Kapitel 6
In den Kapiteln 2 bis 5 geht es einmal um die Struktur von Wahrnehmung und Kreativität als Voraussetzung für das künstlerische Praxisdenken. Anhand von Argumenten der Leibphänomenologie und der Metapherntheorie habe ich versucht, wesentliche Merkmale aufzuzeigen. Als zusammenfassender Begriff dient Polanyis „implizites Wissen“. Zum anderen habe ich zu Beginn kurz den soziologischen Standpunkt von Bourdieu geschildert, der von erlernten Dispositionen im künstlerischen Feld spricht. Er verortet diese Form impliziten Wissens im „kulturell Unbewussten“. In beiden Fällen geht es um die automatisierten oder verkörperten, zunächst nicht reflektierten Bedingungen und Formen des Praxisdenkens, die den weiten Raum bedeuten, innerhalb dessen Rationalität, also bewusstes und begründetes Denken seinen Platz hat. Anhand von Beuys’ Werk kann man zeigen, wie sich Intuition für Rationalität gezielt nutzbringend machen lässt – wobei Intuition immer schon Teil der Rationalität ist. Um zu beschreiben, welchen Bedingungen diese Methode im künstlerischen Feld unterliegt und welche Chancen sie hat, möchte ich nun auf Bourdieus Praxistheorie zurückkommen. Seine soziologische Betrachtunsgweise liefert wichtige Ergänzungen zur leibphänomenologischen Perspektive.
Das „künstlerische Feld“ zeigt sich als faszinierendes Konstrukt. Es beinhaltet alle sozialen und kulturinstitutionellen Faktoren, die Einfluss auf die Haltung und die Arbeit von Künstler:innen haben können – Akademien und Museen, Galeristen, Kritiker und Käufer, um nur einige Beispiele zu nennen. Deren Handeln lässt sich nach Bourdieu nicht ausschließlich als lästige Einflussnahme oder gar Gefährdung der Autonomie interpretieren. Das Feld ist auch so etwas wie ein Filter und Schutzmechanismus, der die Einflussnahme aus anderen sozialen Feldern, der Ökonomie und der Politik vor allem, moderiert. Bourdieu sieht da kein direktes Durchgreifen, sondern eine Vermittlung, die auch die Möglichkeit der Selbstbehauptung zulässt, einschließlich der Chance, die Feld-Bedingungen zum Inhalt des künstlerischen Prozesses zu machen.
Schauen wir uns das im Detail an: Bourdieus Theorie ließe sich in einer Beuysschen Tafelskizze zeichnen als ein ineinander verwobenes dreiteiliges Gebilde. Im umfassenden sozialen Feld liegt eingebettet das künstlerische Feld, darin wiederum findet sich als einer der Teilnehmer die Künstlerin oder der Künstler. Zwischen allen Faktoren weisen Pfeile in beide Richtungen, sie zeigen die Verbindungen und wechselseitigen Beeinflussungen an. Um die Pointe vorwegzunehmen: Den Akteuren räumt Bourdieu trotz aller Bedingtheiten und Abhängigkeiten einen schöpferischen Freiraum, eine Möglichkeit zur Autonomie ein – zu einem genuin künstlerischen Praxisdenken.
Voraussetzung dafür ist die schon angedeutete relative Autonomie des künstlerischen Felds. „Ein autonomes Feld hat die Fähigkeit, das, was von außen eindringt, zu brechen, es nach seinen eigenen Regeln umzuformen“, heißt es in Bourdieus Vorlesungen zu Manet („Manet. Eine symbolische Revolution“, S. 191). Diese Regeln – an anderer Stelle schreibt Bourdieu auch von der „Struktur“ und der „eigentümlichen Logik des kulturellen Feldes“ („Zur Soziologe der symbolischen Formen“, S. 124) – verlangen, dass jeglicher Einfluss, ob hinderlich oder förderlich, nur in der eigenständigen Interpretation des künstlerischen Denkens auf dieses Denken wirken kann. „Ökonomische und soziale Ereignisse (…) können in die künstlerische Praxis nur eingreifen, indem sie sich in Objekte der Reflexion oder Imagination verwandeln“ (ebd.; offenbar bezieht Bourdieu in solche Überlegungen extreme, das Recht verletzende politische und ökonomische Verhältnisse nicht ein). Übertragen wir diesen Befund auf das Verhältnis von Künstler-Individuum und kulturellem Feld, können wir dem künstlerischen Denken und der Kraft der Imagination die wichtige Aufgabe zuordnen, die Dispositionen des Felds zu filtern, zu brechen, zu reinterpretieren. Das ist ein Strukturaspekt der Autonomie des Künstlers, mit ihm entscheidet am Ende das Ästhetische („Manet“, S. 410 u. 466). Was das im Einzelnen, für eine Werkbiografie, bedeutet, lässt sich auch nur für den spezifischen Fall rekonstruieren. Bourdieu sieht das als wichtige Aufgabe der Kritik.
Das Verhältnis von Künstler:in und künstlerischem Feld, von Habitus und Selbstbild, von Dispositionen und Intentionen beschreibt Bourdieu durchweg entlang der Praxis bzw. seiner Praxistheorie. „Nur ein ganz kleiner Teil der künstlerischen Produktion“ erkläre sich aus den Intentionen, den bewussten Vorsätzen des Schöpfers, der Großteil spiele sich im Unbewussten ab. Unter dem Unbewussten versteht Bourdieu sowohl „das, was implizit ist und auf der Ebene des Praktischen belassen wird, als auch das, was im psychoanalytischen Sinn verdrängt wurde“. Mit Disposition bezeichnet er inkorporiertes und unterbewusstes Denken, das im künstlerischen Feld Möglichkeiten eröffnet. Wie nutzen die Akteur:innen diese Möglichkeiten? In dispositionalistischer Sicht sind Künstler:innen bei Bourdieu mehr Agent:innen ihrer Dispositionen, als Subjekte ihrer Handlungen (vgl. ebd. S. 78, 62, 81 u. 97). Allerdings widerspricht es dieser Denkweise wohl nicht, Künstler:innen als bewusste Initiator:innen des Prozesses zu sehen, in dem sie dann ihr implizites Wissen in Gang setzen und nutzen.
Manet hatte diesen Beginn als „Sich-ins-Wasser-stürzen“ umschrieben, so zitiert ihn Bourdieu und folgert, in dieser „Philosophie des Handelns“ stecke „ein Moment vorbedachter Unbedachtheit“, die Ablehnung einer intellektualistischen oder akademischen Sicht zugunsten der praktischen Ästhetik. Im Wasser kommt es aufs Schwimmen, auf die gelernten Bewegung an, um nicht unterzugehen. Es gibt sicher auch andere Möglichkeiten, einen Anfang zu setzen, doch die Intention des Beginnens wird allen gemeinsam sein.
Indem Künstler:innen also „die Sprache des Könnens, des Auges, des Blicks, des praktischen Sinns, des Handgriffs, der Fertigung“ sprechen (S. 132), legen sie die notwendige Grundlage für bewusstes künstlerisches Denken. So wie der Pianist sein in langen Übungen inkorporiertes Praxiswissen nutzt, um der Musik den von ihm intendierten Ausdruck zu geben, seine Interpretation bewusst zu entwickeln, so hat der Maler, Bildhauer oder Performance-Künstler die Chance auf seine freie, überlegte oder „vorbedacht unbedachte“ Gestaltung, selbst wenn diese laut Bourdieu den eher geringeren Anteil am Gesamtprozess hat. In seiner Perspektive gilt für den Pianisten wie für den Maler, dass sie ihren Freiraum, ihren Handlungsspielraum in einem System haben, das Zwänge ausübt – aber eben auch Möglichkeiten eröffnet (vgl. ebd. S. 166f.).
Den Habitus, den Künstler:innen sich (mit Hilfe der Institutionen und des Marktes) zulegen, nennt Bourdieu „ein System von Dispositionen“. Es handelt sich also nicht um „Instinkt“; der biologische Begriff wird von Kritikern wie Künstlern oft verwendet, obwohl sie gesellschaftliche Konventionen meinen. Bourdieus Beschreibung des Habitus als „belehrte Unwissenheit“, als unbewusstes handwerkliches Können, stimmt mit der Beschreibung impliziten Wissens bei Polanyi überein. (Der Habitus als bloße Attitüde, als Repertoire des Verhaltens, der Kleidung, des Auftretens in der Künstlerrolle, ist für Bourdieu in diesem Zusammenhang kein Thema.) Am Beispiel Manet jedenfalls unterscheidet der Kunstsoziologe die praktische Ästhetik aus dem Künstlerhabitus von der „Allerweltsästhetik“: „Er macht Bilder damit, während unsere alltäglichen Ästhetiken von Nützlichkeitserwägungen ausgehen“ – zum Beispiel: eine passende Krawatte auswählen (ebd. S. 102, 349ff. u. 359). Zwecke außerhalb des künstlerischen Denkens, außerhalb der intuitiven Logik des Handlungsprozesses und seiner Reflexion, so Bourdieu, zählen nicht zur Kunst. Denn Kunst ermöglicht Prozesse ästhetischer Erfahrung, die nicht vollständig der Notwendigkeit der Natur und nicht den Zwecken der Kultur unterliegen. Ihr Denken eröffnet einen (Handlungs-) Raum ästhetischer Freiheit, initiiert sinnlich-geistige Erfahrungen, die das Welt- und Selbstverständnis verändern können.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war das autonome Kunst-Feld aus soziologischer Sicht vollständig entwickelt (Bourdieu beschreibt das ausführlich in „Die Regeln der Kunst“). Und mit der Etablierung des Künstler-Habitus und seiner Dispositionen hat sich das Verhältnis von Intention und Disposition verändert. Spätestens seit den symbolischen Revolutionen von Marcel Duchamp, vielleicht das Ende der echten Grenzüberschreitungen, können nachfolgende Generationen diese Denk- und Arbeitsweisen übernehmen, zitieren und differenziert weiter entwickeln. Daraus resultierten zahlreiche Varianten reflektierter, selbstbezüglicher Kunst, Strategien des kalkulierten Bildermachens. Was aber bleibt, ist der Wert des impliziten Wissens, der Körper-Intelligenz, und damit der Raum der Möglichkeiten, den die Disposition im „Feld“ eröffnet. Sich auf das Spiel einzulassen (was Duchamp in Bezug auf Malerei schließlich verweigert hat) und in welcher Weise, heißt dann auch zu beeinflussen, welches Gewicht die strukturellen Zwänge haben. Künstlerisches Denken, wir haben es bei Beuys gesehen, hat gerade auf dieser Basis die Option der gestalteten und gestaltenden Selbstreflexion.
Die Malerei hat im Lauf dieser historischen Entwicklung ihre Mittel, ihr Material zum Gegenstand gemacht, die Form von der Erzählung befreit, sie war abstrakt und konkret. Sie hat neue Konventionen entwickelt. Dann stand all dies im historischen Abstand zur Verfügung für Zitate und Vermischungen (Jasper Johns’ „Flag“: Abbild oder Abstraktion?), für Trash und den ironischen Zugriff (à la Sigmar Polke: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“), für die Ornamentarisierung und die Politisierung und so fort. Dieser fragmentarische Schnelldurchlauf soll nur aufblitzen lassen, wie reich künstlerisches Denken in der Verbindung von Intuition und Selbstreflexion existiert. Heute kann indes die reflexive Distanz zu Inhalt und Form der Gestaltung so groß sein, dass implizites Wissen und Dispositionen dadurch scheinbar nurmehr eine geringe Rolle spielen. Wenn „medial vielfältige Werke (…) Themenkomplexe wie Identität und Produktivität sowie Präsenz im Kontext von Raum und Gesellschaft (verhandeln)“ (so die Beschreibung der Arbeit des Künstlerduos Famed in der tageszeitung vom 31.3.2020, S. 17), lässt dann der intellektuelle Anspruch, der Forschergestus noch Raum für Intuition im künstlerischen Denken? Er muss, denn auch er gründet auf Imagination – erinnern wir uns an Polanyis Aussage zur Notwendigkeit impliziten Wissens für Wissenschaft und Forschung. Ob die Imagination des Betrachters so angeregt wird, ist eine andere Frage.
Die Gestalter oder Verweigerer, die Subversiven oder wie auch immer Eigensinnigen (Artaud wäre hier wieder ein Beispiel) nehmen sich die Freiheit, trotz und mit ihren Dispositionen Kunst auf ihre Weise zu machen. Abgesehen davon hat das System „Feld“, wie jedes System, seine Fehlertoleranzen, ohne die es nicht funktionieren würde. Das negiert nicht grundsätzlich strukturelle Zwänge, bietet aber schon immanent die Chance auf Ereignisse, die die Institutionen irritieren und feste Strukturen öffnen. Das lässt sich nutzen, bildnerisch wie auch poetisch. Ernst Jandl, um einmal einen Schrifsteller als Zeugen zu bitten, hatte das zur Methode kultiviert: Der Schreibprozess begann mit Nichtwissen, er notierte eine erste Idee, Formulierung ergab Formulierung. Beim Schreiben musste sich etwas ereignen, Jandl wollte „in ästhetisch unbekannte Zonen aufbrechen“ (Klaus Siblewski in: Ernst Jandl, Werke Bd. 4, S. 632). Hier kehren sich die Dinge scheinbar um: Die Dispositionen sollen tanzen, kein Handgriff muss sitzen, die Sprache des tastenden Nichtkönnens ist erlaubt, das Experiment provoziert Ereignisse. Es geht auch hier darum, das implizite Wissen zu nutzen, nicht es auszuschalten. Die Methode zielt gerade auf die Chance, es zu provozieren, zu manipulieren.
Es gibt ein poetisches Praxisdenken, das auf den Bereich des begrifflich (noch) nicht Erfassten abzielt, auf ein lyrisches Imaginieren, letztendlich auf ein mit sprachlichen Mitteln evoziertes Nichtsprachliches. Das poetische Sprechen, so der Lyriker Steffen Popp in seiner Huchel-Preis-Rede 2014, soll mehr etwas hervorbringen als benennen. Er umschreibt diese Praxis als „Expeditionen in Unbegriffliches“. Nicht zuletzt aus Sprachskepsis ist dieses Praxisdenken, so Popp, ein Widerstand gegen gewohnte Logiken und Muster. Das sind die Bourdieuschen Dispositionen. Sowohl Jandls als auch Popps Ansatz nähern sich Strategien der Bildenden Kunst, z.B. Verfahren des Zeichnens.
Implizites Wissen und soziale Dispositionen, wie sie hier beschrieben wurden, sind Voraussetzungen der künstlerischen Praxis in doppelter Hinsicht: (möglicherweise einschränkende) Bedingung und gleichzeitig Medium der Arbeit, Chance zur kreativen Freiheit, die sich ihre eigenen Regeln setzt. Ohne die in Erfahrung und Übung erlernten Verhaltens- und Denkweisen, ohne die internalisierten Dispositionen gibt es kein künstlerisches Denken, keinen Gestaltungsprozess.