Geschichten vom Kunstmarkt

450 Millionen Dollar bezahlte ein Bieter bei einer Auktion für einen da Vinci, dessen Echtheit nicht gesichert ist. Es ist der höchste jemals bei einer Versteigerung erzielte Preis für ein Gemälde. Der Erzähler in Rüdiger Kauns Geschichte vom Maler Felsenstein würde sagen: Auf dem Kunstmarkt ist „jede Idiotie“ möglich. Dieser Bewahrer von Gemeinplätzen zum Thema hätte wohl auch bemerkt: Es gibt Sammler und es gibt Anleger, und das sind „meistens Japaner“. Oft ist es so, aber in diesem Fall ist der Anleger Araber, und möglicherweise hat er ein schlechtes Geschäft gemacht. Das Bild „Salvator mundi“ soll sich im Besitz des saudi-arabischen Kronprinzen befinden.

Kuriose, verrückte und auch ärgerliche Geschichten liefert der internationale Kunstmarkt immer wieder. In den Medien sind diese Aufreger mit Unterhaltungswert geschätzt. Wir kürzlich die Überraschung mit dem geschredderten Bild von Banksy: „Die berühmteste Kunstaktion aller Zeiten“ lautet mittlerweile das Urteil. 1,6 Millionen Euro kostete das „Girl with balloon“, das gleich nach dem Zuschlag des Auktionators von einem im Rahmen verborgenen Schredder in Streifen geschnitten wurde.

„Salvator mundi“ – wer könnte der wahre Schöpfer dieses Werks sein?

Auch diese Aktion bedient das Klischee: Irre Summen werden auf dem Kunstmarkt bezahlt, und der Gegenwert ist nicht gesichert. Das ist indes keine ganz neue Entwicklung. Bereits aus dem alten Griechenland um das Jahr Null herum ist es überliefert, dass reiche Sammler hohe Summen bezahlten. Konnten sie berühmte Meisterwerke nicht erstehen, ließen sie Kopien anfertigen. Es ging um den Ruhm des Besitzes, die Ausstattung der Villa. Spekulationen mit Kunst als Wertanlage sind allerdings eine neuere Entwicklung.

Bis in die 1980er Jahre erzielten Wiederverkäufer gute Renditen mit Spitzenwerken der klassischen Moderne, aber auch nur mit diesen. Für viele Spekulanten blieb inflationsbereinigt und möglicherweise nach Abzug von Steuern und Auktionsgebühren kein Gewinn. Die Anlage in Wertpapiere hätte sich besser verzinst. Das änderte sich nach dem „Mauerfall“ 1989. Bald drängte viel neues Geld in den Markt, von Auktionen wurden Rekordpreise gemeldet, nicht mehr nur für Klassiker. Auch mit schnell aufgebauten und im Markt gepushten jungen „Superstars“ ließ sich nun viel Geld verdienen, sogar mit Optionen auf noch nicht gemalte Bilder.

Der Kunstmarkt bildete den weltweit entfesselten Finanzkapitalismus ab. „Durch die zunehmende Konzentration von Kaufkraft in immer weniger Händen und die andauernde Senkung der Leitzinsen strömte in den 2010er Jahren zunehmend Investment-Kapital in die Kunst“ schreibt Kolja Reichert in seinem Buch „Kann ich das auch?“ (S. 132). Die Nachfrage nach hochpreisiger Ware wuchs analog zur Zahl der Milliardäre. Damit sei, so Reichert, der Kunstmarkt aber auch nicht verrückter als die Verteilung der Vermögen, „sondern ziemlich genauso verrückt“.

Mehr Geld, mehr Kunst, mehr Sammler, klingt das nicht gut? Das ökonomische Spitzensegment des globalen Markts mit seinem Jahresumsatz von 65 Milliarden Dollar (2024) wurde und wird allerdings von einer relativ kleinen Zahl von Akteuren gelenkt. Die Hälfte des weltweiten Umsatzes wird von fünf Prozent aller Galerien erzielt. Die anderen Marktsegmente haben bei weitem nicht das ökonomische Gewicht, dafür aber andere Qualitäten. Populäres Unterfutter ist der Amateurkunstmarkt, der hier keine Rolle spielen soll. Der bodenständige Profimarkt wird bespielt von Galerist*innen, die aus Leidenschaft und Überzeugung (junge) Künstler aufbauen und ihren mäßig bis gut betuchten Besuchern Sinn und Werte vermitteln wollen. Oft machen diese Kleinunternehmen keinen nennenswerten Gewinn. Die erfolgreicheren bilden einen Mittelstand, der auch nicht frei von ökonomischem Druck ist. Die Teilnahme an einer internationalen Messe zum Beispiel können sich die meisten nicht leisten. Diesen Akteuren außerhalb der Schlagzeilen allerdings wird zugeschrieben, dass in ihrem Segment „die Zukunft der Kunst verhandelt wird“ (Markus Metz/Georg Seeßlen: „Geld frisst Kunst“, S. 472), sprich: die inhaltlich-kritische Arbeit getan wird. Davon profitieren, ohne Gegenleistung, die großen internationalen Akteure, die Szene der Galerie-Ketten, Auktionshäuser und Großsammler. Dass eine Mittelstandsgalerie die Investition in eine Nachwuchskünstlerin abschreiben muss, weil diese zu einer Spitzengalerie und damit zu höheren Erlösen wechselt, ist eine bekannte Klage.

Inhalte stören das Geschäft

Wer wollte es den Künstlern verdenken, die nun von ihrer Arbeit leben können, deren Werke jetzt in große Ausstellungen und Museen gelangen. Die Gefahr ist, dass der Hype schnell verfliegt oder dass sie von der „Art Industry“ aufgesogen werden, in der Sinn und Form keine Rolle mehr spielen. Denn da geht es nurmehr um Marketing und Kapitalanlage; die Liebhaber-Sammler weichen den Spekulanten. Investoren in Kunstwerke setzen in diesem Segment auf „no-nonsense-discussions“, so der Begriff der New Yorker Firma „Skate’s Art Investment“: Keine Erzählungen zu Bildern und Objekten mehr, keine Debatten um Inhalte und Absichten, sondern handfeste Zahlen, Rankings, Finanzdaten, geliefert von entsprechenden Algorithmen. Wenn das große Geld spricht, verstummt die Kunst.

Was ist dann noch ihr Wert? Es bleibt der Vermögenswert. Damit aber die Millionensummen der Anleger in den Kunstmarkt fließen, braucht es deren Motivation und Zukunftsvertrauen. Vielleicht ist es wie beim Gold: Sein Glanz scheint besonders schön, wenn der Preis steigt. Bezogen auf die Kunst, gibt es folgende aufschlussreiche Anekdote. 1969 wurde der Galerist René Block das Beuys-Objekt „Das Rudel“ zu einem maßvollen Preis auf dem Kölner Kunstmarkt nicht los. In der Koje nebenan war ein Bild von Rauschenberg mit 110.000 DM ausgezeichnet. Block entschloss sich, das „Rudel“ genauso teuer anzubieten. Und schon bald griff ein reicher Sammler zu. Es gibt, wie gesagt, verschiedene Kunstmarkt-Segmente, und sie haben untereinander wenige Berührungspunkte. Auf dem Hochpreismarkt wird nach Preisen gewertet. „Es ist letztlich ein System, in dem auf vulgäre Weise das Geld über Kunst oder Nichtkunst entscheidet“, schrieb der Kritiker Hanno Rauterberg im „Kunstforum“ (Nr. 221, S. 47), „Denn der Unterschied ist nicht im Objekt begründet, sondern in der Marktmacht seines Käufers.“

Die ganz Mächtigen auf dem Basar sind Geschäftsleute wie der Franzose François Pinault. Sein Vermögen wird auf mehr als 40 Milliarden Dollar geschätzt. Er ist nicht nur Sammler aktueller Kunst – 10.000 Werke von 350 Künstler*innen soll er besitzen -, er ist auch Inhaber des Auktionshauses Christie’s und er hat eigene Museen, wie den Palazzo Grassi in Venedig. Für Wechselausstellungen in seinem Haus kann er zehn Mal mehr Mittel einsetzen als die internationale Biennale von Venedig. Es gibt auch andere Beispiele dafür, dass Superreiche die gesamte Wertschöpfungskette des Kunstmarkts besetzen – Kontakte mit Künstlern, eigene Galerien, Museen mit Kunsthistorikern, Fachzeitschriften, Auktionshäuser. Das erlaubt umfangreiche Kontrolle und ermöglicht, Karrieren und Profitentwicklung optimal zu steuern.

Pinault, der heute nicht einmal mehr zu den einflussreichsten Kunstsammlern der Welt gezählt wird, ist im Vergleich zu russischen Oligarchen, arabischen Ölmilliardären und etwa dem Londoner Werbeunternehmer Charles Saatchi bereits Oldschool. Der Franzose interessiert sich offenbar noch dafür, was auf den Bildern zu sehen ist. Es gibt die Geschichte, dass er sich einmal als Handwerker verkleidet in die Räume der Art Basel schmuggelte, bevor die Messe eröffnet wurde. Er wollte die Bilder als Erster sehen, noch vor den anderen VIPs, die zur exklusiven Preview zugelassen werden.

Was auf der Messe gekauft wird, muss anschließend an Wert gewinnen. Die Werke können dazu auf verschiedene Wege geschickt werden. In öffentliche Museen als Leihgaben – das brauchen diese Häuser, weil sie sich die teuren Werke nicht leisten können, und dem Geber bringt es Steuerersparnis und Wertsteigerung; in private Museen, meist als Stiftung – auch das minimiert Steuern; ins Zollfreilager – wiederum steuerbegünstigt, praktisch Geheimmuseum und zollfreier Handelsplatz. Oder ins Auktionshaus, um den Wertzuwachs zu aktualisieren. Alle diese Varianten folgen je speziellen Strategien, um ihre Aufgabe zu erfüllen, Gewinne zu generieren.

Dass bei „spannenden Versteigerungen“ nichts dem Zufall überlassen werden muss, berichten Insider der Szene. Galeristen steigern mitunter ihre Künstler selbst hoch oder bedienen sich Mittelsmännern oder -frauen. Ihren Kunden in der Galerie können sie die Werke dann scheinbar günstiger anbieten. Eine andere gängige Manipulation läuft so: Das Auktionshaus vereinbart mit dem Einlieferer eines Werks ein unteres Preislimit, das zu erzielen ist. Ein potentieller Käufer gibt die Garantie, das Werk zu kaufen, falls das Limit nicht überboten wird. Sollte die Versteigerung mehr ergeben, wird der Garant am Überschussgewinn beteiligt. Auf diese Weise kann die Auktion kein Flop werden. Eine solche Inszenierung war die Versteigerung von Jeff Koons’ Plastik „Balloon Dog“, die zuvor 33,6 Millionen Dollar gekostet hatte und nun 58,4 Millionen erzielte. Vom Werbe-Effekt dieser Nachricht profitierten alle Besitzer von Koons-Werken; auch ihr Bestand stieg dadurch im Wert. Die sensationelle Inszenierung von Banksy zielte in die gleiche Richtung. Die Show verrät – wie immer – nicht alles. Wenn ein Garantiegeber mitsteigert und den Zuschlag erhält, wird der spektakuläre veröffentlichte Preis nicht wirklich bezahlt, weil der Erwerber ja selbst am Gewinn beteiligt ist.

Kunst als Finanzinstrument

Nicht jeder, der teure Kunst kauft, ist am Aufbau einer Sammlung interessiert. Es sind die vermögenden Kunden von Investmentbankern und Hedgefonds-Managern, die dem Rat folgen, bei der „Diversifizierung des Portfolios“ auf Kunst als „Asset“ neben Immobilien, Rohstoffen und Staatsanleihen zu setzen, um Inflation und Währungsschwankungen zu entgehen. Auch Erbschaftssteuer lässt sich so vermeiden: Wer Kunst 20 Jahre im Besitz hält und 10 Jahre einem Museum leiht, vererbt sie steuerfrei. Kein Aktiendepot kann das leisten.

Händler bündeln aktuelle Arbeiten verschiedener Maler zu Stilgruppen mit griffigen Markennamen („Transavantguardia“ etc.). Die Assets warten dann in Kisten verpackt darauf, mit Gewinn wieder verkauft zu werden. Pensionskassen übrigens haben auch in Kunst investiert. Wenn der Kunstmarkt schwächelt, ist die Pension gefährdet… Doch der Optimismus überwiegt: Die „Volatilität“ dieses „Finanzinstruments“ war über Jahrzehnte gering, sagen die Berater und meinen damit, dass die Kurs-Schwankungsbreite der Kunstvermögen ungleich geringer ausfiel, als die von Tech-Aktien oder Kryptowährungen. Nein, die Anleger sollen sich wohlfühlen, denn (so die Werbung von der-mindestlohn-kommt.de): „Die Verbindung von Ästhetik und Kapital birgt enormes Potenzial. Während klassische Anleger bei Marktschwankungen nervös auf die Kursanzeigen starren, genießen Kunstinvestoren einen echten Mehrwert – kulturell, emotional und wirtschaftlich. Kunst beruhigt. Kunst inspiriert. Und: Kunst schützt.“ Stecken darin nicht ein, zwei Romane von Balzac?

Das schöne Wort „Freilager“ steht für die Befreiung von Zollgebühren, von Umsatzsteuer und derlei Zumutungen. Auch Rechtsstreitigkeiten wie Restitutionsverfahren im Fall von Raubkunst entgeht man hier leichter. Beruhigt und ohne nervös zu starren kann der genießende Nutznießer sein Geheimmuseum in Genf, Luxemburg, Monaco, Singapur oder wo immer aufsuchen, wenn er denn möchte. Die Kunst lagert dort neben Oldtimern, Weinen oder Gold, dient als Sicherheit für Kredite und kann ohne Transport, Zoll und Steuern gehandelt werden. Auch Auktionshäuser mieten sich in Zollfreilagern ein. Nach einer Versteigerung wandern die Objekte einfach über den Gang in ein anderes Depot. Halb Bunker, halb Galerie, sind diese „Offshore- oder exterritorialen Museen“ mit die wichtigsten Räume der zeitgenössischen Kunst, schreibt Hito Steyerl in ihrem Buch „Duty Free Art“: ein „Luxus-Niemandsland“. Sie zitiert auch einen nicht genannten Insider, der es als „enormen Vorteil“ betrachtet, dass die gebunkerte „minderwertige Markt-Kunst“ nicht öffentlich zu sehen ist. Sie hege große Sympathie für diesen Standpunkt (S. 231).

Wie können diese Luxus-Exklaven rechtlich bestehen? Kein Problem, sie sind von den jeweiligen Staaten so eingerichtet und geschützt. In Genf zum Beispiel gehört die Zollfreilager-Aktiengesellschaft zu 86 Prozent dem Kanton. Dort lagern laut Wikipedia 1,2 Millionen Kunstwerke, und die Geschäftsführerin ist sinnigerweise Kunsthistorikerin und Juristin. Es gibt viele weitere Freilager in der Schweiz, und sie werden im Land auch kritisch gesehen. Die Schweizer Rechtsanwältin Monika Roth erinnerte in einem Rundfunk-Interview daran, dass viele Spuren aus den 2016 enthüllten „Panama Papers“ zu versteckten Kunstsammlungen und illegal gehorteten Kulturgütern in diesen Freilagern führten. Und oft habe das mit Geldwäsche zu tun. Seit 2020 hat die EU daher die Verpflichtungen zur Geldwäscheprävention auf dem Kunstmarkt verschärft. Händler müssen ihre Kunden identifizieren. Das US-Finanzministerium schlug im vorigen Jahr Alarm, als die Beamten mitbekamen, dass ein libanesischer Kunstsammler mit Bilder-Verkäufen in dreistelliger Millionenhöhe die US-Sanktionen umging, um die Hisbollah zu unterstützen. Ein Gesetz speziell gegen Geldwäsche auf dem Kunstmarkt wird seit Juli im US-Kongress beraten.

Weit entfernt also von „interesslosem Wohlgefallen“ werden Kunstdinge gebraucht und missbraucht für alle möglichen Zwecke. Ist es so, wie Metz und Seeßlen in „Geld frisst Kunst“ (S.84) schreiben, dass „der absurde Reichtum der oberen 0,1 % die Kunst auf(frisst), die keine Chance mehr hat, sich in die Gesellschaft hinein zu entwickeln“? Für das Marktsegment der hochpreisigen Assets habe ich das beschrieben, für die anderen gilt es nicht. Wir als Betrachter bekommen von der stummen, weggesperrten Kunst wenn überhaupt nur den medialen Abglanz zu sehen, den kurzen Moment, in dem ein Spitzenwerk durch den Spitzenpreis aufblitzt. Und wir erleben dabei den Widerschein einer sozialen Schieflage. Aber diese Sphäre kommt am Ende nicht ohne die „unteren Etagen“ des Marktes aus. Die, die sich nicht für die Kultur, für die Inhalte interessieren, wollen trotzdem bei dieser Art Kapitalanlage das kulturelle Image zumindest als Nebeneffekt mitnehmen – siehe „Mehrwert“. Und dazu braucht es die Künstler*innen, Galerist*innen und anderen Vermittler*innen, die die Sinndiskussionen führen. In den Akademien, Ateliers, Kunstvereinen und an ihren vielen anderen Plätzen „spricht“ die Kunst. Oft aus ökonomisch prekärer Lage, aber sichtbar und lebendig.

Über "Geschichten vom Kunstmarkt" diskutiert die offene Gesprächsrunde bei "Kunst & Brot" in der Stadtbibliothek Siegburg (Griesgasse) am Donnerstag, 13. November, ab 18 Uhr.

Hübsch hässlich

Max Ernst: Die Horde (1927)

Die „schönen Künste“, das war mal ein Begriff, der den Werken von Künstler*innen unterstellte, sie verbreiteten nichts als Wohlgefallen und moralisch Gutes. Oder die Utopie einer besseren Welt, in der Hässliches und Schlechtes keinen Platz haben. Der Nervenkitzel durch abscheuliche Bildmotive und Szenen – Martyrien, Höllenfahrten, Tod und Teufel -, die es bekanntlich auch zu sehen gab, diente moralischen Lehren. Das Hässliche findet sich hier formal ästhetisiert und so wieder genussfähig dargeboten. Schreckliches wurde erbaulich im Erhabenen, Groteskes war und ist unverzichtbar in der Karikatur. Demnach: Das hübsch Hässliche hatte immer seinen Platz in den „schönen Künsten“, doch stets abgewertet zum Negativen des Schönen.

So lässt sich verstehen, dass die erste begriffssystematische Erörterung des Phänomens in der Kunstphilosophie, die „Ästhetik des Hässlichen“ von Karl Rosenkranz (1853), das Hässliche als Spezialfall, ja als Unfall des Schönen beschrieb, als Dissonanz zur Harmonie, ohne eigenen kategorialen Stand. Zur selben Zeit indes entwickelten sich in Malerei und Literatur realistische, später naturalistische Denkweisen und Strategien, die die überlieferten Ideale in Frage stellten. Die ästhetische Gesetze postulierenden moralisch-philosophischen Autoritäten sahen sich mit empirischen Mitteln entthront. Ob etwas als schön oder hässlich empfunden wird, so die neue Erkenntnis, ist Sache der individuellen Perspektive, die aber nicht rein willkürlich, sondern stark durch kulturelles Lernen bestimmt wird.

„Der Kretin ist noch hässlicher als der Neger“, solche heute unerträglichen Äußerungen wie die des Ästheten Rosenkranz zeugen davon, dass die Aufklärung noch einiges zu tun hatte (und hat), um unreflektierte kulturelle Vorurteile aufzulösen. Was der Mensch seit Zehntausenden von Jahren verinnerlicht hat: sinnvollerweise spontan zu registrieren, was gefährlich (hassenswert) und was nützlich ist im Leben, kann sich auch als falsch erweisen und sich ändern. Das sichtbar zu machen, dazu brauchte es Realismus, den wissenschaftlichen und künstlerischen wie den persönlichen.

Alltagsszenen in der Malerei, wie der Blick auf Steineklopfer und Absinthtrinker, zielten nicht aufs Seelenheil, sondern auf soziale Empathie im Diesseits. Das Hässliche wurde zur selbstständigen Kategorie, weil die Wirklichkeit als immer hässlicher empfunden wurde. An der formalen Ästhetisierung des Schmuddeligen und Scheußlichen änderte sich im sozialen Realismus grundsätzlich nichts; das Hässliche war immer noch ganz hübsch.

Die Künstler*innen der Moderne räumten auch damit auf. An Duchamps Urinal, betitelt „Fountain“ (1917) ist an sich nichts ästhetisiert, diese Aufgabe liegt nun beim Kontext: Der Künstler stellt das Objekt in eine Ausstellung, das genügte. Schön oder hässlich sind spätestens seitdem für die Inhalte der Kunst keine bestimmenden Kategorien mehr. Gleichwertigkeit der Phänomene bedeutet indes nicht, dass das Hässliche seinen Reiz verloren hätte. Wenn Arman gefundenen Abfall auf einen Bildträger montiert („Kleiner bürgerlicher Müll“), entsteht ein Ornament mit eigenem ästhetischem Wert.

Damit sind wir bei den Werkbeispielen angekommen, von denen ich zehn ausgesucht habe. Historisch beginnend bei Hans Baldung-Grien: „Der Tod und das Mädchen“, entstanden um 1513. Der monströse Untote mit dem Stundenglas ergreift das bleiche Mädchen, das ihm vergebens zu entfliehen sucht – das typische Memento mori: die Moralthese, dass Schönheit vergänglich ist und das hässliche Ende gewiss. Abweichungen vom als normal empfundenen Körperbild, die Auflösung der Konturen, die sichtbare Verwesung, das sind immer wieder in der Kunst geschilderte Phänomene des Ekel und Abscheu Erregenden. Im 20. Jahrhundert erfanden die Maler*innen Formen, die die menschliche Figur total auflösten in nicht mehr definierbare organische Strukturen. Max Ernst malte „Die Horde“ 1927, eine Gruppe wildbewegter Gestalten, die nur soweit an Menschen erinnern, dass der Betrachter noch das Gefühl schauderhafter Deformation erleben kann. Die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze verschwimmen – darauf beruhten schon romantische Schauermärchen. Max Ernst hatte klare Absichten:
„Ein furchtbarer Krieg hatte uns um fünf Jahre unseres Lebens betrogen. Wir haben erlebt, dass alles, was uns als gerecht, schön und wahr überliefert worden war, in Lächerlichkeit und Schande zusammenbrach. Meine Werke dieser Zeit sollten nicht bezaubern, sondern aufheulen lassen.“

Surrealismus ist hier der Realismus des Hässlichen, und in diese Kategorie gehört auch Otto Dix’ Bild „Grabenkrieg“ von 1932. Die beiden Soldaten verschmelzen mit der zerstörten düsteren Landschaft; Uniform, Bäume, alles ist zerfetzt, der Blick unter dem Stahlhelm starr vor Entsetzen. Dix malte die Szene 14 Jahre nach dem Ende des ersten Weltkriegs, kaum ahnend, dass nur sieben Jahre später der zweite beginnen sollte.

Das Thema "Ästhetik des Hässlichen" diskutiert die offene Gesprächsrunde bei "Kunst & Brot" in der Stadtbibliothek Siegburg (Griesgasse) am Donnerstag, 16. Oktober, ab 18 Uhr.

Das Hässliche als solches zeigen und damit eine Anklage verbinden, einen moralischen Appell, das gehört über die Jahrhunderte zur Rhetorik der Künste und findet sich in politisch-aktivistischen Kunstformen bis heute. Mit der Provokation der Auflösung des menschlichen Körpers arbeitete noch Jana Sterbak, so bei ihrem Auftritt 1987 in einem Fleischkleid, zusammengenähte Stücke rohen Fleisches, die nicht nur fürs Auge, sondern auch für die Nase etwas boten. Ganz klassisch „Vanitas“ nannte sie das Werk, das sie in Beziehung zur Diagnose der Magersucht setzte. Fleisch und Blut gelten an sich nicht als hässlich, die Verwendung und der Kontext sind hier entscheidend. Wohl keiner hat größere Blutskandale ausgelöst, als Hermann Nitsch mit seinen Schweine- und Rinderblutorgien in seinem Mysterientheater. So in der „Malaktion mit Tierblut“ 2004, in der eine weiß gekleidete, später rot triefende Gruppe sich auf der Bühne in action painting übte. Eine Monstranz wurde dabei hochgehalten; Nitsch ging es um die Übersteigerung katholischer Rituale. Das Hässliche endete im Absurden.

Wie erwähnt, haben Künstler wie Duchamp und Arman, aber auch Vertreter des Abstrakten Expressionismus – Wols, Pollock, Fautrier, Vedova und andere – dem Hässlichen und Morbiden einen eigenen ästhetischen Wert zugebilligt, ohne es als das bloß Unschöne zu instrumentalisieren, ohne zu moralisieren. Alles konnte Motiv sein, auch die Reste abgerissener Plakate auf einer verwitterten Wand. Unzählige vor allem fotografische Werke belegen das.

Das Schöne und das Hässliche gleichberechtigt – wie schön. Aber Hierarchien sind deshalb nicht ganz aus der Kunstwelt verschwunden, denn da gibt es noch das unfreiwillig Hässliche, das misslungene Werk. Auch dafür gibt es zahllose Beispiele; hier sollen zwei reichen: „Schreitende Kugel“ betitelte der Bildhauer Michael Schwarze eine Bronzeplastik, ein Auflagenobjekt. Aus der Kugel wachsen zwei Füsse, ebenso ein rechter Unterarm mit Hand, und die linke ragt nach unten aus dem Kugelbauch wie die Karikatur eines Geschlechtsteils. Die typische groteske Körperentfremdung – soll man das als gelungenen Witz auffassen? Die „schreitende Kugel“ kann alles andere als schreiten, rollen geht auch nicht und die linke Hand zu ergreifen verbietet die Schicklichkeit. Insgesamt ein trauriger Anblick.

Eine ungefähre Symmetrie ist für die Gestalt generell ein positiver Befund, ohne sie scheint der Körper weniger gesund, daher gilt die Formauflösung ja als kritischer Prozess, der Ängste auslöst. Kann Symmetrie also hässlich sein? Victor Vasarely gelingt das, so in seinem Bild „Relat“ (ca. 1978). Horizontal und vertikal gespiegelt in quadratischem Format, demnach vier kleinere Quadrate ergebend zeigt sich die Grobstruktur. Sie ist gefüllt mit perspektivisch verzerrten Kreisen, die in vielen kleinen Quadraten sitzen. Es ergibt sich eine rudimentäre Räumlichkeit, in der der Blick wandern kann, ohne irgendwo zu landen bzw. im Immergleichen. Die zwanghafte Wiederholung selbst des Schönen führt ins Hässliche, das war schon die These der klassischen Ästhetik. Vasarely bringt so auch die Farbtöne Blau, Violett und Rot noch in die Bredouille.

Ach, was ringe ich mir da für Sätze ab, mühe mich um sinnvolle Argumente, wenn ich stattdessen einfach den Algorithmus fragen kann. „Hässliches Bild“ lautete ganz simpel meine Eingabe in den Bildgenerator „stable diffusion“ – und prompt, als sei nichts einfacher, kommt das:

Artigart mit Stable diffusion: Hässliches Bild (2025)

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Ausdruck

Wenn der Maler auf die Tube drückt – dann quillt Farbe heraus. Der Vorgang wie das Ergebnis ist Ausdruck, im materiellen Sinn. In diesem Sinn aber spielt der Begriff in der Kunst so gut wie keine Rolle. Dagegen ist die Metapher „Ausdruck“ überaus häufig; sie wird sogar arg strapaziert.

Kaum ein Text über Zeichnung, Malerei oder Plastik, über Tanz oder Musik, Lyrik natürlich auch kommt ohne ihn aus. Immer wird etwas ausgedrückt. In der Stil- und Epochenbezeichnung „Expressionismus“ (der klassische, der abstrakte, der gestische) wird der Begriff zur allgemeinen Deutungsgrundlage. Die Metapher „Ausdruck“ hat den Vorzug, den manche Sprachbilder haben: Sie ist keineswegs präzise, festgelegt, sondern überaus flexibel anwendbar und anschlussfähig. Das erleichtert die Kommunikation in der Breite.

Anders als im alltäglichen Ausdruck, der spontan aus dem Gefühl kommt, kurzlebig und situativ gebunden ist, haben wir es in der Kunst mit bewusst gestalteten und fixierten Formen zu tun. Auch wenn das Werk ebenfalls spontan und gefühlsbetont entsteht, neben allen Anteilen von Rationalität, ist es eine Darbietung im Kunstkontext, ein ästhetisches Phänomen mit nachvollziehbarer Rhetorik.

Es geht demnach nicht darum, das verborgene Innere der Künstler*innenpsyche zu entschlüsseln, was man lange geglaubt hat tun zu können, sondern die Werkinterpretation – der sich ja noch viele andere Aspekte und Kontexte anbieten – befasst sich mit der Darstellung. Welcher Ausdruck wird dargeboten, welchen Eindruck soll das machen und macht es tatsächlich?

Vergessen wir also den Überdruck, der Grundlage des (kaum zu verhindernden) künstlerischen Ausdrucks sein sollte. Eine Diagnose, die dem Image der überschäumenden „Sprudelgeister“ der Geniezeit und deren Nachfahren förderlich war, die naiven oder gar verrückten Künstlern anhing, von Surrealisten kolportiert wurde und den Neuen Wilden wieder zupass kam. Sie alle sind in ihren Bedürfnissen und Nöten nicht anders gestrickt als andere, sie machen nur etwas anderes daraus.

Und dabei geht es um Ausdrucksfähigkeit, da kommt die Metapher wiederum ins Spiel. Das Ergebnis muss nicht immer „ausdrucksstark“ sein im Sinne von überwältigend, von großem Orchester. Subtiles, Feines, Zurückhaltendes hat seinen eigenen Ausdruckscharakter.

Künstler*innen nehmen sich die Freiheit und kultivieren die Mittel, etwas darzustellen, was Eindruck macht. Ausdrucksfähigkeit bezeichnet ihre Eloquenz in diesem Prozess, auch hier nicht präzise im Sinne desjenigen Sprachgebrauchs, der nur einen unbewussten Ausdruck kennt. Ob sie in ihren Werken unter anderem etwas ausdrücken, verraten, was nicht zu ihrem Plan gehörte, ist zunächst nebensächlich – und von wechselnden Kontexten und Betrachtungsweisen abhängig, also per se nicht planbar.

Als Betrachter können wir uns spontan auf die Darstellung einlassen und unseren Eindruck gewinnen, das ist ja immer der Ausgangspunkt auf dem Weg zum besseren Verständnis. Wie wir reagieren auf die Kunst, das ist, um im Bild zu bleiben, Ausdruck unserer eigenen Fähigkeiten.

AugenBlick

Das Mittelrhein-Museum in Koblenz präsentiert ein Bild von Raimund Girke (Mitte). Foto: artigart 2025

Künstlerinnen bekommen nicht, was sie verdienen

Sie hatten seltener Erfolg als Männer und wenn, mussten sie besonders hart darum ringen: Künstlerinnen waren in der Geschichte zunächst die Ausnahme, erkämpften sich erst nach und nach ihre Rechte und das Wahrgenommenwerden. Heute sind die Frauen im Kunstberuf zwar etabliert, aber immer noch deutlich weniger erfolgreich als Männer. In unserer Diskussion zum Thema Selbstporträt* war das eine These. Es ist kein Vorurteil – das lässt sich mit aktuellen Zahlen belegen.

Es gibt zwar mittlerweile fast so viele Künstlerinnen wie Künstler in der Statistik, die auf Zahlen der Künstlersozialkasse von 2024 beruht: 11.253 zu 11.620. Aber die weibliche Künstlerschaft wird nach wie vor schlechter bezahlt, ihr freiberufliches Einkommen ist im Durchschnitt 30 Prozent niedriger. Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die freien Künste: Malerei und Zeichnung, Bildhauerei, Konzeptkunst, Medienkunst und Performance.

2122 Euro im Monat brutto, das ist das höchste Durchschnittseinkommen – wenn der Betreffende männlich und Medienkünstler ist. 34 Prozent weniger kommen herein, wenn die Medien auf weiblicher Kompetenz beruhen. Die größte Einkommenslücke in den fünf Berufsfeldern tut sich hier auf. Am wenigsten bekommen Performance-Künstlerinnen mit 792 Euro monatlich. Ihre männlichen Kollegen in dieser Sparte erhalten 1136 Euro. Eine Differenz von 30 Prozent.

Auf Platz zwei rangieren die Maler und Zeichner mit 1437 Euro monatlich, ihre Kolleginnen verdienen 29 Prozent weniger; Platz drei nehmen die Bildhauer ein mit 1208 Euro, 28 Prozent darunter liegen die Einnahmen der Bildhauerinnen; und schließlich verbuchen Konzeptkünstler mit 1015 Euro 22 Prozent mehr als Konzeptkünstlerinnen.

Sorgearbeit für Kinder, Senioren oder Partner, die neben dem Beruf geleistet wird, ist nach wie vor ein Hauptgrund für geringere Künstlerinnen-Einkommen, abgesehen davon, dass wie in anderen Branchen auch für Frauen einfach niedrigere Tarife angesetzt werden – aus Tradition. Aber da gibt es doch noch die Stars mit sagenhaften Spitzeneinkommen? Na prima, aber logischerweise bedeutet das am anderen Ende um so geringere Einkommen. Das statistische Mittel beleuchtet indes, wie immer, nicht den Einzelfall, sondern verdeutlicht die Gesamtlage. Und die sagt: Die eingangs angesprochene historische Entwicklung ist noch nicht am Ziel.

* https://artigart.de/die-un-moeglichkeit-des-selbstportraets/

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Rahmen

Der Rahmen kann auch aus dem Rahmen fallen… (Bild: artigart)

Ursprünglich hatte er keine ästhetische, sondern allein eine stützende Funktion. Das Wort Rahmen kommt wohl, wie so viele unserer Dingbezeichnungen, aus dem Handwerk: Als Webrahmen, später auch als Fensterrahmen und in vielen anderen Verwendungen war und ist er technisch notwendig. Und so auch bei Bildern als Keilrahmen. Etymologisch ist der Rahmen verwandt mit Rand.

Bildränder bereits auf alten Wandmalereien kannten die architektonische Umrahmung mit ihrer gestalterischen und bedeutungsgebenden Funktion. Den metaphorischen Rahmen also, der technisch nicht notwendig ist. Holztafeln und Leinwandbilder bekamen Holzrahmen, gerne prunkvoll vergoldet. Sie trennen den Bildraum vom Umgebungsraum. Wenn sie aufwändig gemacht und wertvoll sind, werten sie das Bild ebenso auf wie seinen Ort.

Mit der massenhaften Verbreitung von Reproduktionen im 19. Jahrhundert kamen die billigen einfachen Fabrikrahmen aus verschiedenen Materialien in den Handel. Aber auch für die Unikate der gehobenen Kunst wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerne auf farb- und formenreiche Umrahmungen zugunsten schlichter Leisten verzichtet, selbst im sonst so dekorverliebten Jugendstil.

Und dann fiel der Rahmen ganz weg, denn die Bilder sollten als entgrenzt wahrgenommen werden, als Fragmente eines größeren Zusammenhangs, eines Kontinuums. Da störte der Rahmen. Die Moderne setzt auf den Prozessgedanken des unabgeschlossenen Werks, soweit sie den zweidimensionalen Bildraum nicht ohnehin verließ.

Noch einmal zur Wortgeschichte: Das Verb „rahmen“ meinte neben der technischen Handlung auch „auf etwas zielen“, „etwas bestimmen“. Hier scheint bereits der übertragene Sinn der rhetorischen Rahmung angelegt, heute viel diskutiert als „Framing“. Das meint allgemein die Einengung auf eine bestimmte Perspektive, die Steuerung der Sichtweise auf einen Sachverhalt. Ein beliebtes Beispiel der Kommunikationsforschung ist die „Steuerlast“ der Bürger. Durch dieses Framing wird ohne jede Debatte von vornherein die Abgabe negativ gefärbt, ausschließlich als Belastung. Würde man dieselbe Sache als „Gemeinwohl-Profit“ framen, sähe sie ganz anders aus. Derlei bedeutungsstiftende „Rahmen“ sind unverzichtbar, aber sie müssen interpretiert und bewertet werden.

Für die Kunst bedeutet Framing zweierlei: Nicht nur, dass der real vorhandene Bilderrahmen die Bildwirkung beeinflusst, sondern auch, dass der/die Künstler*in mit ihrer Auswahl des Dargestellten wie mit der Darstellungsweise die Aussage so steuert, dass man es ebenfalls als Framing bezeichnen kann. Nur wird dahinter keine hinterlistige Strategie gesehen, denn der Werkprozess ist per se und notwendigerweise immer Ergebnis vielfältiger Manipulation.

Mit der Öffnung der Kunst für alle erdenklichen, auch bis dahin nie verwendeten Materialien konnte es nicht ausbleiben, dass der Rahmen in den kreativen Blick geriet und zum Thema wurde. Das Bild im Bild war da natürlich schon lange bekannt, bei dem es aber nicht so sehr um das Objekt Rahmen ging. Es gibt eine Menge Beispiele für die Überraschungs- und Verfremdungseffekte, die sich die Zunft zu dem Thema ausgedacht hat, davon hier vier:

Sigmar Polke hat in vielen seiner Bilder mittels transparenter Leinwand den dahinter liegenden Konstruktionsrahmen sichtbar gemacht. Was bis dahin die Bildfläche nur glatt spannen sollte, wird jetzt strukturierender Teil der Darstellung. Eine ironische Perspektivenerweiterung: das wertlose Dienende emanzipiert.

Joseph Kosuth hat mehrere seiner Konzeptkunstwerke dem „Frame“ gewidmet. Sie bestehen in der Regel aus drei Teilen: einem Bilderrahmen, dem Foto dieses Rahmens und einem Lexikontext zum Begriff Rahmen. (Robert Gernhardt hätte hier sicher gesagt: „Mein Gott, ist das beziehungsreich…“)

Jasper Johns war da nicht so bürokratisch, sondern richtig radikal: Er zerstörte Rahmen, montierte die Teile auf die (rahmenlose) Bildfläche und versah sie mit Bilderfetzen. So demontierte er das Rahmenstereotyp ebenso wie Stereotype gegenständlicher Malerei.

Beat Zoderer schließlich lieferte Beispiele für den Übergang in die Plastik. Seine bunten Rahmenobjekte, große Tableaus, kommen allein mit den rechteckigen Formen aus, die hier ohne weitere Zutaten das Bild bestimmen können. Spielerische Montagen, die das ehemals dienende Geviert zum Hauptdarsteller machen.

Die (Un-)Möglichkeit des Selbstporträts

Jan van Eyck: Selbstporträt, 1433

Aufmerksam, ernst und selbstbewusst scheint er uns anzublicken, Jan van Eyck auf seinem Selbstporträt von 1433. Wäre da nicht die verwegene rote Kopfbedeckung, wirkte das Bild nur still und düster. So bekommt der leuchtende „Turban“ ein besonderes Gewicht, aber auch der vergoldete Rahmen mit seiner aufgemalten Schrift ist Teil der Inszenierung des Renaissance-Malers. Unten Autor, Datum und oben das Bekenntnis „als ich kan“ (so gut ich es kann) unterstützen den dokumentarischen Charakter. Das Werk gilt als das älteste bekannte autonome Selbstbildnis in der europäischen Kunst.

Hier hat sich ein erfolgreicher Bürger, der auch in höfischen Kreisen gut situiert war, in genau dieser Rolle gespiegelt, sehr naturalistisch und detailliert in ausgefeilter Technik der Ölmalerei. Er wollte zeigen wer er ist und wie gut er es kann. Ihm reicht der statische Ausschnitt, das Brustbild, wie den meisten Selbstporträtisten in Folge. Er agiert nicht, er posiert. Der forschende Blick ist interpretiert worden als der des Malers, der sich selbst im Spiegel beobachtet. Das ist aber nicht der plausible Grund, warum van Eyck seine Betrachter so fixiert. Er kann es sich leisten, den Blick nicht zu wenden oder zu senken, er braucht kein Lächeln, keine Mimik, die ihn anders charakterisieren würde als selbstbewusst und gesetzt. Dass um ihn ein prachtvolles Leben und weit reichendes Wirken zu vermuten sind, dafür steht das lebhaft gefaltete Tuch.

Am Beginn der Geschichte des Selbstporträts finden wir demnach ein offenbar gesichertes Selbst, eine gezielte Blickregie und die Spiegeltechnik – alle drei Aspekte werden im Laufe der Entwicklung der Gattung Selbstbildnis eine Rolle spielen, sich aber erheblich wandeln. Das Selbst wird seine Sicherheit verlieren, die Macht des Blickes wird kritisiert und der Spiegel als Metapher und Werkzeug in Frage gestellt werden. Um van Eyck zu verstehen, ist nicht allein sein ökonomischer und sozialer Erfolg wichtig, sondern zum Beispiel auch die Tatsache, dass sich der Mensch damals als Mittelpunkt eines göttlich geordneten Universums empfand. Dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht und deren Bewohner in Wirklichkeit eine Randerscheinung im Kosmos sind, brachte Kopernikus erst 110 Jahre später ins Spiel.

Noch einmal eine lange Zeitstrecke weiter, 1998, hat das Selbst seine „Seele“ längst verloren; sein äußeres Bild und damit der Blick des Porträtierten spielen keine Rolle mehr. Aber es gibt den Spiegel noch, allerdings in anderer Funktion. Von Andreas Horlitz stammt das „Autoporträt DNA“, es zeigt stark vergrößert DNA-Sequenzen aus Genmaterial des Künstlers auf einer teilweise verspiegelten Glasfläche. In diesem abstrakten Bild ist nichts Persönliches, Individuelles mehr lesbar abgebildet, zumal der größte Teil der DNA der Menschen gleich ist. Im Gegenteil, die Spiegelpartien zeigen den Betrachter, Horlitz lässt sein „Autoporträt“ mit Detailansichten des Gegenübers verschmelzen. Das folgt der grundlegenden Idee der modernen Kunst, das Werk entstehe in der Kommunikation.

Die Selbstbeobachtung verlässt hier den Standpunkt der Ich-Perspektive (die geisteswissenschaftlich-hermeneutische Position) und nimmt den naturwissenschaftlich-analytischen Standpunkt ein. Dass das Ich sich in der Selbstreflexion selbst zum Objekt wird, haben wir schon bei van Eyck gesehen. Und immer ging es in der Porträtmalerei darum, hinter der Erscheinung das „Wesen“ zu entdecken – mit den Mitteln der Imagination. Nun aber dringen bildgebende Verfahren in den Körper ein, und sie fördern keine Seele zu Tage. Die Selbstbespiegelung wird sich fremd.

Und was war in der Zwischenzeit passiert? Die Kunstgeschichte des Selbstporträts spiegelt ihrerseits die zahlreichen tiefgreifenden sozialen und kulturellen Umbrüche sowie Wandlungen der Neuzeit. Darüber ließen sich mehr als dicke Bücher schreiben. Die äußere Ähnlichkeit als Kriterium des Genres ging schon vor mehr als hundert Jahren verloren. Nicht erst Paul Klee und später Arnulf Rainer oder Frank Auerbach abstrahierten, verfremdeten oder übermalten das Gesicht. Ein bemerkenswertes Selbstbildnis in dieser Hinsicht ist „Der Schrei“ von Edvard Munch 1893. Es wird in der Kunstwissenschaft nicht als Selbstporträt geführt, ist in meinen Augen indes ein Prototyp der Art von Selbstdarstellung, die mit psycho-kulturellen Problemen nicht nur ringt, sondern sie gestaltet. Da ließe sich auch Vincent van Gogh anführen, und nach Munch vor allem Antonin Artaud.

Es gilt als gesichert, dass Munch in dem Motiv ein Angsterlebnis verarbeitete, das er während eines Spaziergangs in der norwegischen Natur hatte: „Der Himmel wurde plötzlich blutig rot (…), ich fühlte etwas wie einen großen, unendlichen Schrei in der Natur.“ Die Figur vorne mit dem weit geöffneten Mund, den vor Entsetzen aufgerissenen Augen und den schützend vor die Ohren gelegten Händen hat das unheimliche Erlebnis verinnerlicht, inkorporiert. Der Schrei ist wirklich gefühlt, nicht bloß akustische Halluzination. Der abgründige Strudel der Landschaft verweist auf innere Labilität.

Vernunft, Autonomie und Selbstkontrolle sind gefährdet, das „Unbehagen in der Kultur“, wirtschaftliche Not, Kriege, das alles steht im Hintergrund; Munch hat zu dieser Zeitdiagnose ein eindrucksvolles Selbstbildnis geschaffen.

Und wieder sind, das soll dem fragmentarischen Blick auf das Thema nicht entgehen, die Künstlerinnen erheblich unterrepräsentiert. Das gilt nicht speziell für dieses Genre, hat hier aber gerade unter den Aspekten des Selbstbewusstseins und der Macht der Blicke ein Gewicht. Man findet sie, die Malerinnen, vereinzelt in früherer Zeit – wie Artemisia Gentileschi im Barock, Therese Schwartzer im bürgerlichen Realismus -, und häufiger dann in der Moderne bis heute. Meret Oppenheim experimentierte 1964 mit Röntgentechnik, löste das Genre gänzlich von der Wiedergabe des Äußeren.

Carola Willbrand: Utensilien einer Verwandlung, 2002

Dass ein Selbstporträt in seiner Inszenierung auch etwas mit Maskerade zu tun hat, zeigt Carola Willbrand mit ihrem Künstlerbuch „Utensilien einer Verwandlung“ von 2002. Der mit Stoff – Muster Schlangenhaut – bezogene Kasten enthält ein Leporello mit sieben Nähmaschinenzeichnungen auf farbigem Papier, auf den Rückseiten Zeichnungen mit Permanentmarker und Gegenstände wie Plastik-Ohren und -Nase sowie für den Mund eine Party-Tröte. Um in der „Berufsrolle Künstlerin“ in die Welt zu treten, so Willbrand, braucht es Berufskleidung – „die Assoziation zum Karneval ist unvermeidlich“. Ein Foto im Kastendeckel zeigt das Ergebnis. Zur Selbstreflexion gehört hier eine Portion Selbstironie; ernsthaft bleibt die Auseinandersetzung mit Rollenklischees, mit den (so Willbrand) „Verbindungen zwischen dem Individuellen und dem Kulturellen und seinen Überformungen“.

Und in jüngerer Zeit, 2019, lieferte Alicja Kwade einen weiteren ironischen Beitrag, eine Bronzeplastik „Selbstporträt als Geist“, geformt nach einem 3-D-Scan. In ihrer exakten Lebensgröße steht da die Kwade-Figur verhüllt mit einem großen Tuch – vordergründig das klassische Gespensterklischee. Die Porträtierte blickt nicht, auch nicht in den Spiegel, und sie entzieht sich den neugierigen und möglicherweise aufdringlichen Blicken. Kwade interessiert nicht die Oberfläche, sie meint es ernst mit dem „Geist“. Und sie wendet sich gegen die Abstraktion von Röntgen- und Tomografie-Bildern. Die Idee des Geistigen einer Person bleibt gebunden an den physischen Leib und seine Inszenierung.

Das gilt auch für die Position von Sabine Hack, die sich (ebenfalls 2019) auf ähnliche Weise verhüllt darstellte. Die Fotografie mit dem Titel „Selbst (Faun)“ entstand spielerisch spontan während einer Session mit einem Fotografen. Das mit floralen Motiven bedruckte Baumwollhalstuch verbirgt nicht nur, sondern gestaltet auch den Kopf der Künstlerin. Es zeigt ein anderes Gesicht, das aber typisch ist für Sabine Hack, die für ihre Objekte oft Textilien mit organischen Ornamenten verwendet. Das Rätselhafte daran eröffnete ihr die Assoziation zu dem Fabelwesen Faun, dem mit der Fauna verwandten Naturgeist.

Sabine Hack: Selbst (Faun), 2019. Foto: Manfred Zaude

Über das Thema „Die (Un-)Möglichkeit des Selbstporträts“ diskutiert die offene Gesprächsrunde „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 8. Mai, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse. Beginn 18 Uhr.

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Wörterbuch

Selbstporträt

Rembrandt erprobt den Gesichtsausdruck – Radierung von 1630.

Ein Selbst stellt sich dar, bringt sein Ich und sein Selbstbewusstsein ans Licht.

Das Ich steht im Verhältnis und im Unterschied zum Du oder Wir. Die Wendung „ich selbst“ legt den Fokus auf die Selbstbetrachtung. Das Porträt will aber mehr, es soll das Ich den Anderen zeigen.

Das Selbst lässt sich nicht biologisch erklären, es lässt sich nur erleben. Wenn es zum Gegenstand wird, im Porträt wie in jeder anderen Form, dann zuerst zum Gegenstand der Selbsterfahrung, darauf fußend zum Phänomen, das sich diskutieren und begrifflich deuten lässt.

Es gibt also ein Vorbild und ein Abbild. Ginge es nur um äußere Ähnlichkeit, um detailgenaue Übertragung, wäre die Sache einfach. Und das Selbstbildnis vielleicht von eher geringem Interesse. Es ist aber viel komplizierter, denn schon das Vorbild, das Selbst, ist schwer festzustellen, es ist in Bewegung, positiv formuliert, realistisch gesehen unsicher, von innen und außen unter Druck. Das macht die Darstellung prekär. Und daraus folgte, dass Ähnlichkeit mit der Zeit (spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts) immer unwichtiger wurde. In allen Epochen bis heute aber gilt das Porträt auch als ein Instrument der Seelensuche oder der Seelenanatomie; es liefert dann Anzeichen für Innerpsychisches. Die andere Variante legt den Fokus auf Signale der sozialen Position, auf sachliche oder ironische Weise.

Aber was ist das Motivmaterial das Genres? Dazu zählt selbstverständlich die Ansicht der Person – zu sehen im Spiegel oder im Foto, wenn es um das Äußere geht; zu sehen im Röntgenbild, in Bildern tomografischer Verfahren, in der Darstellung von DNA-Sequenzen und anderer Durchleuchtungsmethoden, die Daten des Ich zu Tage fördern. Außerdem ist Selbstkenntnis eine Quelle, die zu gestalterischen Entscheidungen führt, sprich: das Wissen um die eigenen Gefühle, Absichten, die aktuelle Lage und den biografischen Hintergrund. Das findet seine Form ebenfalls in Mimik, Gestik, Requisiten und Raumatmosphäre.

Welche Informationen das nicht Bewusste, das ins Bild unvermeidlich einfließt, enthält und in welcher Form sich das äußert, lässt sich – wie bei aller Kunst – wenn überhaupt nur schwer erschließen. Dass es diesen Anteil gibt, verunsicherte viele Künstler. Andere verbanden damit die Hoffnung, im eigenen Porträt mehr über sich zu erfahren.

Künstler*innen arbeiten an ihren Porträts geleitet von ihren Wünschen, Ängsten und Überzeugungen. Ihre Selbstbefragung erscheint mal selbstbewusst, mal unsicher, bis hin zum sichtbaren Ringen um das Bild, auch bis zur Selbstauflösung. Es gibt Bilder, die von subjektiver Not, von einem Verlust von Vernunft und von Existenzangst sprechen. Andere gehen spielerisch, mitunter naiv oder aber kritisch mit den Thema um. Auch dieses Genre ist durch die Geschichte ein Spiegel der jeweiligen kulturellen Situation.

Pragmatisch betrachtet, hat es keinen Zweck, nach einem irgendwo fest verankerten Ich oder Selbst zu suchen, denn das Ich verändert sich handelnd, gerade auch durch die Formen seiner Selbstdarstellungen. Das beinhaltet aber auch die Chance des Selbstporträts, das kein Abbild ist, sondern ein Versuch, ein Entwurf, eine Behauptung.

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Ausgerechnet

Bilder im Konjunktiv

Dieses Bild generierte Stable Diffusion nach meiner Eingabe „La femme 100 têtes Max Ernst“.

Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge, dieser vielseitige und emsige Altmeister – einen 93-Jährigen darf ich so nennen -, hat 2024 vier neue Bücher veröffentlicht, darunter das mit dem Titel „Der Konjunktiv der Bilder“. Kluge hat den Bildgenerator Stable Diffusion für sich entdeckt und lässt den Algorithmus die möglichen Bilder nach seinen schriftlichen Anweisungen errechnen.

Eine Menge Beispiele enthält das kleine Buch, zu weiteren führen abgedruckte QR-Codes. Kluge findet hier einen neuen – vor allem eben visuellen Zugang – zu seinen Lebensthemen und -figuren, von der Odyssee über die großen Kriege bis hin zu seinem Ziehvater Theodor Adorno und natürlich Walter Benjamin. Neu ist daran die erstaunlich nahe an Science-Fiction und Computerspiel-Animationen herangerückte Bildästhetik. Reiterhorden, Seeschlachten und Weltraumfantasien machen neben Porträt-Verfremdungen den Großteil der Szenen aus, die Kluge der Fundgrube des Konjunktivs entlockt. Was der Rechner verbildlicht, löst sich oft in luftige Schlieren auf oder tendiert zum opaken bunten Pudding.

Der Meister hat es offenbar so vorgegeben. Denn Stable Diffusion kann auch gestochen scharfe und klar geometrische Formen liefern. Das kann jeder im Internet barrierefrei ausprobieren. Kluge bezeichnet sein neues Instrument als Künstliche Intelligenz. Er übernimmt also die Metapher der Tech-Industrie und er nimmt sie wörtlich, was bei einem so kritischen Kopf nicht unbedingt zu erwarten war. Ich möchte indes dabei bleiben: Auch der schnellste Rechner und Mustererkenner kann keine Intelligenz verkörpern, schlicht weil er keinen Körper hat. Intelligent sind die Programmierer.

„Diese Technik ist ein Instrument“, schreibt Kluge, „das gegenüber dem fixierten Gegenwartsbild einen weiten Freiheitsraum eröffnet.“ Mittels Sprache, die ja per se mehrdeutig ist, setzt er den Algorithmus in Bewegung und freut sich über die „überraschenden, blitzartigen Konnotationen zwischen Bild und Text und vor allem: zwischen Bildern.“ Das erinnert sehr an die literarischen und künstlerischen Strategien der Surrealisten, an Lautreamonts berühmte Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch. Aus dem „Konjunktiv der Bilder“ hat Max Ernst per Collage die tollsten Szenen gezaubert: die Serien „La femme 100 têtes“ und „Une semaine de bonté“. Im ästhetischen Vergleich haben es Kluges Rechner-Produkte schwer.

Im Grunde nichts Neues also? Der Bildgenerator stellt zweifellos eine fortgeschrittene Technik zur Verfügung, die Max Ernst vielleicht auch gerne benutzt hätte. Es kommt darauf an, sie zu beherrschen. Wer mit der Hand zeichnen, aus dem Körperbewusstsein die Formen entwickeln will, hat nichts davon. Sprachbefehle schalten sich zwischen die schöpferischen Impulse und das Artefakt. Die Arbeit wird körperlos, Malen zur Konzeptkunst. Ein Verlust einerseits, doch wohl auch ein Weg zu neuen Möglichkeiten.

Stable Diffusion ist lustig. Ein und dieselbe Texteingabe zur Bildgenerierung kann heute ein anderes Bild ergeben als gestern. Ein Algorithmus mit Tagesform. Der Zufall spielt mit, das macht die Sache spannender – aber auch noch undurchschaubarer.

Hier geht es zu Kluges Bildern.

Kunst im Exil

Montage: artigart.de

Die Kunstgeschichte des Exils im 21. Jahrhundert ist noch nicht geschrieben. Das Thema ist aktuell und im Fluss, es betrifft bedauerlicherweise viele Künstler aller Sparten aus den zahlreichen Kriegs- und Krisengebieten der Gegenwart. Hier geht es um den Versuch, so fragmentarisch wie exemplarisch einige Informationen zu Bildenden Künstlern zu bündeln und damit vorläufige Einblicke in das Geschehen zu gewinnen.

Farkhondeh Shahroudi floh 1990 aus politischen Gründen aus dem Iran, studierte in Dortmund und lebt heute in Berlin „im deutschen Exil.“ Ihre Arbeiten thematisieren die Erfahrungen von Verfolgung, Flucht und Exil. Sie zieht dabei auch Verbindungen zur deutschen Geschichte, zum Exil deutscher Künstler im Dritten Reich. „max beckmann war nicht hier“ ist eine ihrer typischen Arbeiten, die formal die textile Kunsttradition ihrer Heimat und westliche Konzeptkunst verbinden. 2017 war Shahroudi Stipendiatin der Villa Romana in Florenz und stieß bei Recherchen darauf, dass auch der Maler Max Beckmann dort gearbeitet hatte, der 1937 vor den Nazis flüchten musste. In einer imaginären Brieffreundschaft mit ihrem „Doppelgänger“ reflektierte Shahroudi die gemeinsame Exil-Erfahrung, dazu entstanden Zeichnungen und 2019 das Samtbanner mit einem Zitat aus ihren Texten: „max beckmann war nicht hier“.

Für die Abwesenheit vom eigentlich gewünschten Lebensort und die Anwesenheit an einem zunächst als provisorisch verstandenen Fluchtort ist der mit persischen Teppichen ummantelte Wohnwagen die Metapher: In dem Werk „ich habe knast“ verband die Künstlerin 2023 die Installation, zu der auch eine Text-Fahne gehört, mit einer Performance und einer Suppenküche. Die traditionellen Teppiche mit ihrer ornamentalen Verbildlichung des Paradieses als Garten kommen in vielen Shahroudi-Werken vor, ebenso wie die Fahnen, die an die Revolution in ihrer Heimat erinnern.

Die Künstlerin wehrt sich dagegen, dass die Wurzeln gekappt werden. 2024 zeigte sie in einer Skulpturenausstellung unter anderem ihre „Seed bomb“, die überdimensionierte „Samenbombe“, eine Kugel aus Teppichen, die der Hoffnung Ausdruck zu geben scheint, neue Wurzeln schlagen zu können, die mit den alten zusammenwachsen.

Rawan Almukhtar, 1991 geboren in Bagdad, studierte dort an der Universität der Bildenden Künste Malerei und beschäftigte sich im Irak unter anderem mit dem Thema konfessioneller Gewalt. Er bezeichnet sich als queer und politischen Aktivisten. Aufgrund der daraus entstehenden bedrohlichen Konflikte verließ er sein Land und lebt heute in Wien.

„Die Grundlage meiner Arbeit liegt in den Erfahrungen meines eigenen Körpers, zu denen die erzwungene Migration, auferlegte Geschlechterrollen und das Zeugnis verschiedener Kriegs- und Besatzungszyklen gehören. Ich beobachte und dokumentiere Verletzlichkeiten, kollektiven Widerstand und soziale Bewegungen.“

Auch im Exil bewegt er sich zwischen Kunst und Aktivismus. Und so zeigt er in seinen Bildern Menschen in Aktion. „Dukhania“ ist der Titel einer großformatigen Kohlezeichnung (4,5 mal 1,5 Meter) von 2020. Das Motiv geht zurück auf die irakische Revolution im Oktober 2019. Den Aufstand, von der Regierung gewaltsam beendet, betrachtet Almukhtar als Zäsur für sein Werk, das seitdem thematisch geprägt ist von Gewalt und Flucht. „Leaving“ (Öl auf Leinwand, 2 mal 1,2 Meter) entstand 2024. In einem Stil, der Techniken des Fotorealismus für eine vielschichtige fluide Figuration nutzt, versucht der Künstler die Auflösung von Grenzen, sowohl der geografischen wie der körperlichen und mentalen zu schildern.

Ai Weiwei ist sicher der prominenteste Exilkünstler der Gegenwart. Jahrelang machte der chinesische Dissident auch außerhalb der Kunstwelt Schlagzeilen. Wegen seiner offenen Kritik am Regime der KPC wurde er 2011 für 81 Tage inhaftiert, danach in Peking unter einen streng überwachten Hausarrest gestellt. Zu seiner großen Ausstellung „Evidence“ (Beweise) in Berlin 2014 durfte er nicht reisen. Erst 2015 gaben ihm die Behörden seinen Paß zurück und er ging nach Berlin ins Exil.

„Beweise“ hatte Ai gezeigt für die Unterdrückung von Meinungsfreiheit und anderer Menschenrechte in seiner Heimat. Darunter die „Überwachungskamera“ aus Marmor, eine formgenaue Nachbildung des Modells, von dem die chinesische Polizei 17 Exemplare um sein Haus herum installiert hatte. Als Konzeptkünstler und Bildhauer greift Ai immer wieder Gegenstände und Kontexte auf, mit denen er politische und kulturpolitische Aussagen visualisieren kann. „Die größte Schwierigkeit der Gegenwartskunst besteht darin, für diese komplexe Welt bedeutsame Bilder zu finden“, sagte er 2017 in einem Interview.

Die Sprache der westlichen Konzeptkunst hatte er in jungen Jahren bei einem Aufenthalt in New York gelernt, und andererseits bezieht er sich oft auf chinesische Traditionen. Wenn er Handschellen aus Jade herstellt, ist das eine ironische Konfrontation von gegenwärtiger Brutalität mit konfuzianischen Werten wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Weisheit, die der Jadestein symbolisiert. Auf bildrhetorisch ähnliche Weise funktioniert seine in traditioneller Herstellung geformte Vase mit dem Coca-Cola-Schriftzug.

Wenn die Objekte weniger hintersinnig, also plakativer ausfielen – wie Installationen mit orangefarbenen Rettungswesten oder das überdimensionierte Schlauchboot mit 60 schwarzen Figuren – blieb Kritik nicht aus: „Vordergründiger Aktivismus“, „Kunsthandwerk“ und „Marketing“, mit solchen Wertungen musste sich Ai in Deutschland auseinandersetzen. Der streitbare Künstler konterte heftig. Die deutsche Gesellschaft akzeptiere „nicht wirklich andere Ideen und Argumente“ als ihre eigenen, es gebe „kaum Raum für offene Debatten“, bekundete er 2019, bevor er Deutschland in Richtung England verließ. 2021 wählte er Portugal als Land seines Exils.

2023 wurden geplante Ausstellungen in London, New York, Berlin und Paris abgesagt, weil Ai die Unterstützung Israels kritisierte und sich auf die Seite der Palästinenser stellte. Der Künstler beklagte, man könne auch im Westen, wie in China, nicht über die Wahrheit sprechen.

Iryna Yakovlieva flüchtete 2022 aus Mykolajiv vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, zunächst innerhalb des Landes, dann weiter nach Deutschland. Sie lebt und arbeitet in Nienburg an der Weser. In ihrer Heimat wurde sie an einer Kunstakademie ausgebildet; man findet traditionelle Blumenmotive von ihr im Internet. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ukrainische Künstler*innen wie auch Musiker*innen an konventionellen Formen (des 19. Jahrhunderts) orientiert sind. Bei Yakovlieva bedeutete die Flucht auch einen stilistischen Bruch.

Ihr erstes Bild in Deutschland entstand im Juni 2022 und thematisiert das Trauma des Krieges: Die farbige Zeichnung „Der Schrei der Seele“ zeigt eine junge Frau, den Mund zum Schrei geöffnet, mit einem blutrot und feuergelb lodernden Körper, dem schwarze Vögel zu entweichen scheinen. Das statisch Dekorative des Stilllebens hat einem plakativen Expressionismus Platz gemacht.

Kateryna Lysovenko, Jahrgang 1989, stammt aus Odessa und lebt mit ihren beiden Kindern im Exil in Österreich. Die Malerin, deren Werke zurzeit der Kunstverein Hannover zeigt, hat in Odessa und Kiew studiert. Ihre früheren Arbeiten waren noch beeinflusst von der Tradition des Sozialistischen Realismus. Dessen Bildsprache – die in helles Licht gerückten Alltagshelden mit ihren klaren Konturen und dominanten Gesten – stellte Lysovenko bereits in der Ukraine infrage. Bilder von Opfern der gesellschaftlichen Konflikte traten an die Stelle der ideologischen Figuren.

Im Zuge des Kriegs hat sich diese Tendenz, der neue Stil verstärkt. Die Formen der Gegenstände werden weicher, zerfließen ins Unklare. Die oft schemenhaften Figuren sind Tote oder versehrte Überlebende der russischen Gewalt. „A Boy with Gun“ von 2022 zeigt einen anderen „Helden“: Ein wie ratlos dastehendes Kind mit Helm und Spielgewehr, dessen Gesichtsausdruck auf Trauer oder Traumatisierung schließen lässt.

Khaled Barakeh aus Damaskus (Jahrgang 1976) floh 2010 aus Syrien und lebt heute in Berlin. Sehr konsequent und künstlerisch elaboriert setzt er sich mit den Themen Krieg und Exil auseinander. Der Konzeptkünstler und Kulturaktivist sieht „Kunst als Prozess, Kunst als Engagement“. Er ist maßgeblich an verschiedenen Initiativen in Berlin beteiligt, darunter „Coculture“, ein Projekt, das Künstler im Exil unterstützt.

Wie zeigt man Bürgerkrieg und Folter in Syrien, ohne die Opfer einem möglichen Voyeurismus auszuliefern? Barakeh hat 2014 Fotos von Trauernden, die tote Angehörige in ihren Armen halten, als Motive genommen, die Körper der Leichen allerdings ausgeschnitten. Die weißen Flächen wirken vielleicht noch intensiver und verstörender, als die ursprünglichen Ansichten. Ähnlich wie in dieser Serie „Untitled Images“ ist die Strategie der Verweigerung in der Arbeit von 2018 „Relentless Images“ (Unerbittliche Bilder): Digitale Fotos von Folteropfern werden durch die Metadaten der Bilder in kleinen Rahmen repräsentiert. Die wie provisorisch installierten Klebestreifen mit den Angaben sind ein besonderer Appell an die Vorstellungskraft.

„I Haven’t Slept for Centuries“ (2018) handelt von Flucht, Grenzkontrollen und Zurückweisung. Visa- und Checkpoint-Stempel, dazu die Bewegungslinien des Künstlers zwischen verschiedenen Ländern, all das zu einem grafischen Cluster verdichtet, ergibt ein vermeintlich abstrakt-informelles Gebilde, das sich nur geduldiger Aufmerksamkeit erschließt und sich dann als Bildmetapher einer Odyssee entpuppt.

Wenn im Exil eine neue Identität entsteht, dann verbindet diese oft Elemente der Herkunft mit Einflüssen des neuen Lebensumfelds – wie besonders bei Shahroudi deutlich wurde. Barakeh hat das deutsche Grundgesetz in arabische Kalligrafie übersetzt auf Blätter geschrieben, im Stil islamischer Buchmalerei umrahmt und ornamental geschmückt.

Über das Thema „Kunst im Exil“ diskutiert die offene Gesprächsrunde „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 13. März, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse. Beginn 18 Uhr.

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Metapher

Dominique Ingres: Kaiser Napoleon I., 1806

…die größte Macht, die der Mensch besitzt. Sie grenzt an Zauberei und ist wie ein Schöpfungsgerät, das Gott im Innern seiner Geschöpfe vergaß, wie der zerstreute Chirurg ein Instrument im Leib des Operierten.“ So poetisch – und metaphorisch – begeisterte sich José Ortega y Gasset einst für die Leistung der „Metaphora“, griechisch für „Übertragung“, des bildlichen Denkens also. Metaphorik ist eine grundlegende Fähigkeit, ein Instrument der Imagination und damit Quelle sowohl innerer als äußerer Bilder.

Oft wird die Metapher lediglich als rhetorisches Mittel betrachtet. Doch ihre Kraft als sinnfälliger und überzeugender Vergleich, ob in der Bildkunst, der Poesie oder der politischen Rede, rührt aus ihrer tiefen Verankerung im menschlichen Wahrnehmen und Denken. Die Konzepte für die Welterfahrung, die wir von Geburt an lernen, sind metaphorisch. Raum- und Zeitgefühl, der Sinn für Bewegungen, das Gespür für die soziale Interaktion, die Basiserfahrungen also, entstehen zuerst aus körperlichen Aktionen und werden in inneren Bildern gespeichert, die noch vor der Sprachentwicklung konkrete Erfahrungen mit abstrakten Ideen kognitiv verbinden. Die „Zauberei“ der bildlichen Sprache entsteht aus diesem körperlichen Phänomen und entwickelt es kulturell fort.

Das spielt im Alltagsbewusstsein selten eine Rolle. Man kann nicht sagen, dass die Metaphern uns in Fleisch und Blut übergegangen sind, denn sie kommen daher. Aber es stimmt, dass sie allgegenwärtig und unbewusst verwendet werden. Als „geistige Brücken“ hat sie eine Forscherin einmal schön bildlich geschildert, Brücken, die zwischen zunächst unvereinbar erscheinenden Dingen geschlagen werden können, so dass im Denken etwas Neues entsteht. Anknüpfungspunkte (Knüpfen ist eine Metapher aus der Textiltechnik) dazu bieten Parallelen, Ähnlichkeiten, die Möglichkeit des Vertauschens. Ähnlichkeit im Sinne einer Pars-pro-toto-Relation liegt bereits in der Struktur der Metapher; sie ist kein Symbol, also nicht konventionell im Sinne von vereinbartem Zeichen für etwas, sondern Bild und Abgebildetes haben immer etwas Gemeinsames.

Die Einheit von Wahrnehmen und Denken funktioniert nicht ohne metaphorische Konzepte, sie ermöglichen Erfahren und Verstehen. Daher auch künstlerisches Denken und seine Erklärungen. „Beispiel: das Schöpferische. Man schöpft aus einem Gefäß. Das Reservoir des Künstlers wird imaginiert als ein dreidimensionales Gefäß, als ein umgrenzter Raum. Nun stellt der Schöpfer etwas her – das ist wieder ein Teil des räumlichen metaphorischen Konzepts, zudem Teil des Konzepts Kausalität.“ (https://artigart.de/metapher-als-konzept/)

Dass bildlich vergleichende Formen nicht nur in der Sprache, als verbales Kunstmittel vor allem in der Literatur eine Rolle spielen, sondern auch visuell oder akustisch vorkommen, liegt in der Natur der Sache Bild. In der Musik gibt es Rhythmen, die zeitlich-räumliche Strukturen markieren ebenso wie Natur-Anklänge, von der Vogelstimme bis zum Wellengewoge. In der Kunst begegnen wir Metaphorik in der gegenständlichen wie in der abstrakten Malerei oder Plastik.

Gegenständliche Bildmetaphern nutzen das Potenzial der Bedeutungsübertragung programmatisch. So hat Dominique Ingres 1806 Kaiser Napoleon I. mit einem Herrscherporträt in Lebensgröße beglücken wollen, das alle Register der Bildpropaganda zieht: Bezüge zu antiken Göttern, ein Rundbogen wie ein Heiligenschein, das Schwert Karls des Großen und viele andere Details sollen das Image Bonapartes aufladen zum weltgrößten Herrscher aller Zeiten. Politische Kunst funktioniert bis heute nach solch metaphorischen Strategien.

Im Nichtgegenständlichen kann es keine inhaltlich bestimmten Metaphern geben; die Abstraktion spricht das Raum- und Zeitgefühl in größerer Offenheit und Freiheit an. Das bietet Möglichkeiten für das Erfinden neuer visueller Metaphern. Bei Emilio Vedova zum Beispiel wird der Raum seiner gestisch-expressiven Malerei-Objekte als Metapher der menschlichen Existenz beschrieben; er vermittelt Eindrücke von Enge und Ausbruch, körperlicher Aktion, konflikthaftem Geschehen in nicht mehr zentrierten Welten.

Faszinierend finde ich auch die Mischform, die Abstraktion in der Gegenständlichkeit, für die Fra Angelico ein frühes Exempel liefert: Seine Verkündigungsszene – das Fresko in San Marco entstand 1440 bis 1442 – zeigt außer den Figuren nur einen kargen leeren Innenraum. Die prominente Mitte des Bildes ist eine leuchtend weiße Fläche, gegenständlich gesehen eine Wand, gleichzeitig ein purer Reflexionsraum, der gut ein Fünftel der Bildfläche einnimmt. Eine Metapher der Reinheit der himmlischen Mächte. Und ein Vorschein auf die Spiritualität abstrakter Kunst etwa 470 Jahre später.

Fra Angelico: Verkündigung, 1440-1442

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Imagination

Am Prager Moldau-Ufer: Liest Kafka ein Buch? Oder ist es Hašek? (Foto: Jürgen Röhrig)

Lebensnotwendig, ein Instrument sowohl der Wahrnehmung wie der Gestaltung. Für das innere Bild, das geistige, gibt es viele Synonyme: Einbildung, Vorstellung, Fantasie, Traum, Halluzination – unter anderen. Es macht keinen Sinn, allein bewusste Imaginationen, etwa künstlerische Strategien der Bildvorstellung zu behandeln, denn diese sind ohne die unbewussten alltäglichen Wahrnehmungs- und damit Imaginationsfähigkeiten nicht zu haben.

Der Begriff inneres Bild verführt dazu, nur den visuellen Sinn zu beachten. Dabei lassen sich Geruchssinn, Tastsinn und andere, auch Synästhesien aus der Wahrnehmung normalerweise nicht ausschalten. Sinne wirken zusammen beim Entstehen mentaler Bilder, was das Gehirn und andere möglicherweise beteiligte Körperregionen nicht beobachten können. Empirisch vorgehende Forscher haben ermittelt, dass an der „Manipulation“ von Imaginationen nicht allein der visuelle Kortex, sondern auch mehrere andere Hirn-Areale beteiligt sind. Und dass nicht nur das Gehirn betroffen ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass aus motorischen Aktionen, verbunden mit mehr oder weniger spezifischen Erwartungen, Imaginationen entstehen, was insbesondere in frühen biologischen Entwicklungsstadien eine Rolle spielt. Der Fokus auf der visuellen Wahrnehmung, schon in der Begrifflichkeit „Bild“, entspricht also kulturellen Gepflogenheiten, der Bevorzugung des Visuellen, trifft aber die realen Prozesse nicht genau.

Sinneseindrücke werden mit gespeicherten Erfahrungen abgeglichen und mit Antizipationen verbunden, um eine Situation zu erfassen. Besteht Gefahr? Oder Aussicht auf Nahrung? Solche Imaginations-Motivationen stammen aus der Frühzeit menschlicher Entwicklung und unterscheiden uns auch heute nicht von den Tieren. Welche erstaunlichen Imaginationsfähigkeiten zum Beispiel Delfine oder Schimpansen haben, ist mittlerweile gut erforscht.

Wiederholte Erfahrungen durch Einwirkung von außen, negative wie positive, dazu auch innere Bilder, die zu Erfolgen führten, verankern sich im Langzeitgedächtnis, das sich aus individuellen wie kollektiven Quellen speist. Diese Erinnerungsbilder fliessen in ein System von metaphorischen Konzepten, die Wirklichkeit interpretierbar machen. Metapher heißt Sprachbild, doch auch hier ist die Begrifflichkeit unscharf, denn diese Konzepte entstehen der Kognitionswissenschaft zufolge bereits vor der individuellen Sprachentwicklung. Man geht von zwei verbundenen Systemen im Gehirn aus: Das eine speichert verbale, das andere nonverbale Informationen. Wobei die bildhaften Daten besser verstanden und gespeichert werden können.

Diese inneren Bilder und Bildkonstruktionen werden automatisch abgerufen, wenn ein passender Trigger auftaucht. Und sie können bewusst hervorgerufen werden. Das hat praktischen Nutzen: Im Licht vorstellbarer Alternativen können Probleme besser gelöst werden. Orientierung im Hier und Jetzt und Vorausschau wirken imaginativ zusammen.

Schlafträume und Tagträume sind weitere Imaginationsphänomene mit eigener Struktur. Halluzinationen, eher unerwünscht und sicher nicht lebensnotwendig, deuten auf Behandlungsbedarf hin. Aktive Imagination ist in der Medizin aber auch eine Technik, in der psychosomatischen Therapie zum Beispiel.

Die aktive Neuproduktion von inneren Bildern, und damit kommen wir in den vornehmen Bereich menschlicher Fantasie und Kreativität, eröffnet natürlich weitere Möglichkeiten über das praktische Verhalten in der Welt hinaus. „Methodische Imagination“ habe ich die künstlerischen Strategien genannt, die den Werkprozess ermöglichen (https://artigart.de/methodische-imagination/). Sie verbinden das implizite, im Körpergedächtnis gespeicherte Wissen und die Möglichkeiten der Neuschöpfung auf besondere Weise.

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Bild

Manfred Mahsberg: Porträt Walter Benjamin (ca. 7,5 x 7,5 cm).

Allgegenwärtig, aber im Grunde ein Spezialfall. Ein Bild als statisches Objekt oder als prozesshaftes Phänomen (laufende Bilder) spricht in der Regel vor allem den Sehsinn an. (Es kann auch duften, zum Beispiel nach frischer Ölfarbe. Bei einem Relief ist auch das Raumempfinden beteiligt. Das Visuelle steht aber immer im Vordergrund.) Während sich der Mensch im Normalfall mit allen Sinnen auf die Welt richtet, Gefühl für Raum, Zeit und Atmosphäre hat, ist er vor einem Bild vor allem eben auf seine Augen angewiesen.

Das Bild als Objekt ist immer gemacht, ein Artefakt. Auch ein Zufallsfund in der Natur, auf Mauern oder im Abfall kann zum Bild werden nur durch die Entscheidung, es zum Bild zu erklären; eine minimale Form von Gestaltung, ausgehend vom Sehen. Der Akt besteht im Herausheben, Abgrenzen. Das ist auch für alle anderen Bilder wichtig: die begrenzte Fläche auf einem materiellen Träger, mit oder ohne Rahmen. Die Grenze eines Bildes muss dabei nicht in jedem Fall eine exakte Linie sein. Eine Szene auf einer Höhlenwand oder ein Spraybild auf einer Fassade etwa bezieht den Umraum mit ein und endet, wenn es nicht die gesamte Wand ausfüllt, da, wo sich seine motivische oder formale Ausstrahlung verliert.

Es gibt im übrigen keine Einschränkung der Technik, des Inhalts oder der Form bei der Bilderzeugung. Ein solches Artefakt kann abbildend (auf ein Vorbild bezogen) oder nicht abbildend (abstrakt, konkret) sein. Weshalb Abbild- oder Zeichentheorien immer nur einen Teilbereich des Phänomens behandeln können.

Das innere Bild, die Imagination, ist ein ganz anderer Fall. Was sich mental abspielt, hat weder Objektcharakter noch Raumgrenze. Imagination ist ein anderes Stichwort.

Wie mit Bildern konkret umgegangen wird in Produktion und Rezeption, das ist in den Kulturen und in geschichtlichen Epochen selbstverständlich unterschiedlich. Bildverstehen zu erklären, ist nicht ohne den Blick auf biologische Voraussetzungen und kulturelle Konventionen möglich. Ein Bild zu sehen ist Thema der Optik, es zu erkennen Thema der Kognition. Beides lässt sich schwer trennen; Sehen wird immer sogleich mit Wissen, mit Erfahrungen verbunden.

Der hier angestrebte Bild-Begriff soll allgemein und grundlegend sein. Er würde dann auch für alle Bild-Theorien gelten, von denen es eine Fülle gibt. Ebenso für die anthropologische Frage, was das erste Bild der Menschheit war.

Also haben wir vier Kriterien: Ein Bild ist ein auf begrenzter Fläche für die Augen gestaltetes reales Objekt.

Kunst verstehen

Muntere Figuren, verteilt in dörflicher Kulisse, spielen, hüpfen, turnen: Pieter Bruegels Bild „Kinderspiele“ von 1560 (hier ein Ausschnitt) ist ein Paradebeispiel für Kunstwerke, die auf den ersten Blick leicht verständlich wirken, es aber nicht sind. Bruegel der Ältere, gerne wegen seiner ländlichen Motive auch „Bauernbruegel“ genannt, war kein Bauer und einfacher Genremaler, vielmehr ein gebildeter Städter, ein wenig volkstümlicher Manierist, der für die Oberschicht malte. Für diese waren die einfachen Leute Exoten, und zu ihrem Ergötzen zeigten auch die „Kinderspiele“ eben keine harmlosen Szenen, sondern die „verkehrte Welt“, die Torheit der Menschen in allegorischer Bildsprache. „Die Welt und alles was dazu gehört ist nichts als Kinderspiel“, war Bruegels Motto, nicht im Sinne von kinderleicht, sondern von sinnlos, unehrlich, Gott verachtend. Der Kreisel, der geschlagen wird, ist wie jedes der dargestellten Spiele Sinnbild dafür: „Der Mensch muss geschlagen werden wie ein Kreisel, sonst wird er faul und sündhaft“. Satirischer Pessimismus, ein negatives Menschenbild, ganz im Gegensatz zur ersten Anmutung der bunten Szene. Deshalb haben die Kinder bei Bruegel auch nichts zu lachen, blicken ernst, sind im Grunde verzwergte Erwachsene.

Der erste visuelle Eindruck kann also täuschen, hier wegen des großen historischen Abstands. Den Wissensstand von Bruegels Publikum im 16. Jahrhundert müssen wir uns heute erst erschließen, um das Bild verstehen zu können. Dass wir uns informieren sollten, unterscheidet die Auseinandersetzung mit einem gegenständlichen Werk wie diesem nicht von der mit einem abstrakten, modernen, das sich nicht scheinbar auf den ersten Blick erschließt.

Wird irgendein Objekt oder ein Prozess als Kunst aufgefasst, bleibt die Reaktion darauf nicht bei der zunächst unbewussten emotionalen Zustimmung oder Ablehnung, es folgt in der Regel die rationale Überlegung „Kann ich das verstehen?“ und „Wie kann ich das verstehen?“. Die ästhetische Wahrnehmung mittels der Sinne und möglicherweise der ersten (ebenfalls noch unbewussten) Einordnung anhand erinnerter Vorerfahrungen ist die Voraussetzung für den intellektuellen Verstehensprozess, das Begreifen, Erfassen, Einordnen, Durchschauen. Die einfache „Perzeption“ ist immer Grundlage, zunächst für Beschreibungen, die das Gefühlte zum Sprechen bringen und in nachvollziehbare Erklärungen münden. Darauf baut das (philosophische oder kunstwissenschaftliche) Verstehen auf.

Dabei ist das Verstehen eines mutmaßlichen Kunstwerks nicht das Lösen eines Rätsels, das der Künstler stellt, mit einem vorhandenen, lediglich verborgenen Ergebnis. In dem offenen, subjektiv wie intersubjektiv vorangetriebenen Verstehensprozess sind die evidenten Fakten Ausgangspunkte für ein versuchsweises Erfassen, das tiefgreifend, aber nie endgültig sein kann. Der Prozess kann aber auch scheitern, das Werk unverstanden bleiben.

Kommunikation mit dem Kunstwerk bedeutet in hohem Maß Austausch zwischen dem Unbewußten des Künstlers und dem Unbewußten des Betrachters; die bewußten Absichten des Schöpfers erklären den Gegenstand nur zum Teil. Beide Seiten bringen ihre Dispositionen, ihr implizites kulturelles Wissen ein. Das bedeutet: Was zu sehen ist, gibt nicht sofort seine Voraussetzungen preis, die aber zum Werk gehören. Pierre Bourdieu hat das in seinen Vorlesungen zu Manet ausführlich beschrieben und den hohen Anspruch daran geknüpft, das gesamte System der Dispositionen müsse rekonstruiert werden, um ein Werk wirklich verstehen zu können. Bourdieu stellte auch fest, ein Maler müsse sein künstlerisches Denken nicht selbst formulieren können. Dasselbe gilt sicher für ein interessiertes Publikum: Es darf sich erfreuen – und sich auf Expertisen stützen, wenn es mehr wissen will.

Kunstwissenschaftliche oder kunstkritische Expertise liefert indes nicht den fertigen Rahmen, den Begriff oder das Etikett („Impressionismus“), in den das konkrete Werk zum Verständnis einzuordnen ist. Solche Kategorien können als Hinweisgeber hilfreich sein, das Spannende aber ist, was das Werk diesem Rahmen Neues hinzufügt und wie es ihn verändert.

Die individuellen Verstehensprozesse, die sich in stiller Kommunikation mit dem Werk und/oder in einer Debatte mit dem Künstler und anderen Betrachtern entwickeln, sind im besten Fall so vielschichtig und dynamisch, dass sie empirisch schwer zu fassen sind. Es gibt in der Forschung differenzierte Ansätze, aber auch eine deutliche Skepsis, inwieweit Ergebnisse allgemein gültig sein können.

Nimmt man empirische Beschreibungen von Verstehensprozessen im Feld der Kunst, lässt sich festhalten: Der Betrachter bringt seine Motivation ein, um das Verstehen zu starten und weiterzutreiben. Positive Gefühle können zunächst zu einem affektiven Urteil führen: „Das gefällt mir.“ Das Pendant sind negative Gefühle, die den Verstehensprozess mit Ablehnung beenden. Ungewissheit gegenüber Sinnesangeboten („Keine Idee, was das sein soll“) gilt psychologisch allgemein als möglicher Auslöser von Alarmbereitschaft. Nicht jeder Betrachter wendet das durch Neugier ins Positive. Unbewusste Vorurteile und die als nicht dazu adäquat verstandene Kunst können auch zu Aggressionen führen. Dagegen sind positive Urteile über die ästhetische Qualität eher bewusst und kritisch. Mit dem Grad der Informiertheit verstärkt sich die Durchdringung des ästhetischen Phänomens, was auch zu einer Dissonanz zwischen Geschmacks- und Theorieurteil führen kann.

Traditionelle (gegenständliche) und moderne (abstrakte, konkrete) Kunst stellen unterschiedliche Anforderungen. Zum Beispiel können figürliche Darstellungen Empathie auslösen. Das befördert die Motivation, sich weiter zu informieren. Verstehen liegt dann in Reichweite. Aber auch abstrakte Werke schließen angenehme sinnliche Empfindungen nicht aus. Das Begreifen allerdings wird schwieriger. Experimentelle und konzeptuelle Arbeiten sind meist weniger eingängig, was sowohl den affektiven Zugang wie die kognitive Verarbeitung erschwert. Verstehen erfordert hier umso mehr Informationen über das sinnlich Erlebbare hinaus.

„Kunst verstehen“ verlangt vom Betrachter also Arbeit. „Spontanes Verstehen“ im Sinne von starker Resonanz und Zustimmung ad hoc ist möglich, aber nicht das Ende des kreativen Verstehensprozesses. Der bietet auch die Chance von Revisionen. Belohnt wird die Mühe, wenn es gut geht, von der Lust des Verstehens – womit das Werk eigentlich erst vollendet ist.

Über das Thema diskutiert die offene Gesprächsrunde bei „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 14. November, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse. Beginn 18 Uhr.

SkandalKunst!

Gustave Doré, 1854: „Der weitere Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen“

Immer hat das Kunstpublikum seine Erwartungen und Vorlieben, seine eingefahrenen Gewohnheiten und kulturellen Ansprüche. Und zuverlässig sorgt ein Teil der Künstlerschaft für Ärger, weil er die Regeln ablehnt und sein eigenes Ding macht. Daraus erwachsen handfeste Konflikte. Die Geschichte der Kunst-Skandale ist ein eigenes Genre der Erzählung. Ich möchte hier anhand einiger Beispiele Schlaglichter auf ihre Entwicklung werfen.

Vor 170 Jahren war ein roter Farbfleck, als gültiges Bild präsentiert, ein Skandal. Die zwölfte Seite in Gustave Dorés Buch mit politischen Karikaturen, Titel: „Histoire pittoresque, dramatique et caricaturale de la Sainte Russie“, gehört zur Frühgeschichte des bürgerlichen Kunstskandals, aber nicht zu der der Abstraktion. Denn augenzwinkernd präsentierte Doré ganz realistisch einen Blutfleck, um den „weiteren Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen“ sinnfällig zusammenzufassen. Aufgeregt hat sich das Publikum 1854 trotzdem, man fühlte sich auf den Arm genommen.

Umstrittene Werke, angegriffen von Kirche und weltlicher Obrigkeit, gab es auch schon vor dieser Zeit, aber erst mit dem Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer Medien war der Kunst-Skandal ein Fall für die breite allgemeine Debatte. Im Resonanzraum der Salons und Clubs, der Museen und der Presse hallte es wider, wenn Kämpfe um Geschmack und Qualität ausgetragen wurden. Der Skandal hatte vor allem die Funktion, die Grenze der künstlerischen Autonomie auszuloten – wobei konservative Künstler und interessiertes Publikum in der Regel versuchten, einzugrenzen, während sich die Künstlerrebellen von den Regeln und Regulierungen befreiten.

Auf diese Weise erstritt Edouard Manet mühsam seine Position. Die ersten Bilder aus seinem Atelier sorgten für große Empörung; 1863 wurden seine Werke für den offiziellen Pariser Salon der aktuellen Malerei nicht zugelassen. Die Bilder, darunter das „Frühstück im Grünen“, wurden schließlich im „Salon des Refusés“, in der Schau der Abgelehnten gezeigt. Das Publikum schimpfte oder lachte. Manet hatte die Erwartungen grob enttäuscht, statt mythologischer oder pathetischer Szenen lieferte er Alltagsfiguren, gewöhnliche Menschen – die Parodie auf die gewohnte repräsentative Kunst.

Um die Konventionen zu verletzen, reichte es damals schon, harmlose Motive ohne historische und politische Bedeutung in den Mittelpunkt des Bildes zu stellen, die nur Vorwand für im Grunde reine Malerei waren. Claude Monet brachte die Kritiker auf die Palme mit Heuhaufen. In vielen Varianten gestaltete er das ländliche Motiv, um Licht und Farbe der Natur einzufangen. Und das gelang ihm, weil er nicht fein ausmalte, sondern Pinselstrich neben Pinselstrich stehen ließ. Schlecht und schlampig fanden das die Spezialisten für glatt Geöltes.

Solche Maler werfen „dem Publikum den Farbtopf ins Gesicht“, schimpfte der berühmte britische Kunstkritiker John Ruskin, und er legte sich insbesondere mit seinem Landsmann James MacNeill Whistler an, den er für einen „ästhetischen Terroristen“ hielt. 1877 stellte der sein neuestes Werk „Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete“ in London aus. Für die „Komposition aus Linie, Form und Farbe“, so die Worte Whistlers, war der Motivvorwand ein nächtliches Feuerwerk. „Hochstapelei“ und „Flegelei“ lauteten Ruskins Bewertungen, und vor allem fand er, das Bild sei keine 200 Guineen wert (diese schicke Goldmünzenwährung ist noch heute bei britischen Kunstauktionen gebräuchlich; eine Guinee gleich 1,05 Pfund). Mit dem Geldwert-Argument kommt eine rhetorische Waffe ins Spiel, die bis heute im Kunst-Skandal gerne verwendet wird. „Keine Steuergelder für so einen Mist“ – solche Rufe sind Stereotypen der Attacken gegen Kunst.

Whistler jedenfalls verklagte Ruskin wegen Verleumdung. Am Ende gewann er den Prozess, der ihm viel öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte, bekam aber keine Entschädigung. Die Kämpfe um akademische Konventionen und künstlerische Experimente im 19. Jahrhundert spalteten die Kunst mit langer Nachwirkung – eigentlich bis heute. Doch die Angefeindeten von damals sind heute absolute Stars, wie auch Edvard Munch, der sich das 1892 nicht hatte träumen lassen. Bei seiner ersten Ausstellung in Berlin gab es Krawall und Handgreiflichkeiten seitens empörter Bürger; die Presse stachelte die Emotionen an. Die Vossische Zeitung sah „unglaubliche Erzeugnisse des kranken Sehvermögens und des willkürlich geschwenkten Schmierpinsels eines modernen Sudlers“. Die Munch-Ausstellung wurde vorzeitig geschlossen. Daraus zog der junge norwegische Künstler jedoch nicht den Schluss, die ungastliche Stadt wieder zu verlassen. Er begriff, dass auch negative Aufmerksamkeit durchaus symbolisches Kapital bildet („Bessere Reklame kann ich gar nicht bekommen“) und vernetzte sich erfolgreich mit gleichgesinnten Malern. Schon im darauf folgenden Jahr stellte Munch in Berlin wieder aus.

Hier zeichnet sich eine Veränderung in der Funktion des Kunstskandals ab: War er bisher vor allem ein Mittel im internen Kampf zwischen Akademikern und Rebellen des Kunstfelds, wandelt er sich nun zum Instrument für Aufmerksamkeitspolitik und Marktstrategie. Das wird im 20. Jahrhundert dazu führen, dass Künstler Skandale nicht mehr nur erleiden und ertragen, sondern sie auch bewusst provozieren und nutzen.

Die Ausstellungen und Aktionen der Dadaisten und später der Surrealisten bieten dafür eine Fülle von Beispielen. Provokation und inszenierter Skandal werden bei Max Ernst in Köln oder André Breton und seiner Gruppe in Paris zum Mittel einer Kunst, die mit dem zu ändernden Leben verschmelzen soll. Davon findet sich heute Vieles wieder etwa in den spektakulären Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“. Aber damit verlassen wir den eigentlich künstlerischen Bereich.

Wer drinnen blieb und an Problemen der Form, des ästhetischen Prozesses arbeitete, brauchte sich um Widerspruch ebenfalls nicht zu sorgen. Informelle Gestik provozierte in den 1950er Jahren das Publikum zuverlässig. Zum Beispiel das „Gekritzel“, die „Schmiererei“ von Rolf Iseli 1957 bei der Jahresausstellung zum Eidgenössischen Kunststipendium in Bern. Mit schwarzer Ölfarbe, direkt aus der Tube auf die Leinwand, hatte Iseli gezeichnet, ein mal mehr, mal weniger verdichtetes Gewirr, das außer Dynamik und Funktionslust nichts mitteilt. Dafür 5000 Franken Preisgeld, aus dem Steuersäckel? 100 Bundesbeamte unterzeichneten einen Offenen Protestbrief an den schweizerischen Bundesrat. Der forderte praktisch einen Leistungsnachweis vom Künstler, der diesen in Form von Aktzeichnungen erbrachte. Akt überzeugte – und das Berner Kunstmuseum kaufte das „Gekritzel“. Damit zeigte die Institution ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung.

Deren Rückständigkeit und Intoleranz in Bezug auf die künstlerische Entwicklung nutzten 1963 ein damals unbekannter junger Maler und sein ebenfalls junger Galerist, die beide ihre Karrieren starten wollten, gezielt aus. Georg Baselitz hatte wilde gegenständliche Bilder gemalt, darunter einen onanierenden Knaben („Die große Nacht im Eimer“, heute im Bestand des Kölner Museums Ludwig), und Michael Werner stellte diese Leinwände in seiner Westberliner Galerie aus. Beide sind heute Stars der Szene, und das kam so: Werner informierte selbst die Staatsanwaltschaft, die ermittelte und eine Anklage verfasste. Die Boulevardpresse biss ebenfalls sofort an. Der Künstler verließ Berlin vorsichtshalber, und sein Image als Tabubrecher hat er seitdem. Auch wenn die erste Ausstellung kein Verkaufserfolg wurde, war der Coup gelungen. Vor Gericht gab es einen Freispruch.

Wie wirksam das Ereignis Skandal nun Teil der künstlerischen Inszenierung sein konnte, bewies keiner besser als Joseph Beuys 1964 bei einer Fluxus-Performance in Aachen. Er provozierte das Publikum mit seiner Bühnenaktion (zum Beispiel mit der Forderung, die Berliner Mauer um fünf Zentimeter zu erhöhen) mit Erfolg: Ein Zuschauer, später als „rechtsgerichtet“ identifiziert, stürmte nach vorne und schlug dem Künstler heftig ins Gesicht. Daraus entstand das bekannte Foto, auf dem Beuys sich mit erhobener rechter Hand und aus der Nase blutend dem Publikum pathetisch präsentierte, in der Linken ein Kruzifix haltend. Man nannte es das „Märtyrer-Foto des heiligen Joseph“. Was es nicht zeigt, was aber in einem Film von dem Vorfall zu sehen ist: Vor der Pose hatte Beuys den Täter mit Schlägen von der Bühne gejagt.

Liessen sich die Attacken gegen den „guten Geschmack“ noch steigern? Wolf Vostell hat das vielleicht geschafft, weil ein Tabu noch unversehrt war: das Auto, das Lieblingsspielzeug im Wirtschaftswunderland. 1963 ließ Vostell in Köln eine Limousine einbetonieren; das Objekt „Ruhender Verkehr“ steht seitdem in der Stadt. Die sich damals dagegen empörten, benutzten die üblichen Argumente wie „Schund“, „Verschwendung von Steuergeldern“, „unzumutbar für das Stadtbild“ usw.

Hans Haacke gelang es 1999, die kontroverse öffentliche Auseinandersetzung um seine künstlerischen Provokationen in den vornehmsten Debattenraum der Republik zu tragen: in den Bundestag. Die parlamentarischen Diskussionen um das Projekt „Der Bevölkerung“ füllten wiederum die Zeitungsspalten und Nachrichtenkanäle, doch die Abgeordneten hatten allen Grund, sich selbst ganz offiziell zu positionieren, denn Haacke hatte sie zu Mitwirkenden an seinem Werk erkoren. Sie waren aufgefordert, jeweils etwas Erde aus ihrem Wahlkreis mitzubringen, mit der das Beet im Innenhof des Reichstagsgebäudes gefüllt wurde und wird. Der Schriftzug „Der Bevölkerung“ inmitten des Beets – in derselben Schrifttype wie „Dem deutschen Volke“ auf der Aussenfassade des Baus – kann als Ergänzung oder Verbesserung des eingeschränkten Volksgedankens gelesen werden. Es geht um alle Menschen im Land. Nicht nur daran entzündete sich Kritik, auch die Erde und der Pflanztrog gefiel nicht allen. Volker Kauder (CDU) sagte Nein zu „diesem simplen und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk“ und „zu dem Versuch der Distanzierung des Deutschen Bundestags von seinem eigenen Volk.“ Norbert Lammert (CDU) meinte: „Skurrile Bundesgartenschau“. Ein fraktionsübergreifender Antrag gegen das Projekt wurde im April 2000 knapp (mit 260 gegen 258 Stimmen) abgelehnt. Heute ist das umstrittene Werk weitgehend akzeptiert; die Liste der Abgeordneten, die ihr Scherflein Erde beigetragen haben, ist lang.

Auffallend, dass bisher nur Männer aufgeführt sind, die in Kunstskandale verwickelt waren. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Künstlerinnen in der Kunstwelt generell unterrepräsentiert, also auch bei den Skandalen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts entdeckten manche die Provokation als Mittel einer feministisch orientierten Kunst. Aber auch diese Aktionen hatten es schwerer, öffentlich zu wirken, als die der Männer. Ob Carolee Schneemann (die alle Schamgrenzen verletzte) oder Pipilotti Rist (die im Film die Fenster geparkter Autos zertrümmerte): Sie wirkten innerhalb der Kunstszene, aber kaum darüber hinaus.

Seitdem im 21. Jahrhundert öffentlichen Debatten vermehrt „postkolonial“ und sensibler für diskriminierte Minderheiten geführt werden, geraten immer weitere Konfliktpotenziale in den Blick und die öffentlichen Reibungsflächen vermehren sich. Skandale der jüngsten Zeit entzünden sich zwar an der Kunst, sind aber politisch basiert, siehe der immer noch nicht ausdiskutierte Fall von Antisemitismus bei der letzten Documenta.

Sollen wir es als Fortschritt werten, dass nun Künstlerinnen häufiger skandalfähig sind? Die Fälle Dana Schutz 2017, Miriam Cahn 2023, Sophia Süßmilch 2024 sind prominente Beispiele.

Dana Schutz ist eine weiße US-Künstlerin, die 2016 das Bild „Open Casket“ (Offener Sarg) im Stil klassischer Moderne gemalt und im Jahr darauf bei der New Yorker Whitney-Biennale ausgestellt hat. Es zeigt den fürchterlich zugerichteten Körper eines von Weißen ermordeten schwarzen Jungen, der 1955 in einem offenen Sarg zu sehen war, wovon Fotos existieren, die Dana Schutz verwendete. Diskriminierung und Gewalt sind gegenwärtig, das wollte Schutz mit der Aktualisierung des spektakulären Falles zeigen. Schwarze Aktivisten um die Künstlerin Hannah Black skandalisierten das und forderten, das Bild aus der Ausstellung zu entfernen. Als weiße Frau dürfe Schutz nicht vom Leid schwarzer Opfer profitieren: No profit and fun. Denn damit übe sie selbst Gewalt aus. Hier haben wir es mit Identitätspolitik gegen künstlerische Solidarität zu tun. Es kam zu Protesten vor dem Bild. Dass es tatsächlich abgehängt wurde, ist nicht überliefert.

Die Gräueltaten russischer Soldaten beim Überfall auf die Ukraine thematisierte Miriam Cahn, unter anderem mit dem Ölbild „Fuck abstraction!“, eine Vergewaltigungsszene. 2023 war es in der Cahn-Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo zu sehen. Empört waren Teile der Öffentlichkeit weniger über das geschilderte Verbrechen, als über Cahns Darstellung. Rechtspopulisten hetzten dagegen; es fanden sich Kritiker, die Anzeige wegen „Verherrlichung von Kinderpornografie“ erstatteten. Der Prozess ging durch mehrere Instanzen; die Klage wurde abgewiesen. Daraufhin griff ein Mann zur Selbstjustiz und schüttete violette Farbe über die Leinwand. Bis zum Ende der Ausstellung war das Werk so zu sehen. Staatspräsident Macron verurteilte den Violett-Vandalismus. Die Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit in der Republik anhand dieses Falles erschien wie eine Wiederholung der Kämpfe des 19. Jahrhunderts.

Und damit zurück in die Provinz: nach Osnabrück. Hier leistet sich die CDU-Stadtratsfraktion einen Angriff auf die Kunstfreiheit, der an preußische Zeiten erinnert (siehe den Text „Populismus frisst Kunstfreiheit“ in diesem Blog). Sophia Süßmilchs aktuelle Ausstellung mit dem einem Märchen entlehnten Titel „Then i’ll huff and i’ll puff and I’ll blow your house in“ („Ich werde husten und prusten und dir dein Haus wegpusten“) kritisiert, so die Künstlerin, die „kapitalistische Verwertbarkeit“ von Menschen. Das Motiv Kannibalismus klingt unter anderem an, und es gab eine Performance mit entblößten Leibern. Die CDU unterstellte „kannibalistische Fantasien“ und forderte, die Ausstellung sofort zu schließen. Süßmilch erhielt eine Morddrohung von Unbekannt. Die Provinzposse fand ein überregionales Echo und hatte ansonsten keine erkennbaren Folgen: Die Ausstellung wurde nicht geschlossen und die örtliche CDU nimmt ungeachtet ihrer Blamage nichts zurück.

Skandal erzeugen, das bleibt gerade in Zeiten von emotional aufgeladener statt vernunftbasierter Politik ein probates Mittel, um Interessen zu verfolgen und sich öffentlich stark zu positionieren. Dabei geht es nicht immer um Aufklärung – und eher selten um die Ermöglichung eigensinniger, inspirierender Kunst. Bei allen Kunstskandalen aber gilt: Das Publikum, gerade auch das kunstferne, wird offensiv angesprochen. Es ist hier auf spezifische Weise Akteur.

„SkandalKunst!“ ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Griesgasse in Siegburg am Donnerstag, 10. Oktober, 18 Uhr.

AugenBlick

Zeichnung beidhändig, Carbon auf Papier (Jürgen Röhrig)

Populismus frisst Kunstfreiheit

In Raum 79 des Prado-Museums in Madrid klafft ein Lücke: Dort, wo bislang das Bild „Saturn verschlingt seinen Sohn“ von Peter Paul Rubens hing, ist die Wand plötzlich leer. „Wir können und wollen nicht hinnehmen, dass unter dem Deckmantel der Kunst derart groteske und verstörende Darstellungen öffentlich gezeigt werden“, hatte ein CDU-Politiker aus dem südlichen Niedersachsen über „kannibalistische Fantasien“ geschimpft. Er rief zum Boykott der Ausstellung auf, und schon bald gab es in den asozialen Netzwerken Morddrohungen gegen den Künstler.

Diese Geschichte ist, was Rubens angeht, erfunden und natürlich Unsinn, aber insofern genau passend zu der rechtspopulistischen Attacke, die wir dieser Tage aus der 167.000-Einwohner-Stadt Osnabrück hören mussten. Da hat der CDU-Fraktionschef genau diese gegen die Ausstellung „Kinder, hört mal alle her“ in der örtlichen Kunsthalle geritten (so heißt allerdings das Jahresprogramm, der Ausstellungstitel lautet „Then i’ll huff and i’ll puff and I’ll blow your house in“). Das Motiv Kannibalismus kommt in der Ausstellung unter anderem vor. Es gab nach dem Angriff aus der Politik eine anonyme Morddrohung gegen die Künstlerin Sophia Süßmilch. Und eine Parteifreundin des Kritikers, die CDU-Landtagsabgeordnete in Niedersachsen ist, setzte noch obendrauf: „Es ist unverständlich, wie ein solche Ausstellung überhaupt genehmigt werden konnte“. Was Künstler*innen machen, muss also genehmigt werden? Wie doof darf Politik sein, wer hat das wiederum genehmigt?

Doch Spott genug aus der ganzen Republik haben die Osnabrücker CDUler einstecken müssen, und viel sachliche Kritik, aus der sie lernen könnten. Das Pamphlet „CDU Osnabrück distanziert sich von Kunsthallen-Ausstellung“ steht allerdings immer noch auf der Website der Ratsfraktion. Alles das kann man im Netz nachvollziehen, muss also hier nicht referiert werden. Doch weitere Schlüsse lassen sich aus dem Provinz-Kunstskandal ziehen – wobei, wie fast immer in solchen Fällen, nicht die Kunst skandalös ist, sondern die reaktionären Reaktionen.

Der Fraktionschef, der nun auch den Prado sicher nicht mehr besuchen möchte, ist studierter Jurist. Er müsste also das Grundgesetz einschließlich der darin garantierten Kunstfreiheit kennen. Er ist schon in seiner Rats-Funktion an die Gesetze gebunden, ein Verfassungsjurist beurteilte sein Verhalten deshalb als „rechtswidrig“. Die Landtagsabgeordnete kommt zwar aus der Landwirtschaft, könnte aber angesichts ihrer politischen Rolle die Verfassung auch mal gelesen haben. Kann da wirklich so viel Unkenntnis herrschen? Oder ist das eine kalkulierte Aktion gegen die Kunst und ihre Freiheit? Was haben wir davon zu halten, wenn so genannte christlich Konservative rechtspopulistische Sprüche klopfen? Aber da haben sie ja Vorbilder in ihrer Bundespartei. Die viel diskutierte Brandmauer gegen die extrem Rechten bekommt so jedenfalls kein Fundament. Sie nützt nichts, wenn es auf beiden Seiten brennt.

Das Rubens-Bild finde ich übrigens schwer erträglich in seiner Brutalität. Schrecklicher aber ist das Bild „Populismus frisst Kunstfreiheit“. Wahrscheinlich war das nicht die letzte Attacke dieser Art.

https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/saturn-devouring-a-son/d022fed3-6069-4786-b59f-4399a2d74e50

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Bildbetrachtung

Blicke, die nicht ins Programm passen

August Sander: „Mutter und Tochter“ (Ausschnitt)

Zwei sehr ernste Gesichter schauen den Betrachter an, so wie sie 1912 dem Fotografen August Sander in die Kamera geblickt haben. Der Ausdruck links angespannt, fast ängstlich; rechts eher resigniert. Die beiden Frauen aus dem Westerwald haben sich fein gemacht für das in ihrem Leben sicher außergewöhnliche Ereignis, ins Bild gebannt zu werden. Fein, was die Kleidung und den sparsamen Zierrat betrifft. Für den Friseur hat es nicht gereicht – keine Zeit, kein Geld? Reich werden die Porträtierten nicht gewesen sein; Gesichter und Hände sprechen von einem Leben mit harter, einfacher Arbeit. Sie posieren für Sander, es soll ein gutes Foto werden, aber sie scheinen sich unsicher, ob sie dem Anlass gewachsen sind. Ich habe hier einen Ausschnitt gewählt, der das Statuarische mildert und die am stärksten sprechenden Bereiche fokussiert.

„Mutter und Tochter, Bauern- und Bergmannsfrau“ lautet die Bildunterschrift. Keine Namen. Welche der beiden Frauen ist die ältere, welche die Bergmannsfrau? Dieser Unterschied spielte offenbar keine Rolle. Sander dachte über die Personen hinaus an Typen. Hier hatte er zwei Figuren für seine visuelle soziologische Recherche: So sehen sie aus, die einfachen Frauen vom Land. Individualität ist hier schwer auszumachen, aber entsprachen Mutter und Tochter wirklich dem Klischee? In jedes Foto drängt sich bekanntlich auch das, was nicht den Absichten der Bildgestaltung folgt. So könnte die distanzierte Skepsis der Frauen den ganzen Vorgang in Frage stellen. Niemand, der mit seinem Abbild Betrachter wirklich ansprechen will, darf so schauen. Keine Influencerin heute würde damit Followerinnen finden.

Wie hat der Fotograf mit seinen Modellen gesprochen? Wußten sie, dass es nicht um ihre Gefühle und inneren Ansichten – beim Fotografiertwerden wie überhaupt – ging, sondern um das „Antlitz der Zeit“, um ihre Rolle als typische „Menschen des 20. Jahrhunderts“? Wer einmal Menschen mit der Kamera porträtiert hat, dem wird vielleicht die Erfahrung nicht fremd sein, dass sich in einem Dialog während der Prozedur andere Haltungen ergeben, als die unserer Westerwälderinnen. Respekt und Neugier auf Individualität befördern Selbstbewusstsein. Davon sprechen diese „Antlitze“ nicht.

Sander ist dafür kritisiert worden, dass seine gestellten Posen dem Konzept folgen und nicht der Suche nach Individualität. Die Klischees, die er schildert, seien deshalb ästhetisch nicht überzeugend. Sympathie mit den Abgebildeten wurde ihm abgesprochen; er zwinge die Menschen in seine Bildidee, selbst wenn es sie lächerlich mache.

So sehr die beiden Gesichter von Distanz sprechen statt von Dialog, so bedeutet ihr Ernst doch auch, dass sie sich selbst ernst nehmen, weil ihr sorgenvolles Bauern- und Bergleuteleben gar nichts anderes zulässt – auch, wenn sie im Sonntagsstaat für den durchreisenden Fotografen posieren. Diese Blicke gehören zu den intensivsten und eindrucksvollsten in Sanders Porträtwerk. Sie durchschauen das Programm des Anlasses wohl nicht – sie schauen darüber hinaus. Und das ist doch am Ende ästhetisch gelungen.

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Graffiti und Street Art

Kunst in der Schmuddelecke

Ausgefeilte Buchstabenkunst: Graffiti in Eitorf.

Die Faszination von Graffiti ist ebenso ungebrochen wie die Aversionen dagegen. Ein halbes Jahrhundert, nachdem Wandzeichner begannen, auch in Deutschland den öffentlichen Raum zu erobern, haben sich die Graffiti- und Street-Art-Werke etabliert, legale wie illegale. Die Debatte des vorigen Jahrhunderts, ob das Kunst ist oder Schmiererei, ist längst erledigt. Graffiti ist in jeder Weise in der Kunstszene angekommen: in den Museen, Galerien, in Magazinen und Büchern. Kunstwissenschaftler befassen sich intensiv mit dem Phänomen, so wie unermüdlich die Polizei, die den Kunsthistorikern ihr Bildmaterial zur Verfügung stellt. Kommerziell gesehen ist Graffiti kreatives Kapital. Allerhand Produkte für junge Kunden werden in dieser Bildsprache gestylt. Und die Immobilienwirtschaft ist auch nicht mehr durchweg der Erzfeind der illegalen Szene: Wandbilder gleich Lifestyle gleich Verkaufsargument. Das gilt in großen Städten auch für den Tourismus.

Soviel Vereinnahmung ist vielen subversiven Sprayern nicht recht. „Blu“ zum Beispiel hat in Berlin eigenhändig sein publikumswirksames Wandbild schwarz übermalt. Er löschte ein Postkartenmotiv. Auch andere möchten gegen das „System“ malen und nicht dafür. Sie sind überzeugt davon, ihre eigene Art von Kunst zu sprayen, aber bitte widerständig und autonom.

Graffiti und Street Art (nicht scharf voneinander zu trennen; das erste bezeichnet eher illegale Schriftbilder, das zweite Bildwerke, die auch legal sein können) sind Artefakte in einem sozialen Feld, in dem spannende Konflikte ausgetragen werden. Es sind zum Teil neue Runden in altbekannten Kämpfen: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gegen Akademie; Freiheit der Kunst gegen bürgerliche Moral; prekäre Existenz oder Anpassung an den Markt. Dazu kommt die Frage „Wem gehört der öffentliche Raum?“.

Gegen die Verödung und Betonierung der Städte trat explizit bereits in den 1970er Jahren Harald Naegeli an. Der Sprayer platzierte seine Figuren auf meist öden Wänden und ließ sie mit Witz auf die gebauten Strukturen reagieren. Legendär ist seine in Köln verwirklichte „Totentanz“-Serie. Der Schweizer, der nach Jahren in Deutschland jetzt wieder in Zürich lebt, hat nach einer Ausstellung im Siegburger Stadtmuseum 2014 dort eine legale Wandzeichnung hinterlassen. Die Person Naegeli liefert ein Paradebeispiel für den zwiespältigen Umgang mit illegaler Kunst: In Düsseldorf wurde er offiziell ausgestellt, sollte aber auch Strafe zahlen für ein illegales Wandbild an der Kunstakademie; in der Schweiz musste er eine Haftstrafe verbüßen, wurde aber auch mit einem Zürcher Kunstpreis bedacht.

„Pegasus“ von Harald Naegeli im Stadtmuseum Siegburg

Anders als studierte Künstler wie Naegeli lernen die meisten Sprayer in sehr jungen Jahren ihr Handwerk auf der Straße. Die Vorbilder aus den USA waren stilprägend für die Tags und Pieces, also Buchstabenkürzel und ausformulierte Schriftbilder. Man nennt sich Writer; einzeln oder in der Crew geht es um Street-Credibility und Fame: Die Szene entwickelte bzw. übernahm ihr eigenes Vokabular. Die Fantasienamen der Sprayer dienen auch der Tarnung. Abenteuerlust, der Reiz des Verbotenen, der Stolz auf das eigene Bild im Kiez oder auf der S-Bahn als psychologischer Antrieb; das Gemeinschaftserlebnis, das Zischen der Sprühdose und der Geruch des Farbnebels – das alles beschreiben Akteure als positive Erlebnisse.

Mit dem ungelenken Tag in irgendeiner urbanen Schmuddelecke fängt es an, und am vorläufigen Ende der Entwicklung stehen heute hochprofessionelle Werke, die in generalstabmäßig geplanten Crew-Aktionen auf kaum zugänglichen Fassaden oder auf S-Bahn-Zügen im laufenden Betrieb verwirklicht werden. Außer der Fähigkeit, ein gelungenes Bild zu gestalten, kommen hierbei logistische wie artistische Kompetenzen zum Einsatz. Man muss gut strukturiert, hierarchisch organisiert und sportlich sein, um da mitmachen zu können. Ein neues Feld der Werkproduktion ist mit dem Regiefilm eröffnet, der das bloße Dokumentarfoto mehr und mehr ablöst. Wer sich im Internet einen Action-Film der Crew „1UP“ (One United Power) anschaut, bekommt einen guten Eindruck davon: Kameraführung (mit Handkameras und Drohnen), Bildschnitt und Sound würden auf einem Filmfestival mithalten können.

Bei allem Erfolg ist Graffiti nicht entkriminalisiert. Sachbeschädigung, mitunter in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, wird verfolgt. Zwischen Polizei und Sicherheitsdiensten auf der einen und Sprayern auf der anderen Seite hat sich ein Katz-und-Maus-Spiel etabliert. Spezialisierte Rechtsanwälte begleiten das Geschehen. Die Täterschaft wiederum wird als sehr heterogen beschrieben. Wer nachts loszieht, um illegal zu malen, kann Schüler oder Beamter, Hausfrau oder Mitarbeiter eines Verkehrsbetriebs sein, meist zwischen zwölf und 50 Jahren alt. Ein Querschnitt der Gesellschaft offenbar, auch mit deren Vorurteilen: Frauen hatten es schwer in der Szene, als Künstlerinnen gelten zu können; das ändert sich langsam.

Ebenso vielfältig sind die Stile und Bildsprachen der Street-Artisten. Der einfache „Tag“ als Existenzbeweis, „Ich war hier“, oder als Reviermarkierung, ist ästhetisch nicht anspruchsvoller als das Herz in der Baumrinde. Die Schriftbilder der Writer dagegen sind in Form und Farbgebung oft sehr aufwändig. Mittelalterliche Buchstaben-Malereien waren wohl zuletzt ähnlich ambitioniert. Diese „Pieces“ zeigen einen Fantasie-Namen und geben zusätzliche Informationen wie Alter, Crew-Mitgliedschaft oder anderes preis. Thematische Botschaften sind nicht damit verbunden, das Politische liegt im Kontext: Eroberung eines öffentlichen Raums. Dass diese Bilder überhaupt etwas zu bedeuten haben und nicht etwa Nichts, wie weiland Jean Baudrillard in seinem Text „Kool Killer“ behauptete, hat nicht zuerst die Kunstwissenschaft herausgefunden, sondern die Polizei bei ihren akribischen Ermittlungen.

Dass sich die Schriftbilder in ihrem Gestus vielfach ähneln, hat mit der gestalterisch durchaus konservativen Haltung der Autoren zu tun. „Odem“ aus Dortmund, einer der Pioniere des Genres, hat einmal beschrieben, dass er das Wesen des Buchstaben sucht, Regeln erkennen und einhalten will. Und alle, die etwas gelten wollen, müssen das auch tun. Da sind die nicht an Schrift orientierten Malereien der Street Art freier. Wenn, dann wird der Autonomie-Anspruch hier eingelöst. Abstrakte Farb-Eruptionen à la Katharina Grosse sehen schon erhaben aus, wenn sie von „Moses & Taps“ großflächig auf ein Gleisbett gesprüht werden.

Warum gerade die Deutsche Bahn unfreiwilliger Spitzenlieferant für Malflächen geworden ist, hat sicher etwas mit der aus den USA übernommenen Arbeitsweise zu tun und auch damit, dass so viele Lärmschutzwände, Züge und Stellwerke geboten werden. Das Ergebnis ist beim Publikum umstritten. Wer mag es schon, wenn das Zugfenster undurchschaubar geworden ist. Oder wenn schalkhafte Akteure eine täuschend echte Zugtür auf die Bahn gemalt haben, die sich nicht öffnen lässt.

Das erinnert an die Spaß-Guerilla Ende der 1960er Jahre, die ebenfalls als eine Quelle für heutige Street Art gesehen werden kann. Da wird die Aussage dann inhaltlich politisch, wobei hierzulande aktuell Umweltthemen häufiger vorkommen. Auch der legendäre „Banksy“ liefert so etwas. Jüngst hat er wieder Furore gemacht mit einem Werk, das eine Situation im öffentlichen Raum geschickt für seine Form nutzt: Ein verstümmelter Baum steht vor einer Brandmauer, auf die der Sprayer viel grüne Farbe gibt. Mit aufgestochenen Farbdosen lässt sich die sehr hoch spritzen, so dass sich zusammen gesehen das Bild eines sehr ergrünten Gezweigs ergibt. Schön gemalt dazu noch eine lebensgroße Figur, während die grünen Schlieren dann doch eher so aussehen, wie wütende Gegner es von allen Graffiti behaupten: geschmiert. Und dann rückte jemand dem Bild mit weißer Wandfarbe zu Leibe, und die schöne Ironie in diesem Fall ist, dass daraufhin in der Presse zu lesen war: Kunstwerk beschmiert. So ändern sich die Perspektiven.

Die Konflikte, die sich in einer demokratischen Gesellschaft aus dieser Art Kunstpraxis ergeben, sind ernst zu nehmen, aber harmlos im Vergleich zu denen in autokratisch geführten Staaten oder Diktaturen. In Russland ist politisches Graffiti ungleich riskanter, und doch gibt es viele mutige Aktivitäten, wie ein Blick auf die Internet-Plattform „nowobble.net“ zeigt. Auf einer Mauer in Sankt Petersburg hat ein Schablonensprayer das Google-Signet in „Goolag“ transformiert. Das ist überraschend und witzig, wirkt anders als die bloße Aufforderung „Kein Krieg“. Streng sanktioniert wird beides. Der Petersburger Sprayer wurde während der Arbeit verhaftet; Mitstreiter vollendeten später sein Werk und fotografierten es – bevor das Kunstwerk überschmiert wurde.

Graffiti ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst und Brot“ am Donnerstag, 16. Mai, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

Malgründe der verschiedensten Art liefert immer wieder die Deutsche Bahn.

Subtile Sensationen

KP Kremer: Aquarell auf Sparbuch

Was KP Kremer selbst in ein entwertetes Sparbuch eingetragen hat mit Pinsel und Farbe, wird auf besondere Weise verzinst. Reichtum und Kostbarkeit entstehen hier für das Erleben des Betrachters. Das Heft ist in der Mitte kreuzförmig perforiert, um es für die Bankökonomie zu entwerten. Der Künstler hat das gedruckte Linienraster der Rubriken ergänzt durch perspektivische Linien, die auf das Kreuz in der Mitte zulaufen. Aquarellfarbe bildet wolkige Flächen, umgrenzt von Farbverdichtungen an den Rändern, die beim Trocknen entstehen. Schwungvolle blaue Linien hat er mit dem trockenen Pinsel hinzugefügt. Man könnte an ein abstrahiertes barockes Deckengemälde denken – das Kreuz würde dann auf eine Kirchenkuppel hindeuten -, erschiene das sakrale Symbol nicht in der Zeile „Unterschrift des Beamten“.

Dieses Beispiel aus dem umfangreichen Werk des Künstlers beinhaltet auf kleinem Format verdichtet vieles, was für KP Kremers Arbeitsweise und Absichten grundlegend wichtig ist. Es geht um das Entdecken und wirkungsvolle Darstellen ästhetischer Phänomene, die nicht alltäglich und selbstverständlich sind. Es geht in der Tat um das „Kostbare“: Es zeigt sich im differenzierten Ausdruck der Farbe, in der Qualität von Materialien, in der freien individuellen Handschrift ebenso wie in ihrem Gegensatz, dem geometrisch Geordneten, bei alldem immer auch in den Nuancen, den subtilen Sensationen, die mit feinem Sinn zu erspüren sind.

Der Blick für das, was leicht übersehen wird, ist bei KP Kremer geschärft. Und was er entdeckt, will er natürlich mitteilen, erfahrbar machen. Das zeigt vom 21. April an die Ausstellung im Museum Burg Wissem mit ihrem thematisch dem Ort angemessenen Schwerpunkt auf Künstlerbüchern und verwandten Papierarbeiten. Die großen monochrom erscheinenden Leinwände, ein wichtiges Kapitel in seinem Schaffen, bleiben hier ausgespart. Aber unter den gezeigten Aquarellen auf Büttenpapier finden sich ebenfalls Farbflächenmalereien, auf die der Begriff der „konkreten Kunst“ anwendbar scheint. Nicht auf Gegenständliches bezogen, auch nicht abstrahierend, stehen diese Farbzonen für sich. Die Retrospektive macht indes deutlich, dass sich KP Kremers Werk nicht auf das Genre „konkret“ beschränkt. Derlei Erkundungen von Farbklängen und Farbatmosphären sind für ihn eine Möglichkeit neben anderen.

Die Verbindung von Ordnungsstrukturen und freien Farbflüssen, von geometrischer Genauigkeit und informeller Gestik, von Plan und Zufall ist grundlegend für die Werkentwicklung. Um diese Spannungen, das Miteinander des Gegensätzlichen ins Bild zu setzen, hat KP Kremer eine Vielzahl von Methoden und Strategien entwickelt. Daher zeigt die Ausstellung unterschiedliche Buch-Unikate, deren Bandbreite von wiederum streng geometrischen Auftritten über spielerische Collagen bis zu dramatischen Farb-Eruptionen reicht. Einerseits gibt es die Bücher, die direkt bemalt werden – so wie das eingangs genannte Sparbuch -; andererseits Leerbücher, auf deren Seiten Elemente geklebt werden, die Papierfläche also der Bildraum ist; oder solche, die lediglich als Präsentationsfläche für eingeklebte eigenständige Arbeiten dienen.

Die intuitive Verteilung von Kreisflächen aus schwarzem Papier auf den roten Seiten eines Heftes ergibt eine Abfolge von freien Mustern. „Ich spiele gerne“, sagt KP Kremer, und hier hat es etwas von Domino nach ganz eigenen Regeln. Der einfache Farbkontrast gibt dem Geschehen Halt. Komplexer sind die Collagen aus schmalen Papierstreifen, die an Mikado denken lassen: Die schwarzen, braunen, grünen und orangefarbenen Linien stammen aus Plakatdrucken und Schnittmusterzeichnungen und sind auf einem trapezförmig beschnittenen Teil des Schnittmusters arrangiert. So spielerisch das auf den ersten Blick wirkt, ist das Arrangement hier nicht dem Zufall überlassen; mit Kalkül arbeitet Kremer die visuellen Werte des gefundenen Materials heraus.

Die Ordnungsstruktur von Linienrastern und Rubrik-Bezeichnungen ist in einem Buch mit Aquarellzeichnungen und Pinselflecken in starken Blau-, Rot-, Gelb- und Orangetönen weitgehend überdeckt. Die mehrfache Übermalung scheint das Reglement auslöschen zu wollen. Der opulente Farbauftritt, ein Geflecht von Linien auf wolkigen Zonen, reizt mit subtilen Effekten: So hat die nasse Aquarellfarbe auf dem feucht gewellten Papier kleine Pfützen gebildet, die nach dem Trocknen rote, fast regelmäßige Rechtecke ergeben. Die Ordnung ist nur marginal noch aufgerufen, nur eben noch zitiert.

Die ursprüngliche Bedeutung der in vielen Arbeiten verwendeten Texte spielt in der Regel keine Rolle. Es gibt Blätter mit Börsenkursen und Todesanzeigen, es gibt ausrangierte Aktendeckel mit Kürzeln und Ziffern („Laufmappe“). Sie repräsentieren Kategorien der Wirklichkeit und bringen ihre eigene Ästhetik ein. Der Künstler kann sie mit als wertvoll konnotierten Farben – Gold, Magenta, Purpur aus der sakralen Tradition – aufwerten, ästhetisch kostbarer machen. Er kann sie mit einem grellen Orange konfrontieren, das die Geometrie von Rubriken herausstellt – auch das grafische Fundstück ist damit im Sinne der gegenstandsfreien Konkretion aufgefasst.

Das schwerere Gewicht innerhalb der Zweiwertigkeit der Kategorien (fragmentarisch lesbarer Text mit gleichzeitig grafischer Eigenständigkeit) liegt in den meisten Fällen auf dem visuellen Aspekt. Auf einem von nur drei Leinwandbildern der Ausstellung wird das Gewicht allerdings verschoben hin zu deutlicheren inhaltlichen Mitteilungen: Lyrische klingende Zeilen – „…uns in der Maisonne liebten“ und „beim Duft der Kamelien“ – in sachlichen Schreibmaschinentypen, dazu arabeskenhafte handschriftliche Eintragungen – Kopien aus einer alten Urkunde – stehen als Zeilen auf einem Rubrikenraster, ohne dessen Einteilungen zu folgen. Das alles ist mit dem Pinsel gezeichnet und stark vergrößert, auf 180 mal 130 Zentimeter. Die Konzentration auf den Text und der Verzicht auf Farbe verdeutlichen die Spannung zwischen dem Konstruktiv-Konkreten und der Expressivität noch einmal anders. Auch formal eher sachlich auftretende Bilder transportieren emotionale Qualitäten.

Es geht demnach in diesem Werk grundsätzlich nicht um eine Konkretion im Sinne einer ideellen Reinheit von Form und Farbe, um Purismus. Kremer forciert einen offenen Prozess, in dem Rationalität und Gefühl im Erleben nicht künstlich getrennt werden.

Das ist die gekürzte Fassung meines Textes zum Katalog „KP Kremer: vivace“, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Burg Wissem in Troisdorf erscheint. Eröffnung 21. April, 16 Uhr. Finissage am 16. Juni um 15 Uhr: KP Kremer im Dialog mit Jürgen Röhrig.