Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische?

Der Befund ist offensichtlich: Kunstausstellungen – ob documenta, Biennale oder im Museum – haben heute fast immer ein politisches Thema. Von vielen Kommentatoren wird das aktuell als beklagenswerter Zwang wahrgenommen. Man könne sich ohne politische Inhalte gar nicht mehr sehen lassen, sagen Kuratoren. Fördergelder seien oft an die Vorgabe gebunden, soziale Relevanz herzustellen. Häufig zu lesen ist auch die Kritik, dass die Politkunstwerke plakativ Inhalte verkünden und dabei keinem ästhetischen Anspruch mehr genügen. An einen berühmten Künstler wie Ai Weiwei werden keine höheren formalästhetischen Ansprüche gestellt als an eine NGO, meint Wolfgang Ullrich. Und die Kunst erzeuge dort medial die größte Aufmerksamkeit, „wo sie am wenigsten Kunst ist“, so Larissa Kikol. Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische, das ist die Frage.

Die Grenzen zwischen Polit-Aktivismus und freier Kunst verschwimmen zusehends – das Stichwort dafür lautet „Artivismus“. Es scheint geradezu, als sei die öffentliche politische Debatte zu einem erheblichen Teil in die Kunst ausgewandert. Und die verschafft sich dadurch neue gesellschaftliche Relevanz. Vor allem das Flüchtlingsthema ist präsent, aber auch grundsätzliche Kapitalismuskritik und die Klimadebatte. Diskurse, die in der offiziellen, institutionalisierten Politik stagnieren, haben so einen anderen Ort gefunden: Politik im Kunst-Exil. 

„Aktivistin trifft Passivistin“ lautete 2019 die Überschrift zu einem Artikel in der tageszeitung über das Zusammentreffen von Thunberg und Merkel beim UN-Klimagipfel, ein treffendes Schlaglicht auf unser Thema. Ein Zitat aus einem Text der Philosophin Rahel Jaeggi kann dies untermauern: „Tatsächlich grassiert die Entpolitisierung von Bereichen, die Bereiche gemeinsamen Handelns sein könnten; tatsächlich verfängt sich die Politik im Versuch verwaltungstechnischer oder marktförmiger Lösungen von Problemen, die sich so nicht lösen lassen werden“ (2008 in „Wie weiter mit Hannah Arendt?“). Und die eminent politisch denkende Künstlerin Hito Steyerl schrieb 2018: Weil „Macht heute eher ökonomisch als politisch kodiert zu sein scheint“, fühlten sich selbst diejenigen ohnmächtig, die politisch repräsentiert werden. In dieser Lage sind die Künstler oder Artivisten als Lieferanten politischer Statements gefragt, ja mehr noch: als Moderatoren, Sozialarbeiter und Gruppendynamiker (so beschrieb es der Kritiker Christoph Bartmann): Als „erweiterte Sozialpolitik qualifiziert sich die Kunst heute für Relevanz und Subventionen“. Und die Betrachter kommen zu den Artivisten oft nicht mehr um zu schauen, sondern um mitzumachen: Betriebsamkeit, so die vielfältige Klage, ersetzt das intensive ästhetische Erlebnis. Der hier von mir vertretene Ästhetikbegriff ist dagegen der: Kunst eröffnet einen Raum der Freiheit für sinnliche Erfahrungen, die das Selbst- und Weltverständnis verändern können, über die Notwendigkeiten der Natur und die kulturellen Zwecke hinaus. 

Wo aber bleibt das Ästhetische? Diese Frage stellt sich umso drängender, je mehr Politik mittels Kunst gemacht wird. Für Ai Weiwei zum Bespiel sind künstlerisches Schaffen und politisches Engagement identisch. Er erweitert das Konzept des Readymades und lässt oft einfach die Dinge sprechen: Rettungswesten von den Fluchtrouten des Mittelmeers, Eisenstäbe aus eingestürzten Gebäuden in China und anderes mehr. Das Flüchtlingsboot, das der Schweizer Künstler Christoph Büchel zur Biennale von Venedig 2019 dort an den Kanal gestellt hatte, spricht dieselbe Sprache. Verstanden wird sie, weil das Publikum den politischen Kontext kennt. Diese Sprache benötigt für ihren simplen Inhalt keine besondere Form. Ein Rätsel wäre die Form nur für den, der das Offensichtliche nicht versteht. 

Die Rettungsweste übrigens hat als Statement und Symbol eine besonders steile Karriere gemacht, die erst von der Pandemie 2020 gestoppt wurde. Es gibt nicht nur mehrere Künstler außer Weiwei, die die Weste für ihre Installationen benutzen, ihr Gebrauch verbindet auch nahtlos Artivisten mit Aktivisten, wie zum Beispiel die Verdi-Jugend auf einem Bundeskongress für die Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. Der Auftritt der Gewerkschafter in roten Rettungswesten ergab ein treffendes Bild für die ästhetische Ununterscheidbarkeit von politischer Kunst und Gesellschaftspolitik. Und für die Aufgabe jeglicher Originalität. Was dabei gewonnen werden soll, ist moralische Relevanz. Aber gibt es eine Kunst, die ästhetisch insignifikant und dennoch wichtig ist?

Diese Künstler benutzen die Materialien und Formen für ihre Konzepte so, als seien sie umstandslos verfügbar. Die Dingsymbole oder schlicht Signale bringen dabei ihre formalen Qualitäten, ihre Formästhetik nur zufällig ein. Folgt man an der Stelle den Überlegungen des Soziologen Hartmut Rosa, ist auf diese Weise keine wirkliche Resonanz möglich. Für ihn setzt eine produktive Resonanz voraus, dass sowohl Werk als Betrachter ihren Eigensinn ins Spiel bringen, ihre Unberechenbarkeit und partielle Unverfügbarkeit. Der Gedanke des „offenen Kunstwerks“ (Umberto Eco) kommt hier ins Spiel. Resonanz ist eben kein Kurzschluss, bei dem der Betrachter nur die Chance hat, eindeutig Vorgegebenes zu entziffern und nachzuvollziehen. 

Um die Autonomie oder Widerständigkeit und Eigensinn des Werks ist es in der aktuellen Politkunst oft so schlecht bestellt wie um den kreativen Interpretationsspielraum des Betrachters. Die Symbolik der Rettungsweste ist näher am historischen Agitprop als an differenzierten künstlerisch-politischen Positionen wie denen von Joseph Beuys (Stichwort Soziale Plastik) oder den kritisch-ästhetischen Konzepten von Hans Haacke. Wenn Wahrnehmung überhaupt, vor allem aber Kunstwahrnehmung kein simples Decodierungsverfahren ist, sondern kreatives Erleben, Ereignis, dann ist der Rezipient mit Agitprop schlicht unterfordert. Solche Angebote nehmen ihm die Chance, selbst Mitschöpfer zu sein, seine Phantasie und soziale Intelligenz ins Spiel zu bringen. 

Wenn Kunst also auf diese Weise nicht funktioniert, dann auch nicht ihr politischer Anspruch. Dass sie grundsätzlich nie im politikfreien Raum stattfindet, ist evident. Auch L’art pour l’art lässt sich in einen Kontext rücken, in dem sie politisch instrumentalisiert oder gar brisant wird. (In Diyarbakir ist jede Kunst politisch, sagte Övgü Gökce als Leiterin des dortigen Kunstzentrums.) Das lässt sich an zahlreichen Beispielen der Kunstgeschichte wie an aktuellen Werken ablesen. Für die Frage nach einer „Politischen Ästhetik“ ist aber über das Phänomen der Kontextualisierung hinaus die Diskussion des inneren Zusammenhangs wichtig, der zwischen Kunst und Politik besteht. Der lässt sich plausibel darstellen mit Hilfe des Denkens von Hannah Arendt, die das Politische und das Ästhetische im Begriff der Freiheit zusammenführte. 

Politisierung des Ästhetischen: Für Arendt ist Freiheit der Sinn von Politik. Das Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit ist ein Recht jedes Bürgers, ohne dessen aktive Wahrnehmung und freie Entfaltung Demokratie nicht gelebt werden kann. Spontaneität, einen Anfang setzen können, die Fähigkeit, die Dinge neu zu interpretieren, ist ein Merkmal politischen Verhaltens (und kann die etablierte Politik immens irritieren, siehe die Reaktionen auf das Video von Rezo). Urteilskraft, die von einem konkreten Standpunkt aus in das Gemeinwesen wirkt, ist eine grundlegend wichtige Fähigkeit im politischen Diskurs. Damit bezieht sich Arendt auf Kant, und sie versteht Urteilskraft wie Kant auch als unverzichtbar in ästhetischen Fragen: Mit ihrer Hilfe wird begründet über Geschmack gestritten. 

Die politische Freiheit ist Garant der Freiheit der Kunst. Und das Ästhetische wiederum, das keinem äußeren Maßstab folgt, sondern seinen eigenen setzt und sich alleine auf seine sinnliche Evidenz berufen kann, das Werk ebenso wie das Urteil darüber, liefert Arendt das Modell für das Politische. 

Künstlerisches Handeln unterscheidet Arendt, wie jedes Handeln, von Herstellen. Handwerk und Technik produzieren nach Plan, Kunst handelt frei – ein Werk setzt den neuen Anfang, es darf seine Strategie erst im Werkprozess entwickeln und offen bleiben für unterschiedliche Ansichten. Wenn es einen Resonanzraum eröffnet, ist es nicht eindeutig, nicht ideologisch – Ideologie nannte Arendt Flucht aus der Erfahrung. Die Frage ist hier, ob ästhetisch insignifikante Werke am Ende überhaupt politisch wirken können, da sie dem Betrachter keinen (Spiel-)Raum der Freiheit eröffnen. 

Meine Ansicht ist, dass erst das „offene Kunstwerk“, das nicht Mittel zum Zweck einer eindeutigen Botschaft ist, überhaupt eine politisch-ästhetische Erfahrung zulässt. Beim Signal „Flüchtlingsboot“ dagegen ist die Urteilskraft kaum gefragt, denn es geht nicht um das Boot, nicht um das Sehen, sondern sofort um das bereite Wissen. Den vielleicht moralisch ehrenwerten Effekt, den das Wrack zwischen den Luxusyachten auslöst, braucht die Kunst nicht. 

Wie ließe sich eine politisch-ästhetische Erfahrung anhand eines Kunstwerks beschreiben? Man könnte hier Beispiele der genannten Beuys und Haacke heranziehen oder, um Ai Weiwei gerecht zu werden, von ihm andere, anspruchsvollere Werke. Oder wir erinnern uns an die Plastik von Olaf Metzel „13.4.1981“, die nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen Asyl auf einem Privatgelände am Berliner Spreeufer gefunden hat. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Grundsätzlich ist mir als Summe wichtig: Die ästhetische Qualität und Autonomie (um das alte Wort noch einmal zu gebrauchen) ist nicht das Hindernis für soziale Relevanz, sondern im Gegenteil der Garant dafür. Hannah Arendt ging sogar noch weiter, dieses Zitat aus ihrem Vortrag „Freiheit und Politik“ stelle ich daher an den Schluss: „Ein Gemeinwesen, das nicht ein Erscheinungsraum für die unendlichen Variationen des Virtuosen ist, in denen Freiheit sich manifestiert, ist nicht politisch.“