Die Frage „Was ist Kunst?“ setzt voraus, dass der Fragende schon etwas mit dem Begriff Kunst verbindet. Er fragt nicht nach für ihn sinnlosen Buchstaben, sondern aufgrund bestimmter Konnotationen. Vermutlich dieser: Kunst ist materiell ein gestaltetes Objekt; eine Zeichnung, ein Gemälde, eine Fotografie, eine Skulptur, eine Plastik, eine Installation, ein Video, eine Performance. In der Konzeptkunst kann das Objekt auf einen Text reduziert sein. Es geht um Artefakte, die nicht ohne Zutun eines Autors in der Natur vorkommen. Natürliches Material kann aber zum Artefakt werden, ebenso wie kulturelle Gegenstände, die aus handwerklicher oder industrieller Produktion von Gebrauchsgütern stammen. Die Sichtbarkeit des Artefakts kann aufs Minimale reduziert, sie kann aber nicht völlig aufgehoben sein. Damit ist die Bildende Kunst von der Musik oder dem Hörspiel abgegrenzt, logischerweise auch von ihrer völligen Nicht-Existenz. Kurz: „Was ist Kunst?“ heißt: „Wann ist ein Artefakt Kunst?“.
Bei der Frage nach der Kunst geht es also um von Menschen geschaffene Artefakte. Es sind aber nicht alle solche auch Kunst. Der überwiegende Teil der Gegenstände in unserer Kultur beansprucht nicht, Kunst zu sein, und wird auch nicht als Kunst und Werk angesehen. Der kleinere Teil, dem dieser besondere Status zugesprochen wird, zeigt seinen Kunstwerkcharakter aber nicht (zwingend) in seinem Material, seiner Struktur oder Form; offenbar gibt es kein Wesen oder Wesentliches, das die Kunstwertigkeit beweist. Daher, heute wie vor 100 Jahren, die Irritation und Verunsicherung in großen Teilen des Publikums.
„Ich sehe es dem Objekt nicht an, warum es zur Kunst gehören soll. Also noch einmal: Was ist Kunst?“.
Die handwerklich überzeugend gemachten gegenständlichen Malereien des 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts so wie deren stilistische Nachfolger lösen diese Irritation nicht aus, weil das Publikum allein die technische Leistung und die illusionistische Suggestion überzeugt. Doch seitdem diese Kriterien nicht mehr die alleine gültigen sind, seitdem diese Werke wie alle absoluten Wertsetzungen in Frage gestellt sind, ist eine Neuorientierung nötig. Malewitschs schwarzes Quadrat, Duchamps Urinal „Fountain“ (1917), das gestische Informel, der streng reduzierte Minimalismus, aktuelle Formen freier Zeichnung u.v.a.: Künstlerische Haltungen und Arbeiten verunsichern vielfach, auf je eigene Weise. Das ließe sich im Einzelnen beschreiben. Vorläufig halte ich hier fest, dass diese Verunsicherung nichts Negatives sein muss, sondern notwendig ist und potenziell produktiv. Der fraglose Zustand der Autorität ist beendet. Die Frage „Was ist Kunst?“ wird damit geöffnet und kann offen gehalten werden.
Aber das wird sie in der Regel nicht: Viele Instanzen im Kunstbetrieb beantworten die Frage durch eigene Setzungen, in ihrem jeweiligen Interesse. Sammler, Händler, Galeristen, Kuratoren, Museumsdirektoren und Kunsthistoriker, auch Kritiker, sie alle sagen, was Kunst ist. Es ist demnach das, was in den White Cubes, in Messekojen und in Auktionshallen zu sehen ist. Es ist das, was am Markt erfolgreich ist und hohe Preise erzielt. Es ist schließlich das, was in Veröffentlichungen präsentiert wird. Kunst ist eine Institution ist Institutionskunst.
Ist diese Antwort auf die Ausgangsfrage auch richtig, so ist sie noch nicht ausreichend. Sie sagt etwas Wichtiges, markiert aber nur einen Zwischenstand. Halten wir fest: Werk-Betrachtung, und sei sie noch so intensiv, reicht nicht und gibt kein Kunst-Wesen preis. Es muss noch etwas dazu kommen: die Institution als soziale Instanz. Duchamp hat genau das bereits 1917 bewiesen. Andersherum könnte man ein technisches Massenprodukt einer ästhetischen Betrachtung unterziehen, die Qualität aufzeigen würde. Wie bei einem Kunstwerk. Doch deshalb ist es noch keines.
John Searle hat es zuletzt plausibel beschrieben in „Wie wir die soziale Welt machen“. Dazu gehört auch die Unterabteilung Kunst. Kunst als Institution beschrieben macht sie vergleichbar mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Regierung oder die Ehe. Grundsätzlich funktionieren diese Institutionen nur, wenn sie anerkannt werden, die Regierung von der Bevölkerung, die Ehe von den Partnern. Andernfalls verlieren sie ihre Legitimation und lösen sich auf. Institutionen beruhen auf vereinbarten Grundsätzen, ihre einzelnen Entscheidungen müssen verhandelt und, wenn sie gelten wollen, eben anerkannt werden.
Wie verhält sich das in der Kunst? Eigener Erfahrung und vielen Beschreibungen zufolge, sollen die Vereinbarungen der Künstler und der Funktionäre (s.o.) ausreichen, um die Entscheidung darüber , was in die Institution zulässig gehört, zu legitimieren. Das große Publikum wird mit der Setzung konfrontiert, Zustimmung wird selbstverständlich akzeptiert, Ablehnung als Banausentum abgetan. Eine breite Diskussion darüber, was Kunst ist, was ihre Qualität sein könnte, findet nicht statt. Womit tatsächlich eine qualifizierte Debatte gemeint ist und nicht etwa eine Abstimmung mit Mehrheitsentscheid. Das gerade nicht. Was hier kritisiert wird ist, dass die Frage „Was ist Kunst?“ nur von einer Oligarchie der Eingeweihten und Shareholder beantwortet wird (wie im Feudalismus). Dadurch ist das unsichere Publikum entlastet: „Seht, das ist Kunst!“.
Damit ist die Frage für viele aber trotzdem nicht beantwortet. „Das soll Kunst sein? Ich verstehe das nicht.“ Die Kathedralen der Institution können nicht immer und alle überzeugen. Doch das war schon im Fall Duchamp so. Auf dieser anderen Ebene müssen wir die Frage neu stellen: „Was meint der, der fragt, was Kunst ist?“ Wer die Frage offen stellt, also nicht sagt: „Das soll Kunst sein? Das kann mein Hund“, so bloß polemisch Desinteresse zeigt; wer es wirklich wissen will, der hat ein berechtigtes Interesse, das ernst zu nehmen ist. Er stellt nämlich im Grunde eine künstlerische Frage.
Diese Interessenten haben vielleicht vieles gesehen, was epigonal, schlecht gearbeitet, undurchdacht oder einfach Etikettenschwindel ist, und sie fragen zu Recht nach Kriterien, nach Qualität und kritischer Unterscheidung. Es geht hier um Teilhabe an der Institution, ein Anliegen, gegen das nichts einzuwenden, das aber gegen die Kunst-Oligarchen nicht leicht durchzusetzen ist. Den Fachleuten sollen ihre Aufgaben hier nicht streitig gemacht werden, ihre Expertise soll nicht missachtet werden. Es geht um Bildung und Mündigkeit, um Kunstkompetenz und die Chance, diskursiv entsprechend zu handeln. Das sind übrigens Ziele, die demokratisch legitimiert sind und keinem offiziellen Curriculum widersprechen.
Auf dieser Ebene, die sich befreit und abgegrenzt hat sowohl von der Ignoranz als auch vom Machtdiktat der Kunstbetriebsfunktionäre, lässt sich die Ausgangsfrage in einem immer noch vorläufigen Schritt näher beantworten: Kunst ist ein Artefakt, von dem ich als Betrachter überzeugt bin in der Weise, dass ich ihm künstlerische Qualität zubillige.
Das Ich ist dabei, wie immer, nicht nur rational, sondern – und ganz wesentlich – auch emotional. Ebenso ist es nicht alleine, es orientiert sich an oder grenzt sich ab vom Wir. Größere Wirkung entfaltet Kunst, wenn sie eine Gruppe von Menschen ergreift. Aber ist die Kunst, sind die Künstler dann noch frei? Sind sie abhängig von der Zustimmung der Betrachter?
Die Kunst darf und kann frei sein, so wie auch die Kunstbetrachtung. Freiheit kann nur ungeteilt sein. Dass der Markt, die Institution die Freiheit der Künstler wie der Betrachter potenziell einengt (damit ist zu möglichen Vorzügen von Markt und Institution nichts gesagt), ist ein vielfach beklagtes Phänomen. Künstler setzen sich immer damit auseinander, wie sie ihre Arbeitskraft, ihre Phantasie vor manchen Mechanismen des Marktes schützen können. Betrachter sollten dazu auch kommen.
Erst aus der Freiheit, die in Sensibilität der Wahrnehmung und Informiertheit ihre Grundlagen zur Entfaltung hat, lässt sich die Frage „Was ist Kunst?“ auf eine wirklich produktive Weise stellen. Demnach: Kein falscher Respekt vor den Institutions-Instanzen, keine Scheu vor der eigenen Emotionalität. Wichtig ist dann die Geduld, das Interesse an der Kunst mit Information zu füttern. Mit dieser Haltung kann ich in jede Ausstellung gehen und erfahren, wie ich auf die Artefakte reagiere, mich fragen, warum das so ist und wie ich die Erfahrung mit beschreibbaren Kriterien von Qualität, mit Wissen über Künstler und Werk zusammenbringen kann. Dann ist die Frage nach der Kunst durchaus eine beantwortbare.