Spieglein, Spieglein

Ein Mensch steht vor dem Spiegel und hebt den linken Arm. Das Spiegelbild hebt den rechten. Den rechten? Der Spiegel und das ganze Metaphernkonzept, das an diese glasglatte Oberfläche anknüpft, stehen doch seit Urzeiten für absolute Objektivität! Politische Neutralität sieht aber anders aus. Der Spiegel verkehrt die Seitenverhältnisse – das wird in der Regel unterschlagen, wenn die Spiegel-Metapher rhetorisch zum Einsatz kommt. Vorsicht also mit der Behauptung der getreuen Abbildung, der optisch fundierten Neutralität. Das Instrument des Spiegels ist in seinen reflektorischen Eigenschaften unbestechlich, klar, aber die Metaphorik ist es nicht.

Paul Klee hat das Phänomen in „Das bildnerische Denken“ (S. 55-57) zunächst ganz sachlich beschrieben: „Hebe ich meine linke Hand, so hebt der Spiegelmensch seine rechte.“ Der Künstler übertrug das Spiegelschema auf die Bildebene von Malerei und Zeichnung: „Das aufrechte ‚Ich‘ und das Werk sehen einander ins Angesicht.“ „Die Orientierung im Raum des Werkes vollzieht sich auf Grund der Vorstellung, dass das Werk das Spiegelbild zum ‚Ich‘ sei.“ Und: „Jede Bewegungsrichtung im ‚illusionären Flächenraum‘ steht in Beziehung zum natürlichen Richtungsgefühl des ‚Ich‘.“ Im Kunstwerk „als Spiegelbild des Schaffenden“ stehen links und rechts sowie hinten und vorne laut Klee auf „vertauschten Plätzen“, nur oben und unten „bleiben stehen“.

Warum sollte das in einem Kunstwerk so sein? Das Ich kann in seinem „natürlichen Richtungsgefühl“ zunächst von einem natürlichen Gegenüber mit Fug und Recht auch erwarten, dass es dasselbe tut, nämlich seinem Richtungsgefühl folgen. Wenn ich einem Gegenüber mit meinem rechten Arm winke, wird sie oder er in der Regel ebenfalls mit dem rechten Arm zurückwinken und sich nicht spiegelverkehrt verhalten (Rechtshändigkeit und ein Lebensalter von mindestens etwa vier Jahren vorausgesetzt). Der Widerspruch zwischen „Spiegelbild zum ‚Ich'“ und „natürlichem Richtungsgefühl“ fällt in Klees Argumentation unter den Tisch. Wenn das Bild personalisiert wird zu einem „Angesicht“, das den Betrachter ansieht, dann ist es nicht zwingend das Spiegelbild des Betrachters. Ein solch hoher Grad der Identifizierung kann höchstens auf den Künstler selbst oder einen Porträtierten zutreffen, auf Spezialfälle also.

Der Normalfall ist der Dialog mit einer/einem Anderen. Die Perspektiven begegnen sich dabei nicht spiegelverkehrt, das wäre eine mechanische Vereinfachung. Solche Begegnungen sind viel komplizierter, was für das soziale Leben evident ist und in der Kunstkommunikation nicht auf ein Spiegelschema reduziert werden kann, ohne die Möglichkeiten dieser besonderen Kommunikationsform zu beschneiden. Klee wollte neue Bildwelten schaffen, nicht die Realität spiegeln. Er beschrieb, dass es ihm um die Durchdringung der Materie gehe, um die Formprinzipien zu ergründen und auf dieser Basis Eigenes zu gestalten, denn: „Auf anderen Sternen kann es wieder zu ganz anderen Formen gekommen sein“ (ebd. S.93).

Der Blick in den Kosmos ist nun ein ganz anderer als der in den Spiegel. Dieser ist unbestritten für vieles nützlich, führt aber auch schnell ins Lächerliche, denn der Reflektor äfft alles nach. Lustige Grimassen – wer hätte sie vor dem Spiegel nicht schon gemacht. Und „Spiegelfechter“ stehen laut dieser sportlichen Metapher nicht in höchstem Ansehen, denn sie täuschen sich.

Paul Klee hat also keineswegs Spiegelbilder gemalt. Das wäre ein eingeschränktes Programm gewesen. Den Bildbegriff unter der Hand einzuengen ist allerdings eine weit verbreitete Unsitte in verschiedenen Disziplinen, so in der Philosophie, der Anthropologie oder der Kunstwissenschaft. Der Spiegelbegriff – der stillschweigend immer voraussetzt, dass der Spiegel aufrecht steht – wird gerne fürs Ganze genommen, für alle Formen von Bildern. Und wenn nicht er speziell, dann der Abbildbegriff. Alle anderen Bildbegriffe, gerade die erfinderischen, sind dabei ausgeblendet. Und damit ein Großteil der Kunst seit 1900. Diese Varianten passen nicht ins Argumentationsmuster, das sich auf die Spiegelmetaphorik stützt, die nicht immer als  rhetorisches Mittel durchschaut, sondern oft für bare Münze genommen wird. Zugegeben: Metaphern sind nie exakt abbildend, sondern relativ offen auf eine Sache oder Vorgang bezogen, die sie in Analogie verständlich machen sollen. Aber ihr Bild ist nicht die Sache selbst. Ich glaube dem Spiegel ein ganzes Stück weit – doch spiegeln ist keine Kunst. Die hat immer und ganz notwendig etwas, das der Spiegel nicht hat beim Abbilden: einen Spielraum.

Das Thema Spiegel zieht sich zum Beispiel durch Hans Beltings „Bild-Anthropologie“ und dient hier auch zur metaphorischen Beschreibung der Funktionen von Tafelbild und Fotografie. Beiden Techniken kann man jedoch nicht unterstellen, die Seiten zu verkehren wie ein Spiegel. Gerade die Fototechnik verhindert das aktiv. Wie in der Malerei, so in der Fotografie hält der Kunsthistoriker sich jedenfalls ausschließlich an die abbildenden Formen und liefert dann auch eine reine Abbild-Anthropologie. Die Spiegelmetapher lässt nichts anderes zu und steht einer wirklichen Bild-Anthropologie im Weg. Interessanterweise sah Paul Klee, wie oben beschrieben, jeden „illusionären Flächenraum“, also auch den abstrakten, als Spiegel des natürlichen Raums an. Wenn auch diese Metaphorik, wie gesagt, nicht trägt: Anthropologisch ist gerade das höchst interessant. Von der modernen Kunst à la Klee lässt sich ein Faden spinnen in die Urzeiten der Menschheitsgeschichte, zu ihren abstrakten Darstellungen und Ornamenten.

„Dass der Spiegel jahrhundertelang die Metapher aller Erkenntnistheorien war, liegt daran, dass das Subjekt weitaus Kurioseres und Sonderbareres in ihm erfährt als Selbstentfremdung oder Selbstverdinglichung“, schreibt der französische Philosoph Emanuele Coccia in seinem 2020 auf deutsch erschienen Buch „Sinnenleben“ (S. 29): „Im Spiegel kommen wir in den Genuss eines Stadiums, in dem wir sinnlich sind, ohne alles Leibliche und ohne Gedanken, reines Sein des Wahrgenommenen, ohne Organe und ohne Bewusstsein.“ Und auf der folgenden Seite verallgemeinert er: „Der Spiegel demonstriert, dass die Sichtbarkeit einer Sache tatsächlich sowohl von der Sache selbst als auch vom erkennenden Subjekt getrennt ist.“  Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, sehe ich mich zweifeln. Ich glaube nicht, dass der Spiegel etwas demonstriert, und ich würde auch nicht das Gefühl genießen, vom Leiblichen getrennt zu sein und einer reinen Sinnlichkeit ausgeliefert – was immer das auch sein soll, außer kurios und sonderbar. Nein, im Spiegel gibt es nur Spiegelbilder.

Und die sind, wenn es um Menschenbilder geht, eine achsensymmetrische Umkehrung des  Leibs in seiner räumlichen Orientierung. In seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ hat der Philosoph Maurice Merleau-Ponty detailliert beschrieben (S. 170f.), dass in einem normal funktionierenden Körperschema kein Spiegelphänomen Platz hat. Er bezieht sich dabei unter anderem auf klinische Untersuchungen, bei denen ein Arzt vor einem Patienten steht und ihn auffordert, seine Bewegungen nachzumachen. Fazit: „In der normalen Nachahmung identifiziert sich die linke Hand des Subjekts unmittelbar derjenigen seines Partners, knüpft sein Tun unmittelbar an das des Vorbilds an“. Er benutzt seine rechte Hand, wenn der Arzt seinerseits die rechte bewegt – der Proband identifiziert sich mit dem Körperschema seines Vorbilds. Wenn ihm das nicht gelingt, liegt eine Störung vor. Und jetzt die Pointe: „Manche Kranke können Bewegungen des Arztes (nur dann) nachahmen, (…) wenn sie sich neben den Arzt stellen und seinen Bewegungen im Spiegel folgen.“

Der Spiegel ist ein Sonderfall, und ich bezweifle, dass aus ihm alles das für den Menschen Grundsätzliche abgeleitet werden kann, was in diversen Büchern steht. Metaphorische Konzepte sind zweifellos großartige kulturelle Konstrukte. Das verinnerlichte Sprachbild soll unser Verstehen komplexer Sachverhalte erleichtern. Aber alle diese Bilder unterliegen der Tendenz, für natürlich gehalten und nicht mehr durchschaut zu werden. Schnell werden sie überstrapaziert und verdecken dann mehr, als sie anschaulich machen. Daher und dagegen die hier offenbarte Renitenz.

Ende, ich gehe ab nach links, mein Spiegelbild nach rechts. Aber wir sehen uns wieder.