegeben, am Rennrad ist er wichtig. Aber nicht in der Kunst: „Mich fasziniert die Sinnlichkeit der Linien, ich will etwas ausdrücken“ hat Stammer mir bereits 2006 in den Block diktiert. Die großen Blätter mit Rötel und Kohle erfüllen diesen Anspruch. Allein angesichts der vielen sinnlichen, lebendigen und ausdrucksstarken Kreise und Kreissegmente in dieser Ausstellung lässt sich erahnen, was das Glück des Zeichners ist: Sehend Linien ziehen mit der Hand, immer andere, immer neue. Bis das Bild stimmt und das nächste beginnen kann.

kt-stammer.de

Die Ausstellung des Kunstvereins Nümbrecht wird am 5. März um 15 Uhr eröffnet und ist bis zum 26. März zu sehen.

Lesarten der Linie

aus dem verzweig“ nennt Sonja Karle ihr jüngstes Künstlerbuch, ein poetisch klingender Titel, der zugleich programmatisch zu verstehen ist. Denn Verzweigungen, Verbindungen, Korrespondenzen sind hier sowohl in den Motiven der Fotos und Zeichnungen, als auch in den Formen der heterogenen Bildelemente, schließlich auch in deren vielfältigen Kombinationen zu entdecken.

22 Doppelseiten – jede Einzelseite misst 21 x 21 cm – umfasst das gebundene Werk. 22 Mal stehen sich ein Foto und eine Hand-Zeichnung gegenüber. Dazu kommen mathematische Symbole, vom einfachen Punkt bis zum Wurzel- oder Summenzeichen, die in die Bilder geschoben oder frei daneben platziert sind. Sonja Karle fasst sie formal auf, dreht, spiegelt, variiert sie. Die konventionelle Bedeutung der Symbole – zum Beispiel das für Unendlichkeit – spricht mit, ist aber nur eine Variante.

Wir haben es also mit drei Bildarten, drei unterschiedlichen Lesarten und deren Logiken zu tun, die die Künstlerin verbindet – miteinander, nebeneinander, gegeneinander. Wörtlich genommen ist das Spiel mit den Zweigen in den Fotos von meist winterlich unbelaubten Bäumen, die Sonja Karle als Zeichnungen aus der Natur inszeniert. Was sie bei Wald- und Obstbäumen an Lineaturen entdeckt und ins Licht oder in den Schatten rückt – die Effekte von Sonnenstrahlen auf Wassertropfen im Verzweig inbegriffen -, ist für sich schon sehenswert. Überfrorene Brombeerranken, abgestorbene Fichten, filigrane Hainbuchen und vieles mehr – was der Spaziergänger kennt, aber so doch noch nicht betrachtet hat: Zweige, die die Form mathematischer Symbole haben; Ästegewirr, das sich unter dem Einfluss der benachbarten Zeichnung als ungekämmter Haarschopf sehen lässt; der gebogene Rücken, den auch die Fichte andeutet.

Thema der filigranen Zeichnungen sind Figuren-Metamorphosen. Aus einer einzigen Linie entwickeln sich menschliche wie tierische Formen, aus abstrakten Verzweigungen wachsen Körper. Merkwürdige Wesen, die sich offenbar noch entwickeln wollen – doch zu was? Das Ineinander von freier Form und Zeichen für Lebewesen jedenfalls spiegelt hier nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich unsere Sichtweise auf die Natur, die – mindestens seit der Romantik – immer ästhetisierend ist.

Das Konzept von „aus dem verzweig“ zeigt drei Arten der Verknüpfung der Bildkategorien: die Linienformen ähneln sich, die Formen der Symbole finden sich auch in der Botanik, beides wie beschrieben, und außerdem verbindet Sonja Karle in einigen Fällen durch die grafischen Symbole die beiden Hälften der Doppelseite. Eine Verschmelzung findet indes nicht statt, die Spannung des Heterogenen bleibt immer erhalten und fordert den Betrachter heraus.

Visuelles Denken in Reinform führt die Künstlerin uns vor. Was ihr sensibles Auge entdeckt hat, verzweigt sich in eine kaum überschaubare Vielfalt der Bildaspekte. Beim Durchblättern dieses Buchs, vor und zurück, komme ich an kein Ende. Hier gibt es immer wieder etwas zu entdecken und zu bedenken.

sonjakarle.eu

Abbildungen „aus dem verzweig“ von Sonja Karle, 2022

Nur Lektüre schafft Honig

Jürgen Röhrig: Buchobjekt „Einbahnstraße“, 2023

Und was zu einer Flucht zählte, schießt ohne Ende vom Terrain.
Aller Ritus hängt vielmehr beim Leben so schon rings.
Tiere vermögen längst abschüssige Ironie oder Luft zu züchtigen.
Wie Luxuswaren empfangen Damen mitten in der Konstruktion einen Federhalter.
Keiner vermag mit Eingebung Gehalt zu vernichten.
Bücher machen jede Dichtigkeit zum Obelisk.
Nur Lektüre schafft Honig.
Sein Jäger hilft dabei zu jeder Zukunft.
Ich streitend mit zehn Epigonen.
Laut aber ritterlich erscheinen dem Innern nur Nachthimmel.
Blick mit Streifen legt eine Stadt auf Zuckersäcke.
Auf Teller stellt der naive Mann seine Augen.
Dies gibt den Blättchen verhexte Schriftzüge.
Wenn Astern freundlich hervorbrechen, ist der Jahre kaum zu wissen.
Noch drei Minuten verkriechen.
So eingekauft sind Schatten Vorzeichen von allem Taumel.

(Die besten 120 Worte aus Walter Benjamin: Einbahnstraße. Von jeder Druckseite eines, in der Reihenfolge der Seiten. Man soll ja nichts umkommen lassen.)

Weg im Netz

Blick in die digitale WEG-Welt. Grafik: Matthijs Muller

Die analoge Ausstellung „WEG“ der Gruppe Acht in der Kulturwerkstatt Kircheib endete mit der Präsentation des digitalen Auftritts: Die Website weg.works ist nicht nur Dokumentation eines künstlerischen Gemeinschaftsprojekts mit individuellen Beiträgen, vielmehr ein weiteres eigenständiges Werk und eine neue Dimension von „WEG“. Matthijs Muller von den „Acht“ und Martin Zepter von der Kulturwerkstatt haben die Seite entwickelt. Spielerisch kann der Nutzer in die Welt von „WEG“ eintauchen und Fotos, Filme und Texte zu den beteiligten Künstlern und deren Arbeiten entdecken.

Wozu brauchen wir Kunst?

Braucht der Mensch Kunst zum Leben – oder ist das ein Luxus, auf den sich genauso gut verzichten lässt? Ein Grundnahrungsmittel ist das Picasso-Poster an der Wand natürlich nicht. Doch wir wissen aus der empirischen Forschung wie aus eigener Erfahrung, dass die ästhetische Funktion beim Menschen immer eingeschaltet ist: Wer atmet, der hört auch Klänge und sieht Bilder. Und beurteilt die Welt unter anderem mit Hilfe von Formen und Farben. Das ist überlebenswichtig.

Ästhetik als Wahrnehmung (biologisch-psychologischer Faden) und die Ästhetik der Kunst (philosophischer Faden) sind zwar nicht dasselbe, aber untrennbar miteinander verwoben. Wer ein Werk erschafft oder es betrachtet, der braucht die grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung, um darauf aufzubauen und die Ästhetik zu entwickeln, zu verfeinern.

Gehören Kunsterfahrungen also unverzichtbar zum Leben? Zum Überleben, wie gesagt, generell wohl kaum – für viele Künstler allerdings doch. Die Eingangsfrage lässt sich nun aber anders stellen: Sind ästhetische Erfahrungen allgemein unverzichtbar für ein gelingendes Leben? Das bejaht in der Tat eine ganze Reihe von Philosophen. Kunst verstehen sie eng verbunden mit Ethik. Die nächste Frage ist unvermeidlich: Was ist ein gelingendes Leben?

Die konkrete Antwort darauf kann nur jeder für sich selbst geben. Wilhelm Schmid, einer der besagten Philosophen, hat Bestseller zu dem Thema geschrieben – die Frage ist durchaus populär. Kurz gefasst: Für gelingend hält Schmid ein Leben dann, wenn es bejahenswert ist, und in seiner ethischen Perspektive bedeutet das einen Zusammenhang von individuellem Glück und sozialer Verantwortung. Wer lebt, gestaltet – „Ästhetik der Existenz“ ist das von Michel Foucault übernommene Stichwort, das einen schöpferischen Umgang mit sich selbst bedeutet. Es gibt die Verantwortung zur kreativen Lebensführung. Ob jeder die Chance hat, sie wahrzunehmen, und wie das auf eine gesunde Weise durchführbar ist – Scheitern ist ja im ästhetischen Wettbewerb nichts Seltenes -, das sind andere Fragen. Schmid jedenfalls geht soweit zu sagen, Ethik lasse sich nur auf Ästhetik begründen – „auf was sonst?“

Damit sind wir noch nicht bei der Kunst angekommen, denn „Ästhetik der Existenz“ beinhaltet – und wohl zum allergrößten Teil – auch Alltagsästhetik. Zu einem bejahenswerten Leben gehören für sehr viele Menschen beispielsweise das schicke Auto, die hippen Klamotten, Selbstdarstellung im Internet, Tätowierungen und andere Gestaltungsversuche am lebenden Objekt. Unverzichtbare Ästhetik, die Umfrageergebnisse dazu lassen sich leicht vorhersagen.

Und dazu noch ein schönes Ambiente, Fotos an der Wand und womöglich ein Kunstwerk. Bücher auf dem Coffeetable, selbstverständlich Musik-Konserven oder das eigene Instrument, Heimkino – alles Standard in unserer Gesellschaft. Also nicht leicht verzichtbar.

Und wenn wir jetzt enger fokussieren, dann sehen oder hören wir Inhalte von Kunst: Christos verpackten Reichstag, einen Roman von einer angesagten Berliner Autorin, Beethovens Klavier-Trios… Da kommt die Ethik der Ästhetik noch ganz anders ins Spiel. Oder die Ästhetik der Ethik. Aber wie hängt beides zusammen? Was ist bestimmend? Steckt am Ende hinter diesen abstrakten Begriffen doch völlig Verschiedenes?

Kunst wurde von jeher in den Dienst der Moral gestellt. In der Moderne hat sich das radikal geändert, in autonomer Kunst sollte Moral keine Rolle mehr spielen. Aber beide Traditionen existieren weiterhin nebeneinander: Martha Nussbaum möchte ethische Inhalte über Erzählungen vermitteln und hält solche Erfahrungen für unverzichtbar für ein gelingendes Leben. Andere, wie Elisabeth Lenk, bestehen darauf, dass Literatur frei von jeglicher moralischer Verantwortung ist; für sie ist sie gerade das Feld vor jeder Ethik.

Der „Ethical Turn“, den die Philosophin Nussbaum anregte, setzt auf eine narrative Ethik, also darauf, dass literarische Erzählungen Leser für ethisch-moralische Inhalte und Werte sensibilisieren können. Befürworter dieser Richtung sehen positive Einflüsse der Kunst: Bessere Wahrnehmung, Anstöße zu Kreativität, Förderung von Empathie und gar Solidarität in ethischen Konflikten. Kritiker dagegen beklagen eine unangemessene Moralisierung der Kunst, die zudem in ihrer Wirkung auf die Rezipienten und ihr Leben überbewertet werde. Es sei nichts gewonnen, wenn man beiden Sphären, der Ästhetik wie der Ethik, ihre Autonomie raube.

Diese Auffassung will nicht zurück zu einer Kunst, die volkserzieherisch und didaktisch vorging, um eine bestimmte Moral und damit Lebensweise zu forcieren. Ein Extrembeispiel wären die Märchen-Fassungen der Gebrüder Grimm, die im 19. Jahrhundert „moralische Gewalt ausüben“ sollten, wie Lenk es formulierte. In ihren Augen ein Missbrauch des „poetischen Bewusstseins“, das einer Sphäre angehöre, „zu der die Moral keinen Zugang hat“. Autonome Literatur habe ihren Sinn darin, Regeln der Gesellschaft außer Kraft setzen zu können, nicht darin, sie einzuüben. Diese Auffassung der 80er Jahre wird bis heute vertreten. Die moralische Bedeutung ästhetischer Erfahrung liege gerade in der Chance, sich von Verbindlichkeiten der Lebensführung zu distanzieren, so der Philosoph Marcus Düwell in einem aktuellen Beitrag zum Thema.

Die Literaturwissenschaftlerin Ingrid Vendrell Ferran schreibt in „Die Vielfalt der Erkenntnis“, zur „existentiellen Dimension der ästhetischen Erfahrung“ gehöre, dass sie die „Integration und Harmonie des Selbst“, die „Verfeinerung der Wahrnehmung“ und die „Entwicklung der Imagination“ fördere. Ebenso „mentale Gesundheit und Gefühle der Sympathie für andere Menschen“.

Eine weit reichende Behauptung, die die These von der Unverzichtbarkeit der Kunst-Ästhetik für ein gelungenes Leben stützt. Vendrell bezieht sich dann auf Nussbaum, die die „Frage nach der Lebensführung“ nicht durch „moralische Normen“, sondern durch ein „empathisches  Imaginieren“ beantworten wolle. Vendrell meint, „literarische Vergegenwärtigungen“ vermitteln „ethische Werterkenntnis“. Nussbaum spreche „von Literatur als optischem Instrument“ – mit Poesie sieht man besser.

Hier wie meistens in ihrem Buch bezieht sich die Autorin auf das, was Literatur inhaltlich mitteilen kann. Zu der Vielfalt der Erkenntnis gehöre aber unbedingt auch, dass Kunst nicht allein den Erwerb von sachlichem Wissen ermögliche, sondern auch emotionale und atmosphärische Eindrücke. Zum Beispiel ermögliche ein Farberlebnis Erkenntnisse, die nicht ersetzbar sind durch theoretisches Wissen. Dieses „erlebnishafte Wissen“, das nicht in Sprache 1:1 übersetzbar ist, wäre dann die Sphäre der Musik, der (abstrakten) Malerei, der Performance in ihrer bildhaften Funktion etc.  Daraus könne nichts Geringeres erwachsen als „eine Revision, Umgestaltung, Verwandlung oder Erweiterung unserer elementaren Formen des Weltbezugs“.

Es ist richtig, meine ich, dass reine Inhaltsästhetik nicht der Mittelpunkt der Überlegungen sein kann. Ästhetische Erfahrungen sind immer auch formale Erfahrungen, Wahrnehmungen von Mustern und deren Störung; und die Ethik einer abstrakten Malerei ist etwas ganz anderes als die einer Hebelschen Kalendergeschichte.

Was haben wir nun praktisch von diesen Überlegungen? Wenn es gut geht, Gedankenanregungen und Argumente dafür, dass die Kunst uns etwas fürs Leben bieten kann, dass ästhetischer Genuss unser je eigener Freiraum ist, in dem wir unseren Geschmack entdecken und ihm nachgehen können. Damit bewegen wir uns bereits wieder auf dem Pfad der Ethik, denn schmeckend unterscheiden wir richtig und falsch intuitiv. Und weiter gehend erreichen wir dann das Geschmacksurteil, da treffen wir Immanuel Kant: Ästhetische Reflexion ist das Zusammenspiel von Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft. Die Moral des Kategorischen Imperativs gilt für die Kunst allerdings nicht, denn kein Werk muss kompatibel mit einer allgemeinen Regel sein. Wenn Kunst eine Moral in Frage stellt, ist das nicht unethisch.

Kunst darf sperrig und schwierig sein. Sie muss nicht schön und erbaulich sein. Auch diese ästhetische Erfahrung bietet vielfältige Möglichkeiten, sie fürs (gelingende) Leben zu nutzen.

„Wozu Kunst?“ Das ist Thema eines Diskussionsabends im Rahmen der Reihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg.

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WEG: Johannes Quint

Bekenntnis zum „Windschiefen“

Der Videokünstler und Musiktheoretiker Johannes Quint bereichert als Gast der Künstlergruppe Acht die Ausstellung WEG. Die neueste Arbeit, die er zeigt, ist das Video „Heaven“ von 2022. Dazu hier ein Interview.

artigart: Wir sehen und hören in dem Video „Heaven“ eine Art Zeichentrickfilm mit vielen parallel verlaufenden Spuren: instrumentale Klänge, Schriften in drei Sprachen, gesprochener Text, Gesang, auf der visuellen Ebene verschiedene Bild- und Textfenster, geometrische Elemente, Fotos, gegenständliche Zeichnungen, Piktogramme: Ist das eine neue Form von Orchesterpartitur?

Johannes Quint: Die Einbeziehung von Video ist in der Szene der zeitgenössischen Musik momentan angesagt. Meist in der Kombination mit aufgeführter Instrumentalmusik. Ich habe mich aber von Partituren verabschiedet und bin – so sehe ich es – in einem Niemandsland gelandet, das keinem bekannten Genre zuzuordnen ist.

Still aus „Heaven“ von Johannes Quint

Es wird eine kleine Geschichte erzählt von dem schwarzen Strichmännchen, das offenbar auf der Leiter nach oben will in den blauen Himmel. Dabei ist das Tempo, mit dem langsamen Pendel visualisiert, eher verhalten. Dann, am Schluss, gibt es einen plötzlichen Bild- und Tempowechsel, es erscheint ein roter Kopf, dem die Haare zu Berge stehen, die Musik wird dramatisch und zwei Textbänder laufen so schnell ab, dass sie unlesbar sind. Sind wir statt in „Heaven“ nun in der Hölle angekommen?

Der Text, der am Ende durchläuft ist ein Ausschnitt aus der Jakobsleiter-Geschichte aus dem Alten Testament. Ich sehe es nicht als die Hölle, sondern als Eintritt des Erhabenen.

Das kletternde Männchen mit dem Ballonkopf und auch der rote Kopf ohne Körper sind zwar lesbare Zeichen, laden aber nicht zur Identifikation ein, wie eigentlich nichts in dem Video. Die V-Effekte sind zahlreich. Sollen die Betrachter auf Distanz gehalten werden?

Nein. Man kann meine Videos als Rätselaufgaben beschreiben, für die es keine Lösung gibt. Identifikation heisst, dass man auf dem Weg an die Hand genommen wird. Es geht aber auch nicht darum, distanziert von aussen wahrzunehmen. Stattdessen gilt es, die Verbindung der akustischen und optischen Objekte selber herzustellen. Die langsame Zeit stellt dazu einen Raum zur Verfügung.

In den üblichen Musikvideos sind Bild, Musik und Sprache redundant, verstärken sich gegenseitig und sorgen für ein eingängiges emotionales Erlebnis. In „Heaven“ wird Redundanz eher vermieden. Es ist nicht leicht, die Fragmente, die in Abständen auftauchen, in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Hohe Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung sind gefragt, gerade weil die Beobachtungsspanne zeitlich gedehnt wird. Ist eine gewisse Überforderung des Rezipienten gewollt?

Es geht um eine je eigene Sinnstiftung. Dazu passt, dass die Videos, die durch Algorithmen generiert werden, immer wieder neue Fassungen ergeben. Ob dabei eine Überforderung entsteht? Ich denke, jeder wird das anders empfinden.

Das Ganze wie auch viele Details wirken am Ende ja auch sehr ironisch. Man könnte sich mit einem Amusement begnügen, es einfach „rauchend genießen“, wie Brecht es vorschlug. Haben wir es bei „Heaven“ mit einer Persiflage auf das Aufwärtsstreben, mit einer Demontage romantischer Formen zu tun?

Nein. Dekonstruktion in der Kunst ist für mich passé. Mich interessieren die ‚großen‘ Themen, die ich ernst nehme, zum Beispiel: Warum komme ich nicht in den Himmel? Vor den Fragen, die hier gestellt werden, sind wir aber klein, und unsere Darstellung wird immer windschief sein. Anders als die vielen bedeutungsschwangeren Celan- oder Hölderlin-Vertonungen versuche ich, mich zu diesem Windschiefen zu bekennen. Gerne auch witzig, aber keine Persiflage und erst recht keine Demontage.

johannes-quint.de

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WEG: Mark Met

Zum strammen Hund

Zeichnung/Collage von Mark Met

Der Stammtisch hat drei Plätze, sie warten auf Karl Marx, Friedrich Engels und Heinrich Heine. Die, so Mark Met, treffen sich nach der Arbeit in Kircheib in der Kneipe „Zum strammen Hund“, um einen zu trinken. Zur Einrichtung gehören noch ein Sideboard mit Oldtimerradio, fünf Zeichnungen von Met an der Wand und das Kneipenschild aus Holz über dem Tisch mit dem Schriftzug „Zum strammen Hund“.

Bei der Eröffnung der Ausstellung „WEG“ der Künstlergruppe Acht war dieses Szenario die Bühne für die Performance von Mark Met, bei der er den Doppelsinn von „Weg“ und „weg“ anhand von Urlaubspostkarten und Ausstellungseinladungen umspielte. Keines der Urlaubsziele wirkte so richtig attraktiv; die Postkartenbilder von Bettenburgen und ähnlichem waren eher entlarvend. Also weg damit; hin geht es dagegen zu den Ausstellungen (nicht nur von Met), deren Einladungstexte der Performer zitierte. Plastikköpfe von Kinderhandpuppen fürs Kasperle-Theater spielten bei dem Auftritt eine Rolle, genau die Klischeefiguren, die auch als Motive in den Zeichnungen auf Papier erscheinen.

Das surrealistisch anmutende Zusammentreffen von Handpuppe, Affe und Figur mit Totenschädel vor einem ornamentalen Hintergrund auf der hier abgebildeten Arbeit folgt einem Montageprinzip, das auch technisch durch das Collagieren von Zeichnungsauschnitten präsent ist. So wie Met die Stereotypen zusammenzwingt, lässt er Karikaturen der Phantasie entstehen, die spätestens auf den zweiten Blick keineswegs lustig sind. Diese Bildarbeit hat der Künstler ausführlich in seinem Buch „Met. Climate of Hunger“ geleistet (siehe dazu den Text „Met, das rote Buch“ in diesem Blog).

Die Zeichnungen/Collagen und die Relikte der Performance auf dem Tisch sind nun als Gesamtensemble der Beitrag des Künstlers zur Ausstellung. Man darf am Tisch Platz nehmen – aber natürlich nur solange, bis Karl, Fritz und Henri kommen.

markmet.eu

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WEG: Carola Willbrand

Verzweigt

„Leben in den Zweigen“, verwobene Äste mit Objekt, von Carola Willbrand

Die Gepäckstücke, die Carola Willbrand an zwei Positionen in der Kulturwerkstatt abgestellt hat, haben offenbar ihre Geschichte. Die kompakten Bündel, das eine in erdiger, das andere in blau-grüner Farbigkeit, machen einen morbiden Eindruck. Die Oberflächen mit ihren Kratern und Rissen sehen stark verwittert aus. Mit Lederriemen sind die Pakete auf Trolleys befestigt. Beweglich sind die Altertümchen – „Auf dem Weg“ ist ihr gemeinsamer Titel.

Der Eindruck des Historischen trügt nicht. Die Künstlerin hat abgelegte Kleidungsstücke von Mitgliedern ihrer Familie, es können auch eigene darunter sein, zu „Körpern“ geformt, wie sie sagt. Die Riemen sind Hundeleinen, die ihrer Mutter gehörten (eine Hundemarke der Stadt Köln hängt noch daran). Die Textilien hat sie mit Knochenleim und Pigmenten überzogen. Der Leim entwickelt die rissige, schrundige Oberfläche, wenn er der Witterung ausgesetzt wird.

Die Bildsprache, die informelle Malerei entwickelt hat, um die Rätsel des Sichtbaren jenseits des Gegenständlichen zu erkunden, setzt Willbrand auf ihren Objekten ein, um eine Ästhetik des Archäologischen zu entwickeln. Das Material kann für sie mit konkreten Erinnerungen behaftet sein; dem Betrachter teilt sich die Aura der Zeugenschaft an Erlebtem atmosphärisch mit.

Fotos, eingearbeitet in Objekte, sind ebenso wie die Textilien Stoff der Erinnerung wie Anlass zu Fragen an die Vergangenheit, so in der dritten Arbeit von Carola Willbrand in Kircheib: „Leben in den Zweigen“.  Die ineinander verflochtenen Ranken sind eher Nest als Pflanzenornament. Das Gewirr der Zweige ist eine Zeichnung auf der Wand, in die sich ein gelb-grünes Objekt einfügt. Die Schlingenform war einmal eine Strumpfhose. Mit Pigmenten und diesmal Kunstharzleim, der sich im Freien nicht so stark verändert, wird das dünne weiche Material zur stabilen Plastik.   

„Die Materialien des täglichen Gebrauchs sind das Lebensmaterial zur Wiederverwendung“, schreibt Willbrand in einem Text zu ihrem Werk. Was sie zeigt, ist indes mehr als „upcycling“ von Abgelegtem zu Kunst-Material. Ihre Objekte wirken auch wie eine Beschwörung des gelebten Lebens, das nicht einfach nur Vergangenheit ist.

carolawillbrand.de

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WEG: Ilse Wegmann

Auf nach Island

Silhouette eines isländischen Campingwagens, von Ilse Wegmann

Der Besuch auf dem verlassenen Campingplatz in der Nähe der Kulturwerkstatt Kircheib hat die Künstlerin Ilse Wegmann zu Objekten und einer kleinen Geschichte inspiriert. „NUR WEG HIER“ ist sie überschrieben:

„Keine Menschenseele, nur zerrüttete Wohnwagen und Hütten, allerlei Hausrat wie ausgeschüttet. Hin und wieder verwilderte Rosen. Was war wann geschehen? War es eine Epidemie, eine Insektenplage, ein Giftanschlag oder ein Überfall?

Die Camper ließen hurtig futuristisch anmutende, monströse, zu einem Paket zusammengefaltete Wohnquartiere auf Rädern direkt aus Island einfliegen. Mit einem Treck machten sich die Flüchtenden auf, um sich auf dem isländischen Inselparadies anzusiedeln, wo es noch genügend Oasen für Camper an frischer Luft gab.“

Da haben wir also ein Happyend, was in der Dystopie nicht zu erwarten war. Zumal sich dem Blick auf die tiefschwarzen Teile der Installation von Wegmann kaum Heiteres bietet. Die „Wohnquartiere auf Rädern“ zeigt sie als Silhouetten aus Bitumenpappe. An der Wand ist die ins Zweidimensionale abstrahierte Form eines solchen Gefährts entfaltet. Ein ausladendes Unikum, nicht aus dem Universum der schicken Campermobile. Ilse Wegmann hat bei einem Arbeitsaufenthalt auf Island in einem solchen Gehäuse gewohnt.

Zusammengestaucht zum kleinen Paket liegt ein zweites Exemplar auf einer Säule, diese ebenfalls aus schwarzer Pappe gefertigt. Ironischerweise ruht das Päckchen auf kleinen Rollen, auf denen sich der Wagen nicht weit bewegen könnte. Allenfalls eine Fahrt im Kreis um die eigene Achse ließe sich machen.

Die dritte, teilweise gefaltete Variante präsentiert sie auf einem weißen Holzbock. Eine Schnur hält die eingeklappten Seiten zusammen, am Ende ist ein Schlüssel angebunden. Den immerhin braucht man, um in Island ins mobile Heim zu kommen. Oder um erst damit loszufahren, in die Oase an der frischen Luft.

Die Scherenschnitte von geradezu dramatischer Präsenz wirken über die Bedeutung durch Wegmanns biografisch motivierten Text hinaus. Was in drei Bildern geschildert wird, ist auch für andere Assoziationen offen. Die Betrachter können dafür ihre eigenen Schlüssel verwenden.

artigart.de/keine-angst-vor-nylonstrippen

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WEG: Sonja Karle

Die Wilden kehren zurück

Foto O.T., Detail vom alten Kircheiber Campingplatz, von Sonja Karle

Mit der morbiden Szenerie des alten Kircheiber Campingplatzes hat sich Sonja Karle intensiv fotografisch auseinandergesetzt. Ihr selbst angefertigtes Fotoalbum-Unikat mit 25 Farbaufnahmen vermittelt erschreckende wie kuriose Eindrücke aus der einstigen und nun zerstörten Idylle, wobei der ästhetisch-formale Anspruch an die Bilder nicht hinter dem dokumentarischen rangiert.

Neben dem Bilderalbum liegt ein zweites, kleineres Buch, ein handelsübliches „Minifotoalbum“, das nun aber kurze Texte der Künstlerin enthält. „Am Rand zeigen wir Zähne und locken dann mit Fahnen und farbigen Lippen“: Solch poetische Aussagen entwickelt Karle aus dem Vokabular botanischer Beschreibungen. Es sind Pflanzenteile, die  metaphorisch mit Begriffen für den menschlichen Körper und Dingbegriffen benannt werden.

Indem die Künstlerin sie zum Subjekt einer Aussage macht, zu einem lyrischen Wir, betont sie die Rolle, die die Pflanzen auch in den Fotografien spielen. Sie überwuchern und durchwachsen die zurückgelassenen Campingwagen und Utensilien, daher erklärt sich der Titel der Arbeit „Die Wilden kehren zurück und erobern das Terrain. Keine Geschichte“. 

Und der Mensch? Hat den Platz verlassen und ist nurmehr indirekt präsent, in seinen Spuren und am deutlichsten in der Digitalcollage, die bei den Alben hängt: Auf der Camouflage-ähnlichen Struktur von Platanenrinde erscheint die grafische Darstellung einer menschlichen Figur mit der Karte von Hautarealen. Die Strukturen durchdringen sich, Rinde und Haut scheinen zu verwachsen. Wo ist die Grenze zwischen den Lebewesen?

Die zweite Installation von Sonja Karle in der Ausstellung „WEG“ verbindet wiederum Fotos mit einer Digitalcollage, die jetzt die Verbindung von Mensch und Tier zum Thema hat: Wie Röntgenaufnahmen erscheinen der Körper des „Großen Puppenmörders“ und das in die Form des so martialisch benannten Käfers eingepasste menschliche Skelett. Das Unheimliche, das die Bilder vom verlassenen Gelände zeigen, lenkt Karle damit in die Richtung existenzieller Dramatik. An Kafkas „Verwandlung“ darf man hier zu Recht denken.

sonjakarle.eu

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WEG: Matthijs Muller

Uhrwerk mit Kapriolen

„Auszeit“ von Matthijs Muller

Das Geräusch fällt den Besuchern sogleich beim Betreten des Ausstellungsraums auf: „Klack“ und immer wieder „Klack“ schlagen die Plastikgitter eines ganzen Waldes von Fliegenklatschen aufeinander. Rote, grüne und gelbe Exemplare drehen sich, montiert an einem Uhrwerk mit sechs Motoren, auf Matthijs Mullers Maschine. Eine Konstruktion aus MDF-Platten, schnörkellose Architektur, trägt die Mechanik.

Die Fliegenklatschen klatschen, treffen aber keine Fliegen, allenfalls fächeln sie ein bisschen Luft. Wer darauf achtet, in welchem Takt sich die Plastikarme bewegen, erlebt eine gewisse Regelmäßigkeit. Es braucht allerdings einige Geduld, um den gesamten Ablauf zu erfassen. Das Uhrwerk schlägt im Sekundentakt, Zehn-Sekunden-, Minuten-, Zehn-Minuten-, Stunden und Zehn-Stunden-Takt mit je verschiedenen Armen.

Es lohnt sich, das Objekt zu umrunden und sich das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven anzuschauen. Wer zehn Stunden mitspielen würde, hätte trotzdem Mühe, das Verhalten der Maschine ganz zu erfassen. Der Künstler hat zusätzlich mehrere Klatsch-Variationen programmiert, die den Zufall mit ins Spiel bringen. Quer durch den regelmäßigen Takt gibt es hin und wieder Kapriolen. In jedem Fall beschert die bewegte Installation dem faszinierten Betrachter eine meditative „Auszeit“ – und so heißt das Werk auch.

Das Thema Zeit ist hier auf sehr ungewöhnliche Weise ins Bild gesetzt. Paradoxerweise steht die Maschine nicht still, obwohl sie ja die Zeit scheinbar totschlagen möchte. Sie läuft präzise, wie ein Uhrwerk es soll, weicht aber vom Gleichmaß des normalen Zeittaktes ab. Gemessene und erlebte Zeit sind bekanntlich nie deckungsgleich, auch dafür liefert die „Auszeit“ ein spielerisches Modell.

matthijs-muller.eu

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WEG: Inge Kamps

Welt in Scherben

Still aus „Waldscherben“ von Inge Kamps

Der Ort eines misslungenen Lebens, einer gescheiterten Gesellschaft, ist der Un-Ort, heute allgemein mit dem Fremdwort Dystopie bezeichnet, bekannt aus Film und Literatur. Diesem hoffnungskritischen Genre fügt Inge Kamps kein neues Science-Fiction-Werk hinzu. Die Fotografin, Videokünstlerin und Malerin hält sich vielmehr an das Reale und Naheliegende, an die Szenen, die wir in unserem Umfeld erleben können. Das ist einmal der verlassene Campingplatz in Kircheib, wenige Gehminuten von der Kulturwerkstatt entfernt. Das sind zum anderen die zerstörten Wälder in der Region. Dystopien des Alltags.

„Campingplatz“ ist der schlicht sachliche Titel der Video-Arbeit, die sich mit dem Areal beschäftigt, das einmal die Inspirationsquelle für die Ausstellung „Weg“ der Künstlergruppe Acht war. Von Pflanzen überwuchert stehen dort verfallene Wohnwagen und Hütten; das vergammelte Mobiliar, Kleidungsstücke und Essensreste auf Tischen vermitteln den Eindruck, als seien die Bewohner allesamt schlagartig geflohen und nie wiedergekehrt. Diesem geheimnisvollen Unort widmet Inge Kamps sechs Filmsequenzen von je ein bis zwei Minuten Länge, sechs kurze Erkundungsgänge über das Areal, die jeweils in einem Standbild enden. Die unheimliche Atmosphäre wird auf dem Farbmonitor deutlich. Der Sound der munter zwitschernden Vögel wirkt wie ein ironischer Kommentar dazu.

Das Ende der nicht fahrbereiten Campingwagen war offenbar ausweglos. Das gilt auch für das Schicksal des Forstes in der zweiten Videoarbeit: „Waldscherben“. Die Dramatik der Zerstörung durch Trockenhheit und Borkenkäfer in den Fichtenbeständen macht Inge Kamps durch eine schnelle Folge in Bewegung gebrachter Schwarz-Weiß-Fotos und darüber geblendeter Videosequenzen deutlich. Die Strukturen der Äste und Stämme, die am Boden liegen, stellt sie heraus und verfremdet sie geichzeitig durch die Überlagerungen der Bilder und ihre Auflösung in weiße Flächen (Weißblende). Das bewegte Ornament in dem Zwei-Minuten-Video ist mit einem elektronischen Sound unterlegt, der noch einmal die Bewegung forciert, die Dramatik verstärkt. Der brasilianische Komponist Paulo Chagas hat den Klang zerbrochener Glasscherben nachempfunden, was auch den Titel der Arbeit „Waldscherben“ erklärt.

Einen Ausweg kann auch die „Lehrtafel Erde“ nicht bieten, die dritte Arbeit von Inge Kamps in der Ausstellung. Es sei denn, man hält die Schönheit dieser informellen Malerei auf Seiten eines Atlanten nun doch für ein Residuum der positiven Utopie. Anderseits ist die Erde hier in zwei Teile zerfallen und die Milchstraße zerfließt in Farbschlieren. Nichts ist – zum Glück – ganz eindeutig in diesen drei Beiträgen.

kamps-lab.de

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WEG: Sabine Hack

Flechten und Verknüpfen

„Flechtwerk der Erinnerungen“, Rauminstallation von Sabine Hack

Wege kreuzen und verbinden sich, in der Landschaft wie in der Erinnerung, genauso streben sie auseinander. Das „Flechtwerk der Erinnerungen“ von Sabine Hack in der Kircheiber Ausstellung zeigt schon dem ersten Blick darauf, wie vielschichtig die Geschichte und die Geschichten sind und bleiben, auch wenn sie in einem Bild für einen Ort kulminieren.

So heterogen wie der Inhalt sind Form und Material: Das große Wandbild mit bedruckten und bestickten Stoffen fließt förmlich in den Raum. Tücher verschiedener Formate und Farben hängen und liegen wie zufällig da. Zwei Bilderrahmen und ein Sockel mit einer Pferdefigur flankieren den Mittelteil. Das steigende Pferd aus weißem Porzellan mit einem überlangen Schweif aus goldfarbenem Stickgarn ist nur eines der Tiere, die hier eine Rolle spielen. Es gibt ein zweites Pferd, eine Silhouette aus rotem Garn gestickt auf grün strukturiertem Papier; es gibt diverse Singvögel und Eulen, doch dominant sind die beiden Wölfe. Der eine schaut den Betrachter aus dem Zentrum der Installation heraus an, vor den Birkenstämmen breitet er seine Vorderläufe aus wie Arme – eine ungewöhnlich einladende Geste für das Raubtier. Wie ein Wasserfall (nicht farblich, aber in der Form) entspringt hier das tarnnetzartige Tuch, das in einen Brokatstoff mündet und sich auf weitere Textilien erstreckt, die zum Teil biografische Bedeutung für die Künstlerin haben.

Der Wolf, so Sabine Hack, ist nicht allein das märchenhafte, mythische Motiv, sondern gleichzeitig das aktuelleste ihrer Arbeit für die Ausstellung „WEG“ in der Kulturwerkstatt Kircheib: Er ist präsent in den Wäldern um den Ort, seine Spuren findet sie bis in ihren häuslichen Garten wenige Kilometer von Kircheib entfernt.

Die Pferde in ihren heraldischen Posen sind dagegen ein visuelles Echo aus fernen Zeiten: 1796 traf französische und österreichische Kavallerie, gefolgt von Infanteristen, in der Schlacht von Kircheib aufeinander. An die 2000 Tote blieben auf dem Feld; ein Gedenkstein in der Nähe des Ortes erinnert daran.

Die Textilien mit ihren Tiermotiven und Pflanzenornamenten deuten Geschichten an, die schon handwerklich auf dem Verknüpfen von Fäden beruhen. Das gesamte „Flechtwerk“ mit seinen Assoziationen anregenden Weg-Verbindungen spricht auf seine Weise auch von den nur abwesend anwesenden Menschen, die in diesen Verflechtungen lebten und heute leben.

http://sabine-hack.de

Umwege, Auswege

„Wege“. Tusche auf Faltplan, 100 x 130 cm. 2022

Die Zeichnung oben entstand für das Ausstellungsprojekt „WEG“ der Künstlergruppe Acht. Die Objektsprache eines Faltplans von Italien hatte mich gereizt, gegen die strikt vermessene Zeichnung von Wegeverbindungen, Orten und Grenzen etwas zu setzen, eine andere, lebendige, auch planlose Form von Wegen. Die gedruckte Karte ist kaum zu erkennen; ich habe die Rückseite mit ihrer regelmäßigen Faltstruktur benutzt. Die Tuschelinien entstanden spontan, gestisch, mit dem Pinsel und geschüttet.

Ich schicke das voraus, damit nicht das Missverständnis entsteht, mir sei es beim Zeichnen um die Illustrierung der folgenden Gedanken gegangen. Die Zeichnung hat zunächst einmal ihre eigenen Wege genommen. Das, was entstanden ist, löst erst im Nach-Denken die verbale Umschreibung der sichtbaren Gestalt aus.

Das Netzwerk der Italienkarte – es spielt keine Rolle, dass es Italien ist – ist etwas fundamental anderes als die Weg-Zeichnung. Im Liniennetz werden Orte durch Strecken verbunden, die einen möglichst kurzen Weg weisen. Autobahnen und Eisenbahnlinien nehmen dabei viel weniger Rücksicht auf die Topografie und die Anwohner als die kleinen Straßen, die einmal auf den Wegen früherer Fußpfade entstanden sind. Es geht um Tempo, um die kürzeste Verbindung zu den Verknüpfungspunkten. Die Dauer des Weges wird eher als Nachteil empfunden. Transportwege müssen kurz sein, fordert die Ökonomie. Zeit ist Macht – das gilt für Rohstoffe, für Waren, für Daten und auch für Menschen. In den Machtspielen um Verbindungslinien ist das aktuelle Stichwort „Pipeline“.

Ganz anders die Wanderung, die offen ist für Umwege, die sich Zeit nimmt für Entdeckungen. Man hat ein Ziel, kann es aber auch ändern. Es geht nicht in erster Linie ums Ankommen.  Solche Wege, meist Fußwege, stehen in einem inneren Zusammenhang mit den Wegen der Naturvölker, die aus ihren Erwanderungen in verschiedenen Formen ihre eigenen Karten entwarfen, Flechtwerke von Lebenslinien, die im Gegensatz zu den Messtischblättern verworren und voller Poesie erscheinen – was sie ja auch waren.

Solches „Wandern ist weder ort-los noch ort-gebunden, es ist ort-schaffend“, schreibt  Tim Ingold in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Linien“. In seinem Text ist der metaphorische Sinn des Wege-Findens zentral: Es geht immer auch um die gestische Zeichnung, die ihre Spur und ihre Wegmarken setzt, als entschieden subjektiver Akt. „Die Spur der Geste bzw. die Linie, die sich in einem Spaziergang frei ergeht, hat nicht das Geringste mit der Disziplin der Kartografie zu tun. Anstatt ein Teil der Karte zu werden, gilt sie als zu tilgende Störung“, so Ingold im Zusammenhang mit Handzeichnungen auf Karten.

Ganz so sehe ich die Wege, die vergleichbar dem gestikulierenden Schildern gezeichnet  werden – Richtungen zeigend, Verläufe andeutend, Dauer signalisierend. Dabei ist die Freiheit des Wanderns bedingt, wie alle Freiheit. Meine Zeichnung auf der Rückseite der regelmäßig gefalteten Karte, vielleicht diese nun eine getilgte, wird beeinflusst von deren reliefartiger Struktur. Die scheinbar ziellos fließende Tusche ändert ihren Verlauf an den Kanten, wird geführt, nimmt eine neue Richtung, schafft Anschlüsse, bietet Auswege. Der breite Pinselzug rechts scheint nicht überwindbar, die Linien machen davor Halt. Da wo die Wege enden, ist kein wirkliches Ende, kein fester Ort.

So schwierig es ist, einen lebendigen Fluss zu kartieren, so wenig lässt sich diese Wegzeichnung fassen. Ihre Ziele liegen wohl jenseits des Plans.

„Wege“, teilweise gefaltet

Die Ausstellung „WEG“ in der Kulturwerkstatt Kircheib beginnt am 23. Oktober um 14 Uhr. Geöffnet bis 4. Dezember jeweils Fr, Sa, So 14 bis 18 Uhr. kulturwerkstatt-kircheib.de

Kitschkunst, Kunstkitsch

Ist es nicht verwunderlich, dass eher selten von Kitsch die Rede ist, obwohl er uns im Alltag eigentlich ständig verfolgt? Es gibt jede Menge Fachhändler für Kitschobjekte: Ein-Euro-Läden, Baumärkte, Grabsteinanbieter, Dekobedarfsläden, gewisse Bildergalerien und nicht zuletzt die Trödelmärkte. Und die entsprechend gestalteten Haushalte. Von deren wohlmeinenden Mitgliedern erreichen uns dann die Geschenke, über die wir uns so sehr freuen

Aber abgesehen von solchen Attacken, was kümmert mich der Kitsch, wenn ich mich nicht dafür interessiere, sondern für Kunst? In dem Genre erreicht mich doch der Trash nicht? So einfach ist es, bei der Zipfelmütze des Gartenzwergs, leider nicht. Kitsch schleicht sich gerne in die Kunstwelt ein, hat es immer getan.  Das fängt schon an mit den Bild-Ausschnitten – gezielt fokussierte Teile – von alten Gemälden, die massenhaft reproduziert die Kunst zum Kitsch machen. Raffael ist ein beliebtes Opfer solcher Machenschaften. Obwohl: Einge seiner Madonnen eignen sich auch gut dafür. Wenn aber die Putten, die am unteren Bildrand der Sixtinischen Madonna flügellahm sinnieren, extrahiert und für sich als Bild präsentiert werden, erfüllen sie einzig und allein ein Kitschbedürfnis.

In der Romantik – der Epoche, in der der Kitsch erfunden wurde – verschwimmt die  Grenze zur Kunst immer wieder, bei Runge, bei Spitzweg …

Don Quixote, dem Kitsch ausgeliefert. Zum Haare raufen – wenn man welche hat.

Und heute? Mit einem Sprung in die Gegenwart enteilt keiner dem Kunstkitsch oder der Kitschkunst, wenn er zum Beispiel bei Jeff Koons landet. Seine kunterbunten banalen Motive spalten die Kritikerzunft in die Riege der Verächter, die das für Kitsch halten, und die der Wohlwollenden, die es für einen gelungenen Coup von Koons halten, die Kitschmotive in die Kunst krachen zu lassen – endlich wieder ein Tabubruch.

Ich halte Koons‘ Objekte für eine neue Art von Kitsch. Neu daran ist vor allem das beinharte Marketing, mit dem die Firma Koons es schafft, den Trödel im Kunstsystem für Millionen Dollar loszuschlagen. Da haben wir den elitären Dekobedarfsladen für Stinkreiche.

Doch damit geht die Fragerei ja erst richtig los. Was ist denn nun Kitsch, wie erkenne ich ihn und vor allem: Wie unterscheide ich Kitsch von Kunst? Ein abendfüllendes Thema.

Es gibt diverse Theorien über den Kitsch. Fürs erste halte ich es aber für spannender, einmal eine Theorie des Kitsches anzuschauen, um nicht von vorneherein ein Minuszeichen vor die Sache zu setzen. Wie erzeuge ich Kitsch? Anleitungen dazu verwenden das negativ besetzte Wort nicht. Es geht um das schöne Heim, die erfreuliche Gestaltung, die künstlerisch aparte Atmosphäre oder ähnliches. Der Ratgeber-Markt dafür entwickelte sich sprunghaft im 19. Jahrhundert, auf ihm waren Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“ platziert, einschlägige Bücher und gesellige Abende mit „populären kunstgewerblichen Vorträgen“. In einer so übertitelten Reihe erschien 1883 der Text „Die künstlerische Ausstattung der bürgerlichen Wohnung“ von Friedrich Fischbach. Der aus Aachen stammende „Director der Kunstgewerbeschule St. Gallen“ machte dezidierte Vorschläge. Weil es sonst den Rahmen sprengt, hier nur das Wichtigste:  Die Architektur soll reich geschmückt sein mit Pilastern, Gesimsen, Holztäfelung und Deckenstuck. Auf der so grundierten Wand macht sich gut die Reproduktion einer Madonna von Raffael – da ist er -, denn „Bilder sollen erheben und erfreuen“ und „die Darstellung der Mutterliebe, des häuslichen Glückes erfreuen Jedermann“. Speziell für Kinder soll die Kunst im Heim „die drastische Phantastik der Märchenwelt“ vor Augen führen, „für Jünglinge und Jungfrauen die ideale Welt der nordischen und griechischen Mythen“. Und der „Dreiklang der Daseinsfreude: >Liebe, Wein und Gesang<“ sei „in der bildenden Kunst unendlich zu variieren“.

Das Haus ist der „Tempel der Schönheit“, so Fachmann Fischbach, und der „gottbegnadete Künstler“ stärke mit seinen Beiträgen „unseren Glauben an die edle Herzenseinfalt und kernige Biederkeit“ des deutschen Volkes. Diese Phrasen waren in aller Einfalt ernst gemeint.

Fischbach, jetzt als Synonym für solche Kitsch-Klischees genommen, ist vorbei, aber das Phänomen bleibt bis heute bestehen. Ausdruck der reinen Daseinsfreude, erfreuliche Atmosphäre, ein Faible für Schönes, dabei alles ausgeblendet, was nicht in die heile Welt passt: Voilà, le Kitsch.

Ja, das deutsche Wort, wahrscheinlich 1860 erstmals verwendet von dem Schriftsteller Wolfgang Müller in Königswinter, ist so speziell und unübersetzbar, dass es auch im Englischen, Französischen, Griechischen und Türkischen verwendet wird. Wikipedia erklärt den Begriff als abwertend verwendet für „minderwertigen Gefühlsausdruck“. Wann ist ein Gefühlsausdruck minderwertig? Jedenfalls dann, wenn er nicht echt ist.

Die Differenz von Kitsch und Kunst lässt sich so bestimmen: Ein Kunstwerk ist interpretierbar, weckt das Bedürfnis nach Deutung, der Kitsch dagegen nicht; er ist eindeutig und (unter)hält passiv. Es handelt sich immer um Stereotype, um die vermeintlichen populären Gewissheiten. Die Offenheit und Vielschichtigkeit von Kunstwerken stünde demnach dem Kitsch fremd gegenüber.

Der Kitschtest für Artefakte, die mit einer Kunstbehauptung auftreten, ist allerdings nicht so einfach zu handhaben. Denn Künstler spielen gerne mal mit Kitsch, machen ihn zum Inhalt ihrer Arbeit. Aber ist das Werk deswegen kitschig? Wesentlich entscheidend ist, in welcher Form die populären Klischees verarbeitet werden. In den Collagen von Max Ernst entstehen aus den banalen Vorlagen rätselhafte und faszinierende surreale Räume. Der Pop-Artist Claes Oldenburg präsentiert alltägliche Gegenstände wie einen Apfelkitsch (das Wort passt wunderbar, ist aber etymologisch nicht verwandt) in inadäquatem Material, wie z.B. weichem Stoff, und riesig vergrößert. Diese deutlich ironische Geste bricht das Klischee.

Von Oldenburgs ironischem Kunstgriff hat Koons gelernt: Auch er übersteigert die Dimensionen seiner Motive, der bunten Blumensträuße und Luftballons. Doch die Ironie verblaßt im Ansatz vor der Erhabenheit der hochglanzpolierten Objekte in edlem Material. Koons produziert – oder lässt produzieren – für den Kunstmarkt der Investoren, die Millionen für ein solches Objekt bezahlen. Seine Werke sollen unkompliziert und für jeden verständlich sein. Nichts steckt dahinter, aber das Publikum darf staunen: über die handwerkliche Perfektion, Glanz und Größe und die astronomischen Preise. Fischbach wäre sicher begeistert.

Überzuckert. Meine Metapher für Kitsch ist das übertrieben Süße. Eine fotorealistische Malerei von Sarah Graham ist das passende Bild dazu: In ihrer Serie „Wilderness of Kitsch“ zeigt sie eine Anhäufung von Süßigkeiten in ihren bunten Verpackungen. Die britische Künstlerin präsentiert den Alltagskitsch, häuft ihn auf zu einer geschlossenen Welt des Süßen. Mit ihrem versuchten Kurzschluss von Kitsch und Kunst will Graham dem Kitsch wohl entgehen. Knifflig, doch ich sehe im Klischee hier nur das Klischee. Interpretieren lässt sich da weiter nichts. Sonst könnte ich auch gleich die Süßigkeiten im Supermarkt interpretieren. Wie sagte Clement Greenberg: Kitsch „ist für den Betrachter vorgekaute Kunst“.

Ein mögliches Fazit: Wenn die Kunst Kitsch verarbeitet, können vielschichtige und produktive Werke  entstehen. Wenn umgekehrt der Kitsch Kunst verarbeitet, dann dient der Kunstanspruch missbräuchlich allein der sozialen und kommerziellen Aufwertung des Eindimensionalen, der gefälschten Gefühle für „edle Herzenseinfalt“.

Die Sitzecke als Falle

So viel Widerspruch, wie ihn die Aussagen von Noemi Smolik bei mir hervorrufen, ist nicht gut zu übermitteln. Es ist halt alles falsch an ihren Thesen zur Kunst anlässlich der documenta 15, abgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Kunstforum. Dieser Gegenstand der Kritik und eben meine Kritik drohen, in ein quantitatives Mißverhältnis zu geraten.

Lieber reagiere ich erst einmal angemessen: satirisch.

Gelesen habe ich, bei  der schätzenswerten Noemi Smolik also, das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa habe kuratiert, auf der d15 „nicht einzelne Kunstwerke“ zu zeigen, sondern weitere Kollektive eingeladen, um deren Aktivitäten zu diskutieren. Und deshalb begegne der Besucher in der Kasseler Ausstellung „überall vielen Sitzecken“. Jetzt wird’s gemütlich, dachte ich spontan erfreut, endlich muss ich der Kunst nicht gehend und stehend und gehend den Wegezoll entrichten. „Sitzecken“, das hätte Duchamp auch einfallen können. Obwohl – seine Fountain, nicht weit vom Sofa, ist ja auch durchaus praktisch.

Das will ich sehen, ganz klar. Aber deswegen ab nach Kassel? Nicht nötig, 15 Minuten von meinem Zuhause gibt es ein Möbelgeschäft. Mit Sitzecken, vielen, sogar Liegeecken. Meist sind die riesig und haben gedeckte Farben; viel seriöses Grau, etwas langweilig. Aber da steht auch ein quietschbunter Ecksitz, das gerade im Preis reduzierte Modell Lumbung aus Biobaumwolle mit Reisfüllung…

Darauf lässt sich bequem räsonnieren, auch über trockene Themen wie den „modernen Kunstbegriff“, den Expertin Smolik mal im Norden, mal im Westen ansiedelt. Aber eben nicht im Süden, woher der Kaffee kommt, den wir in der Sitzecke trinken, darauf kommt es an. „Der moderne Kunstbegriff“, sagt die Bonner Kunsthistorikerin, “ ist nur eine lokale Erscheinung. Aber vor allem in der Geschichte der Menschheit nur ein kurze Episode“. Denn das Ende sei nahe, das des Kunstbegriffs, nach dem ein „Individuum“, oh je, der „Künstler*in“, ein „autonomes Objekt“ erschaffe für „ein individuelles Betrachten“. Zwei Einsame, und dann auch noch ein autonomes Objekt, das ist wirklich hart. Ein Staubsaugerroboter fährt jetzt zwischen den Sitzecken herum.

Und dann will dieser nordwestliche Kunstbegriff auch noch auf der ganzen Welt gelten, dieser Kolonialist. Womit dann in Süd und Ost ganz andere Kunstbegriffe unterdrückt werden. Deswegen, sie hat es gesehen, laufen in Kassel Filme, die den Verlust der eigenen Lieder und Rituale betrauern, den Verlust der „kulturellen Identität“.

Die indonesischen Lieder und Rituale sind weg? Ja wenn… Sie sind jetzt alle auf youtube, zu sehen und zu hören; sie haben Millionen Klicks.

Genug der Albernheiten. Ich kappe diesen Faden meiner Erzählung und versuche, Haltung zu bewahren. Obwohl ich eben nicht verstehe, wie die zitierte Autorin, von der ich gute Texte kenne, ein solches Zerrbild des modernen Kunstverständnisses entwerfen kann. Der ursprünglich europäische Kunstbegriff, der tatsächlich längst so global ist wie der Kunstmarkt, war immer ein offener Begriff, immer vielfältig und veränderbar. Der Künstlerhabitus des einsamen Helden an der Staffelei war und ist zugleich Mittel der sozialen Positionierung, Marketing und Ziel der künstlerischen Kritik. Die Autonomie als Freiheitsbegriff ist nie zu denken ohne den gesellschaftlichen Hintergrund, ohne das soziale Feld. Doch bei alldem meint dieser Begriff die Möglichkeit, dass jeder seine Kunst machen kann – so wie er es für richtig hält.

Autonomiestreben verhindert Gemeinsamkeit keineswegs. Demokratische Kollektive haben Künstler schon im 18. Jahrhundert gegründet, die Engländer waren da Vorreiter. 1735 übrigens im Kulturkampf Insel gegen Kontinent, ein Vorläufer heutiger Debatten bereits am Beginn der Moderne. Und seitdem suchten unzählige Gruppen, Vereine, Kommunen usw. ihren kollektiven Sinn im Rahmen des modernen Kunstbegriffs. Kollektive galt es aber in der Geschichte oft auch zu überwinden, wenn sie diktatorisch auftraten.

„Partizipative Kunst“ wiederum meint im Fachjargon alles, was seit 1919 (als Duchamp seine Schwester einspannte, um ein Werk zu entwickeln) das Publikum einbezieht. Die Beispiele sind Legion, hier nur zwei: Joseph Beuys hat zu dem Thema gerade in Kassel seine Spuren hinterlassen. Und Gunter Demnig spannt aktuell weiter sein europaweites Netz unter Beteiligung tausender Menschen auf, die damit ihre kulturelle Identität entwickeln. Aber auch er ist ein individueller Künstler, mit Hut.

Die Künstler*innen aus dem globalen Süden, denen meine Solidarität gilt, haben die Chance, den modernen Kunstbegriff in ihrem Sinne zu entwickeln und zu verändern. Dabei wird dieses Paradigma auch ihre Kunst verändern, richtig. Gerade das kann zu etwas Gutem führen. Schließlich geht es ja um den Dialog der Kulturen, jedenfalls sollte es das.

Aber leider: Das meiste, was ich zum kuratorischen Selbstverständnis der documenta gelesen habe, führt in Sackgassen. So wie Noemi Smoliks Beitrag. Und das ist nicht lustig.

Faszinierendes Fast-Nichts

Dieser Blog ist textlastig. Bilder, die für sich sprechen, kommen auf artigart zwar vor, doch sie sind die Ausnahme. Das wird auch so bleiben, denn hier geht es vor allem um Fragen an die Kunst, das Vergewissern, das Gespräch, ja – und auch um die Lust am Schreiben.

Also Sprache. Jedoch soll nie vergessen sein, dass ein Bild nicht durch einen Text vollständig erklärt, übersetzt, ersetzt werden kann. Na, wer will das schon? Der Vorwurf, die Bilder hinter verbalen Wissenskonstruktionen verschwinden zu lassen, ist den Disziplinen, die sich mit Kunst befassen, allerdings oft gemacht worden, allen voran der Kunstgeschichte und der Kunstphilosphie. Und sicher zu Recht.

Angesichts eines Bildes können wir in und mit günstigen Augenblicken erleben, wie ergreifend das Visuelle sein kann, wie vor jeder Erklärung das Bild in seiner nicht sprachlichen Präsenz wirkt. Wie ein Rätsel bleibt. Sich diesem Erleben zu öffnen, bevor die Seh-Konventionen, die Wissens-Konnotationen und damit das Übersetzen des Visuellen in Begriffe losgehen, ist nicht leicht. Vielleicht hilft eine gewisse Übung.

Vielleicht. Die menschliche Sinneswahrnehmung funktioniert nicht ohne Imagination. Unbewusst spielen in jedem Augenblick metaphorische Konzepte der Welterkenntnis eine Rolle. Unschuldiges Sehen wäre demnach unmöglich.

Darauf setzen die medialen Bilder, die uns täglich umgeben, deren immerwährende Bewegung schon lange als Flut, als Überflutung beschrieben wird. Sie sollen triggern, ganz bestimmte Vorurteile aufrufen. Sie funktionieren in einem sprachlichen Rahmen, in dem das rein Visuelle verschwindet. Darauf reagiert die bekannte künstlerische Strategie, Klischees zu verfremden, um das urspüngliche Bild wieder sichtbar zu machen.

Es gibt Bilder oder Bildbereiche, die für den Markt der Medien nicht taugen: Die leere Fläche ist bei diesem Spiel nicht brauchbar, wie eine ungenutzte Werbetafel.  Vergeudetes Material. In der Kunst allerdings funktioniert das Nichts oder das Fast-Nichts. Ein frühes Beispiel: In der Verkündigungsszene von Fra Angelico (Fresco in San Marco, Florenz, 1441) ist die leere Wand, die das Bildzentrum zwischen den Figuren genauso ausfüllt wie offen lässt, eine Projektionsfläche für die Imagination des Betrachters, ein visuelles Ereignis, das nichts festlegt. Springen wir in die Moderne, finden wir Leinwände mit raren Markierungen, delikate abstrakte Szenen, oft inspiriert von ostasiatischen Vorbildern. Nebenbei: Auch in der Plastik spielt der Gegensatz von leerem Raum und Materie eine Rolle, so bei Chillida, der die Dynamik der Grenze sinnfällig machte.

Oder gleich monochrome Tafeln: Dass aber solche visuell radikal reduzierten Bilder in ihrem Sehangebot zu beliebig, offen zum Gebrauch für jegliche Interpretation sind, ist ein richtiger Einwand. Weiße, schwarze oder andersfarbige Quadrate haben ihre Wirkung erschöpft. Ihr Ornament bietet kein Rätsel mehr.

Das weiße Blatt ist für den Schreiber wie für den Zeichner die Chance und die Herausforderung, Neuland zu betreten, den ersten Buchstaben, den ersten Strich zu setzen. In dem Moment beginnt das Bild, und die Spannung zwischen den Markierungen, der leere Raum im Feld der Zeichnung, also das Fast-Nichts, bleibt weiter spannend. Es vibriert zwischen den Rändern und nur mit ihnen. Wer offen ist  für das Visuelle, findet für seine Übung hier einen Ausgangspunkt. Vielleicht.

Ölpastell auf Papier

Es geht nicht darum, Bilder mit opulenter Fülle, durchgearbeitete Flächen, das Spiel mit allen Registern abzuwerten. Im Gegenteil: Damit das Visuelle seine Feste feiern kann, müssen die Grenzen des allzu schnellen Begreifens und Wissens erst recht aufgehoben werden. Die Offenheit des Fast-Nichts, als Vermögen im Hintergrund des Betrachtens, erleichtert einen Zugang auch hier. 

Auf zum nächsten Turn

Eines der äußerst seltenen Fotos vom affective turn, kurz nach dem Paradigmenwechsel

Zu einer Mode hat es sich in den Wissenschaften entwickelt, alle paar Jahre eine Wende, wenn nicht gar eine Kehrtwende auszurufen. Meist wird das, im üblichen Jargon, englisch als Turn bezeichnet. Die „ikonische Wende“ beispielsweise war, bereits in den 1990er Jahren, eine Emanzipation von den abstrakten Begriffen, eine Aufwertung der konkreten Bilder in Kunst und Alltagskultur. Ein durchaus sinnvoller Perspektivenwechsel also.

Ohne Anstrengung habe ich flott ein Dutzend solcher Turns gesammelt: Mittlerweile gibt es den affective turn, den cultural turn, die emotional, iconic, imagic, linguistic, material, pictorial, spatial, topographical, topological turns und schließlich den visualistic turn. Hinweise auf weitere nehme ich gerne entgegen. Kaum zu glauben, dass sich das Denken und Forschen so schnell drehen kann. Ohne dass einem auf diesem Karrussel schwindlig wird.

Mir liegt nicht an einer Polemik gegen die Erneuerungsfähigkeit der Wissenschaften, doch diese ist nun gar nicht neu. Lesen wir Montaigne, schauen wir auf die Romantiker oder blättern gleich bei Goethe, nicht zu vergessen Nietzsche, Marx, Einstein… Jeder mag noch seinen, ihren Kometen beisteuern. Warum also diese ständig gewendeten Wendungen? It’s marketing, my dear.

„There is a season turn, turn, turn“ heißt es im Evergreen von Pete Seeger: Das könnte die Hymne des Turnvereins sein,  und Gründervater wäre Thomas S. Kuhn – sein Begriff des Paradigmenwechsels aus seinem Klassiker „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ist ja mittlerweile Folklore und steht in Verdacht, schuld an dieser Mode zu sein.

Gerade die Erforschung der Künste ist von den Turns betroffen, in der Affektpoetik (emotianal turn) zum Beispiel und generell mit den cultural studies, den wichtigen ethno-, anthropo- und sozio-logischen Horizonterweiterungen.

Wenn es nicht beim Looping bleibt, der nach 360 Grad wieder am Ausgangspunkt ankommt, dann geht’s mit Hilfe der Turns durchaus voran: Die Spirale ist das sprechende Bild dafür, nicht der Kreis – der endet wie der hermeneutische Zirkel. Nebenbei eine neue Perspektive auf Tatlins Turm, vielleicht. Auf jeden Fall Kunstflug ohne Lärm und Abgase.

Die Anstrengungen der Wissenschaft, ihr Denkvermögen so zu plakatieren, können Künstler*innen durchaus belächeln. Von der Sache her kann es sie nicht überraschen. Gute Kunst war immer auch das Ergebnis von unabhängigem Praxis-Denken. Turns gehören da zum Prozess. Und hier ist dann der oft zitierte Satz eines Künstlers, von Francis Picabia, tatsächlich einmal passend: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“