Künstlerische Praxis gab es in der Menschheitsgeschichte bereits lange vor der Fähigkeit, materielle Artefakte herzustellen, und sie existierte auch vor der Schrift: In Tänzen und Gesängen zuerst haben sich unsere evolutionären Vorläufer ästhetisch betätigt – was natürlich keine materiellen Spuren hinterlassen hat. Aber dass es so war, „können wir annehmen“, da ist sich der britische Sozialanthropologe James Suzman sicher. Seine jüngste, weit zurückblickende historische Untersuchung ist kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „Sie nannten es Arbeit – Eine andere Geschichte der Menschheit“, und was er in verständlich-unterhaltsamer Weise am Begriff der Arbeit entwickelt, kontrastiert er an manchen Stellen mit dem, was nicht der Lebenserhaltung und praktischen Nützlichkeit dient – und er nennt es Kunst. Die „Anfertigung von Kunstwerken“ ist, so Suzman, „eine Aktivität, die ein Zwitter aus Arbeit und Muße ist, die emotionalen, geistigen und ästhetischen Zwecken dient“, aber nicht zum Beispiel der Nahrungsbeschaffung.
War es mystische Inspiriertheit, die die Urmenschen zum Singen und Tanzen zwang? Suzman denkt gar nicht an derlei Thesen, in seinen Augen entstand Kreativität schlicht aus Langeweile. „Die Langeweile, die uns (…) veranlasst, herumzuspielen, herumzustöbern und kreativ zu sein, dürfte auch mitgeholfen haben“ bei der Entwicklung künstlerischen Empfindens, das sich schließlich auch in Gegenständen und malerischen Darstellungen äußerte.
Vielleicht ist Spielen das bessere Wort als der Ennui, und wir wissen ja seit Freud, das Spiel und Ernst keine Gegensätze sind. Im Machen entsteht Neues; Kreativität ist nichts Theoretisches. Der fließende Übergang zwischen Muße und Arbeit kann handwerklich Nützliches erzeugen oder rein ästhetischen Zwecken dienen. Und beides verbinden.
Suzman liefert eine weitere Erklärung für das Entstehen künstlerischer Betätigung in der Menschheitsgeschichte: Er interpretiert sie als Folge von „dauerhaften und großen Energieüberschüssen“ in einer Gesellschaft. Dabei meint er zunächst materialistisch die gute Ernährung, den biologischen Energie-Input. Der wirkt sich aber auch psychologisch aus in gesteigerter Neugier, Entdeckerfreude und eben künstlerischem Empfinden.
Paul Cezanne fällt mir an dieser Stelle ein, der nicht müde wurde zu betonen, dass er stetig arbeite, dass nur harte Arbeit hinter der Staffelei zur wahren Kunst führe. Sein Energieüberschuss im Hintergrund war das Familienvermögen. Der Maler kämpfte um die Verwirklichung seiner Ideen, manchmal verzeifelt – Langeweile kam da bestimmt nicht auf. Und die Aussage von Joseph Beuys passt hierhin, er ernähre sich geradezu von Kraftvergeudung: Sein hoher Energieverbrauch für die Kunst war ihm ein existenzielles Bedürfnis und hatte ebenfalls nichts zu tun mit Langeweile.
Energie kann aber nicht alles sein, wenn es um die evolutionären Voraussetzungen für Kunst geht, es braucht außerdem sinnliche Fähigkeiten, die in der Zeit der Muße zum Zuge kommen. Und diese Fähigkeiten mussten schon und besonders Jäger*innen und Sammler*innen in hohem Maße trainieren, um zu überleben. Suzman schreibt: „Diese Fertigkeiten erwarb (…) der Mensch durch Beobachten, Lauschen, Berühren und durch sein Interagieren. (…) Es gab nach Überzeugung der Jäger und Sammler Erfahrungswissen, das nicht verbal vermittelt werden konnte, weil es nicht einfach nur im Gehirn residierte, sondern auch im Körper, und weil es seinen Niederschlag in Fähigkeiten und Fertigkeiten fand, die sich niemals auf bloße Wörter reduzieren ließen.“ Dazu zählten „sehr wahrscheinlich Orientierung, Einschätzung von Gefahren, Spurenlesen.“ (Der Autor spekuliert hier nicht nur über das, was Jahrtausende zurückliegt, sondern beschreibt auch seine Beobachtungen in einer noch existenten afrikanischen Jäger- und Sammlerkultur.)
Erst in einem späteren Stadium der Evolution wurden „unsere Vorgänger hoch leistungsfähige Sprachkünstler“. Suzman wundert sich an der Stelle, dass die Forschung dem viel mehr Aufmerksamkeit schenkt, als „den Fertigkeiten, die der Mensch für die Verarbeitung nichtsprachlicher Informationen entwickelt hat“, den oben genannten. Ist das wirklich überraschend in einer Schriftgelehrtenkultur? Außerhalb der Geisteswissenschaften, im Bereich eines biologischen Realismus‘, ist es das eher. Diese Tatsache jedenfalls macht es nicht einfacher, heute die Grundlagen künstlerischen Praxisdenkens zu beschreiben (Texte dazu in diesem Blog).
Doch zurück zu Suzman, der – wie bei allem zur Kunst immer am Rande seines eigentlichen Themas – noch eine interessante Bemerkung zu den Bildern macht, die als mediale Gattung historisch vor der Schrift datieren: „Was alle Jäger- und Sammlerkulturen und alle frühen neusteinzeitlichen Gesellschaften gemein hatten, war eine reiche visuelle Kultur: Man kommunizierte (…) mithilfe einer breiten Palette bedeutungsträchtiger Symbole.“ Erst nach der Entstehung von Städten im Orient entwickelten Menschen „Systeme visueller Zeichen“, wie Schriften. Als die ältesten bekannten Bildkunstwerke zitiert der Anthropologe die geometrischen Muster, die in der Blombos-Höhle in Südafrika gefunden wurden – mit Ocker auf Steine gezeichnete oder eingeritzte gerade Linien, die ein Rautenmuster bilden. Vor etwa 77.000 Jahren entstand so ein visuelles Modell, das bis heute gebräuchlich ist. Früher Energieüberschuss mit nachhaltiger Wirkung.