Hierarchie – ein Kreislauf

Der gläserne Turm strebt zum Licht. Foto: Jürgen Röhrig

Aus der Tiefe betrachtet wächst der zwölf Meter hohe Turm aus klarem Glas zum Licht. Die Kellersohle des ehemaligen Pumpwerks in Siegburg ist die Basis, dort steht auch der kleine Wassertank, dessen Inhalt durch transparente Schläuche nach oben gepumpt wird, per Sonnenenergie, um in Kaskaden wieder nach unten zu fließen – ein Kreislauf. Der Blick nach oben ins Licht, durch viele Glasscheiben, Aquarien, Reagenzgläser, Phiolen, Trinkgläser, auch Scherben und anderen Bauteilen mehr, ist ein flirrendes Erlebnis. Die massiven Betonwände des alten Wasserspeichers verlieren scheinbar ihr Gewicht, die Gitter im Boden sind entfernt, der lichtdurchflutete Turm hat nichts Lastendes. Obwohl er unten schmale 30 mal 40 Zentimeter misst und nach oben hin immer breiter wird, also eine statisch gegenläufige Figur zeigt.

„Hierarchien“ betitelt Rolf Hinterecker sein Werk im Haus des Kunstvereins Rhein-Sieg. Das bezieht sich ebenso auf die im Nebentrakt inszenierten Bilder und Bildobjekte: Fotogramme von Wurzeln, kurz „Wurzelgramme“, und übermalte Fotos von Landschaften. Wer angesichts des gläsernen Turms und seinem Wasserkreislauf an die Erforschung natürlicher Prozesse gedacht hat, findet sich vor den Arbeiten mit Naturfotos bestätigt: Offenbar experimentiert der Künstler mit seinen Reaktionen und Zugriffen auf Pflanzen, Wasser und Landschaftsraum, stellt ästhetisch Kontakt her zu unseren Lebensgrundlagen.

Dabei spricht die Laborsituation zunächst von Distanz, von der Objektivität des Forschers, der das Lebendige zergliedert, auflöst und analysiert. Was im Reagenzglas gelandet ist, atmet nicht mehr. Doch löst sich dieses Labor nicht selbst auf? Die Einrichtung wuchert, sie sprengt die Grenzen trockener Sachlichkeit und wächst ins Fantastische. Kein verrückter Wissenschaftler war hier am Werk, das wäre Klamauk, nein: Hier geht es um das Wiederaufleben des natürlichen Wachstumsprozesses aus künstlerischem Antrieb.

„Als Künstler suche ich Formen zwischen phantastischen Erzählungen und philosophischen Analysen“, sagt Rolf Hinterecker (Jahrgang 1951), der in jungen Jahren neben seiner künstlerischen Ausbildung auch Soziologie studiert und das Handwerk des Kunstglasers erlernt hat. Das fließt zusammen in seiner Siegburger Ausstellung, und dazu kommt seine Beschäftigung mit Positionen von Biologen, die sich mit (vermeintlichen) natürlichen Hierarchien beschäftigt haben. Der Renaissancephilosoph Charles de Bouelles skizzierte, so schildert Hinterecker, 1509 in seinem „Tractatus de nihilo“ eine „stufenförmige Anordnung unbelebter und belebter Natur vom anorganischen Gestein über organische Pflanzen und Tiere bis zum Menschen“. Da stand die „Krone der Schöpfung“ immer noch oben, wie im Mittelalter. Doch bekanntlich änderte sich das im 19. Jahrhundert mit Charles Darwin, nicht nur wegen der menschlichen Verwandtschaft mit Affen, sondern auch, weil Darwin Pflanzen eine Form von Intelligenz zuschrieb. Das bestätigen neuere Forschungen; der Künstler bezieht sich auf den Botaniker Stefano Mancuso, einer der Wissenschaftler, der tradierte hierarchische Vorstellungen kritisch in Frage stellt.

Während die gläserne Installation solche Einsichten (und hier sind es nicht nur metaphorische) erleben lässt, zeigen die Übermalungen eine andere Art des Eingriffs in Naturszenerien. Das schwarz-weiße Foto ist eine Zuwendung aus Interesse und eine Abstraktion. Die damit verbundene Distanz des „Objektivs“ überspielt Hinterecker im nächsten Schritt mit Stift, Pinsel und Farbe. Er nähert sich den Pflanzen und ihrem Raum, er reagiert gestisch auf ihre Formen, spürt den Strukturen von Ästen und Stämmen nach wie den Wolken am Himmel. Markierungen und Farbbahnen: Höchst emotional ist dieser Zugriff, der von Bewunderung spricht und nicht von Überhebung.

Was kann wachsen aus den Bildern der Natur, das ist Hintereckers genuin künstlerische Frage. Dahinter stünden dann die philosophischen: Was können wir ästhetisch lernen, wie verbinden wir uns neu mit der Natur? Zunächst: Sichtbar ist im Pumpwerk auch, dass aus Wurzelgrammen Reliefs werden können, Bildobjekte durch Einschnitte und Auffaltungen entstehen. Die Szene im Guckkasten erlaubt einmal mehr Durchblicke.

Mitten aus dem Arbeitsprozess am gläsernen Turm in Siegburg schrieb mir Rolf Hinterecker eine kurze Mitteilung: „Es wächst und wächst“. Das sagt doch eigentlich alles.

hinterecker-art.com

„artists talk“ mit Rolf Hinterecker und seinen Künstlerkolleg*innen Carola Willbrand, Gertrude Moser-Wagner, Ulrike Oeter und Wolfgang Lüttgens am Sonntag, 7. April, 15 Uhr im „Pumpwerk“, moderiert von Jürgen Röhrig