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Fotografie

Alles manipuliert

„Melde“ aus der Serie „Gemüse“, 2017. Foto: Inge Kamps

Das Naheliegende in Nahaufnahme: Alltägliches in überraschender Ansicht zeigt die Künstlerin Inge Kamps in ihrer Fotoserie, die sich mit ihren Gartenpflanzen beschäftigt. Sie spielt mit Parametern wie Farbe, Geometrie und Schärfentiefe. Klassische Regeln der Bildgestaltung interessieren sie nicht. Sie möchte Spannung erzeugen mit ihren Arrangements, auch irritieren und dabei, wie sie sagt, „das Banale reicher machen“. kamps-lab.de

Es mutet aus heutiger Sicht fast nostalgisch an: Vor gut 50 Jahren bereits, also lange vor der digitalen Fotografie, fühlte sich ein Kritiker von den vielen analogen Fotos in den traditionellen Medien überfordert: „Eine Schwemme!“ Er konnte nicht ahnen, dass dies ein Rinnsal war im Vergleich zur gigantischen Bilderflut heute. Allein die Foto-Plattform instagram hat weltweit mehr als 1,2 Milliarden Nutzer, die täglich zig Millionen neuer Fotos hochladen. Bilder umgeben uns ständig, eine ökologische Konstante, erzeugt von Profis aller Sparten oder eben Milliarden von Amateuren und Hobbyfotografen.

Wir denken nicht nur in Bildern, wir wollen sie auch vor Augen haben. Das Erstaunliche an der Allgegenwart der Fotografie ist allerdings, dass sie einerseits als besonders korrektes Medium angesehen wird, das die Wirklichkeit unbestechlich genau wiedergibt, sie anderseits aber auch mit Misstrauen betrachtet wird, weil Bilder dem Verdacht der Lüge unterliegen. „Deep fake“ ist das aktuelle Stichwort. Es meint computergenerierte Fälschungen, die schwer zu durchschauen sind. Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass eine Tageszeitung kürzlich zur „zentralen Frage der Gegenwart“ erklärte: Wie steht es um die „Wahrheit der Bilder“?

Das Paradox, denke ich, lässt sich auflösen. Es hat mit dem Ursprung der Fotografie zu tun, dass ihr Unbestechlichkeit unterstellt wird: Lichtstrahlen lassen sich auf einer Fläche fixieren, ergeben ein Bild, das keinen Handgriff mit Stift oder Pinsel brauchte. Das frappierend Authentische, das damit eng verbundene Dokumentarische ist bis heute aus der Fotografie nicht wegzudenken. Auf der anderen Seite gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert „Kunstgriffe“, das fotografische Bild frei zu gestalten: „malerische“ Kamerabilder oder kameralose aus dem Labor – Fotogramme von Gegenständen und abstrakte Chemiegramme, entstanden durch das Manipulieren der Entwicklungs- und Fixierungsprozesse.

Ein Urlaubsfoto: „Wir waren da!“ Aber wo?

Ein Dokument fürs Familienalbum sollte es sein, aber es ging schief. Auf dem Foto ist nicht das zu sehen, was als Bild gedacht war. Angesichts der Tücke der Prozedur stellt sich die Frage: Wer ist hier eigentlich der Autor? Missglückte Fotos, die dann ganz andere und vielleicht auch reizvolle Ansichten liefern, sind ein eigenes Kapitel der Fotografiegeschichte, so wie auch Fotos aus Versehen, die alle Strategien ausblenden…

Künstler sind keine Reporter, sie gestalten mit Fotografie, und auch da sind mittels Digitaltechnik heute die Möglichkeiten noch weit größer. Das eigentliche Bild wird nicht in der Kamera, sondern am Rechner produziert. Es ist auch nicht mehr unbedingt nötig, selbst vor Ort einen Apparat zu bedienen; die Welt ist voller (Überwachungs-)Kameras und das Internet bietet Zugriff darauf. Siehe die faszinierenden Arbeiten von marcusdesieno.com (No Man’s Land) oder mishkahenner.com (Feedlots).

Stehen wir demnach vor einer geteilten Bilderwelt, der manipulierten und der nicht manipulierten? Keineswegs, denn auch jedes „wahre Foto“ ist nicht einfach objektiv, sondern beruht auf einer Vielzahl von Voraussetzungen. Mit der Entscheidung, wann was fotografiert wird, mit welchen Mitteln und aus welcher Perspektive fängt es bekanntlich an. Und auch, dass Fotografen ihre sozialen und kulturellen Prägungen in den Prozess der Bildgenerierung einbringen, weiss der Leistungskurs. Im Internet kursieren Anleitungen und Apps, die dem Nutzer beibringen, welchen Gestaltungsklischees er folgen soll.

Das Problem ist am Ende nicht, dass Fotografien manipuliert sind. Sie sind es grundsätzlich. Ein Problem entsteht dann, wenn so getan wird, als sei das Bild nicht manipuliert.

Das Vertrauen auf die Echtheit dessen, was abgelichtet wird, ist die Voraussetzung dafür, dass Fälschungen Erfolg haben und für authentisch gehalten werden. Je mehr das Misstrauen steigt, umso weniger sollten daher Fakes funktionieren. Aber unsere Wahrnehmung ist nun einmal so: Was wir sehen, wollen wir erkennen und für unsere Orientierung nutzen, also für wahr halten.

Mit dem blinden Glauben an die Fotografie muss man also rechnen. Will man diesen durchschauen, ist die Beschäftigung mit künstlerischen Fotos in hohem Maß nützlich. Wie gestalten Künstler*innen? Sie entwickeln einen besonderen Blick aufs Gegebene oder inszenieren ihre Fotos sorgfältig. Die Geschichte des Mediums bietet dazu ein Fülle von Material. Arbeiten von zwei Künstlerinnen sind hier als Beispiele zu sehen.

„Zwei mal Fünf“ aus der Serie „Im alltäglich Besonderen“, 2013. Foto: Sonja Karle

Dieses Foto erschließt sich nicht im Augenblick. Sonja Karles besondere Perspektive verlangt ein geduldigeres Sehen. Offenbar haben wir es mit Treppenstufen und einem Geländer zu tun, doch das Bild verändert die Strukturen hin zu einer freieren, formalen Auffassung. Die Senkrechte wird betont – begehen könnte der Betrachter die optisch gekippte Treppe so nicht. Zwei Kinderhände (jeweils mal fünf Finger) geben Halt. sonjakarle.eu

Der blinde Glaube an die Fotografie“ ist Thema der offenen philosophischen Diskussionsrunde „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 18. April, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

Aus der Mottenkiste

Victor Bonato (1934-2019): „Leitkultur Deutschland 2001“

Die Postkarte, die mich an meiner damaligen Arbeitsstelle vor bald 23 Jahren, im Mai 2001, erreichte, war unterschrieben mit „F. Merz“. Thema: „Leitkultur Deutschland“. Die Vorderseite zeigte das Bild einer Art Montagsdemo von Gartenzwergen. Victor Bonato, der wahre Verfasser der Ansichtskarte (hier wird der Begriff „Ansicht“ doppeldeutig), hatte den CDU-Politiker satirisch-künstlerisch aufs Korn genommen. Mail-Art nannte man das. Als ich das kleine Werk jetzt wiederfand, wurde mir noch einmal deutlich, dass der populistische Kampfbegriff „Leitkultur“ nicht nur kulturfeindlicher Unsinn ist, sondern auch ein uralter Hut. Die Fantasie von „F. Merz“ reichte jetzt offenkundig gerade noch dazu, ihn wieder aus der Mottenkiste zu holen. Aber dahin wird er über kurz oder lang auch wieder verschwinden. Wie hieß es doch in der ebenfalls von Victor Bonato herausgegebenen Aphorismen-Sammlung „Gedanken Lesen. Gedanken Gut“: „Leitkultur ist, wenn dem Leithammel der Leitfaden reißt“.

Mail-Art als politische Satire

Sollen Künstler Beamte werden?

Ein Kalenderjahr ist vergangen, in dem die öffentliche Debatte über die Künste in vieler Hinsicht irritierend war. 2023 ging es immer wieder um politische Korrektheit, um die Abgrenzung von Identitäten und andere kulturelle Kämpfe. Das führte zu zahlreichen Rücktritten – von Kuratoren, Findungskommissaren und sonstigen Betriebsfunktionären, auch zur Absage von öffentlichen Auftritten wie Preisverleihungen. Überwiegend lautete der Vorwurf Antisemitismus – davon kommt vor allem das Label „documenta“ nicht los -, und bis heute wird gerungen um eine erkennbare und damit handhabbare Trennlinie zwischen Israelkritik und Judenfeindlichkeit.

Die, um deren Arbeit es eigentlich geht (gehen sollte), die Künstler*innen, werden in diesen Debatten der Funktionäre fast immer lediglich als stumme Adressaten von Forderungen berücksichtigt. „Trennt E-Kunst nicht von U-Kunst“, tönt Kulturstaatsministerin Claudia Roth aktuell, sie hat ein neues Fass für 2024 aufgemacht. Ihr Rücktritt blieb im vorigen Jahr aus, obwohl ihn die „Jüdische Allgemeine“ im Zusammenhang mit dem „documenta-Skandal“ gefordert hatte. Zurückgetreten wurde aber der Leiter der Berliner Berlinale, woraufhin 200 Kulturschaffende aus aller Welt über Claudia Roth herzogen. Der Zirkus geht weiter. Jetzt sollen, wiederum in Berlin, Fördergelder für Kulturschaffende nur dann noch bewilligt werden, wenn sie eine „Antidiskriminierungs-Klausel“ unterschreiben. Über den Textinhalt wird heftig gestritten. Es geht hauptsächlich wieder um Antisemitismus. 4000 „Kulturproduzent*innen“ haben mittlerweile einen offenen Brief gegen diese behördliche Gängelung unterschrieben, weil sie ihre im Grundgesetz verbriefte Meinungsfreiheit gefährdet sehen und der Senat vorher mit ihnen nicht einmal gesprochen habe.

Wer sich auf das Grundgesetz beruft, fühlt sich diesem Text und seinen Werten offenbar verpflichtet. Das beinhaltet die Beachtung der Menschenrechte. Was soll man da noch zusätzlich unterschreiben? So etwas müssen bisher Beamte bei ihrer Einstellung. Wir könnten doch alle Künstler verbeamten, wie das hässliche Wort heißt, dann käme die staatliche Förderung endlich auch bei allen an.

Womit auch ein grundsätzliches Diskriminierungsproblem gelöst wäre: das der sozialen Benachteiligung. Denn Künstler (vor allem aber Rezipienten und gar Käufer) werden in unserer Gesellschaft ganz selten die Unterprivilegierten, weniger formal Gebildeten. Nicht nur Antisemitismus grenzt aus. Autonomie der Kunst – die Chance zum freien Spiel – ist ein historischer Anspruch, der bisher nur für manche verwirklicht wurde. Nicht für jeden in Deutschland, erst längst nicht in der Welt. Trotzdem bleibt Autonomie eine gute Idee. Dabei ist klar, dass dieser Spielraum der Freiheit immer bedingt, gefährdet und umkämpft sein wird. Es geht um die Möglichkeit, wenigstens an diesem Kampf teilnehmen zu können.

Ohne Solidarität mit den weniger Privilegierten ist Kunstfreiheit logisch nicht zu denken. „Autonomie und Solidarität“ ist für mich deshalb der bessere Slogan für 2024 als irgendeiner aus der Cancel-Culture. In Feuilleton-Beiträgen wird Autonomie zurzeit gerne für überholt erklärt. Das halte ich für nicht durchdacht. Es ist – wiederum – gegen die Interessen der Künstler*innen. Es gibt aber auch andere Stimmen, die aus unterschiedlichen Perspektiven künstlerischer Praxis den Freiheitsanspruch aktualisieren, aus verschiedenen Generationen. So ganz dezidiert der Komponist Wolfgang Rihm (Jahrgang 1952), der kürzlich in einem Interview idealistisch die „grenzenlose Freiheit“ der Kunst hochhielt: „Angesichts von immer mehr heterogenen Ansprüchen muss das betont werden“. So auch die Kritikerin Larissa Kikol (*1986), die im Hinblick auf Graffiti und Street Art meint, die Kunst werde schutzlos den Interessen des Marktes ausgeliefert, wenn sie nicht autonom bleibe. Und als drittes Beispiel der Künstler und Theoretiker Steffen Zillig (*1981), der gerade mit seiner „Ästhetik des Asozialen“ ein grundlegendes, sehr empfehlenswertes Buch zum Zusammenhang von Autonomie und Solidarität veröffentlicht hat. Ihm geht es darum, „die Kunst als einen jener Spielräume bürgerlicher Freiheit zu verteidigen, der (…) zumindest eine Idee davon lässt, worum (…) in viel stärkerem Maß gerungen werden muss“.

Positionen, die künstlerische Arbeit in den großen Zusammenhang stellen. Wie betrifft das die schöpferische Arbeit im stillen Atelier, am Schreibtisch? Wenn wir zu der Freiheit, die wir uns da nehmen, den universellen Anspruch auf diese relative Autonomie hinzudenken, wird seine mangelhafte Verwirklichung zumindest bewusst. Ändern können Künstler*innen das alleine nicht, aber gegen die Bevormundung durch Institutionen und Politiker, gegen die „Verbeamtung“ wehren sie sich zu Recht.

Update: Am 23. Januar 2024 wird gemeldet, der Berliner Kultursenator habe die umstrittene Klausel zurückgezogen, wegen rechtlicher Bedenken und weil er nun mit den Kulturschaffenden sprechen wolle.

Ein Spielraum der Freiheit

AugenBlick

Partitur mit feinem Blau

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Bildbetrachtung

Erhabene Industrie

Thomas Harrison Hair: „Percy Pit Colliery“, Kupferstich, 19. Jahrhundert.

Rückenfiguren vor Gegenlicht: Ein großes Feuer, dargestellt im Zentrum des Bildes, sorgt für die Beleuchtung der geschäftigen Szene im Mittel- und den tiefen Schatten im Vordergrund. Und oben, etwas links von der Mittelachse, erhellt der Vollmond den Himmel. Dies und die imposanten Gebäude und Maschinen des Bergwerks „Percy Pit“ bei Newcastle Upon Tyne in England hat Thomas Harrison Hair im 19. Jahrhundert für den Druck auf eine Kupferplatte gezeichnet und gestochen. Das Blatt ist nicht datiert.

Auffällig an dieser Ansicht der Kohleindustrie sind die motivischen Parallelen zu Werken des deutschen Romantikers Caspar David Friedrich. Rückenfiguren, die die Landschaft betrachten, finden sich in dessen Werk mehrfach – sie sind fast so etwas wie sein Markenzeichen. Zum Beispiel in dem Bild „Mondaufgang am Meer“ von 1822. Der volle Mond ist hier teilweise von Wolken verdeckt – bei Hair ist es ein qualmender Schlot, der das leuchtende Rund anschneidet. Die Sitzenden bei Friedrich betrachten das Naturschauspiel und zwei Segelschiffe auf dem vom Mondlicht glänzenden Wasser. Geheimnisvolle, kontemplative Stimmung.

Der Bildaufbau ist derselbe wie der des Kupferstichs: Die Figuren sind vom Betrachter abgewandt. Sein Platz beim Anschauen der Szene ist deutlich eine entferntere zweite Reihe. Die angesichts des Erhabenen nötige Distanz zum Geschehen wird so gewahrt.

Die metaphysisch überhöhte Natur ist für Caspar David Friedrich das Gewaltige, letztlich nicht Fassbare. Der Engländer Hair rückt an die Stelle der Natur die zeitgenössische Technik, ihre Größe und Gewalt in die eingeführte Bildstruktur. Erhaben ist hier die Industrie, die Ausbeutung fossiler Rohstoffe. Materialismus ersetzt Metaphysik.

Ein Zufall wird die kompositorische Parallele nicht sein. Es gibt mehrere Varianten des Bergwerk-Motivs, gezeichnet, aquarelliert, gedruckt. Nicht in allen scheint der Mond und ist das Feuer so groß. Thomas Hair hat sich offenbar etwas gedacht bei der Verdeutlichung seiner Reminiszenz an die Romantik in der hier gezeigten Version.

Seine populäre Darstellung, gedruckt auch in Büchern, führt einen Gegenstand in die Motivgeschichte des Erhabenen ein, der seitdem nichts an Faszination verloren hat. Im Gegenteil – heutige Berg- und Hüttenwerke sind bekanntlich noch viel größer und imposanter. Vor allem die Fotografie hat sich der Industriearchitektur angenommen. Wer im Internet Bilder aus der Stahlproduktion aufruft, findet dramatische Feuer in gigantischen Bauwerken. Diese Darstellungen sollen sachlich sein, verzichten daher auf Vollmond und in den Anblick versunkene Rückenfiguren. Doch die Faszination angesichts des übermenschlich wirkenden Geschehens bleibt erhalten. Das Erhabene indes führt nun nicht mehr zum Genuss des Vorscheins einer höheren oder gar besseren Welt, wie Friedrich es noch glaubte; wir wissen heute, dass beim Thema Ausbeutung von Fossilien das Gegenteil der Fall ist.

Das „Erhabene“ in der Kunst ist auch Thema des folgenden Textes. Offene Diskussion am 23. November, 19 Uhr, Stadtbibliothek Siegburg.

Zur Strafe die Alpen

Karl-Friedrich Schinkel: „Felsentor“, 1818 (Ausschnitt)

Über was ist das Erhabene eigentlich erhaben? Ganz praktisch: über das Flache. Im übertragenen Sinn, und der ist noch erhabener, über alles Nebensächliche und Kleinliche, über alles Profane. Also über vieles, was eigentlich doch interessant und reizend sein kann. Das Gefühl des Erhabenen kann mit dem Empfinden von Macht und Autorität verbunden sein wie mit moralischer Reflexion, religiöser Ergriffenheit oder ästhetischem Genuss. Um das ästhetisch Erhabene soll es hier gehen. In der Geschichte der Kunst spielten erhabene Motive und das gedankliche Konzept der Erhabenheit immer eine große Rolle – bis heute.

Zu groß, um mit den Sinnen vollständig erfasst zu werden, machtvoll und schrecklich, so wird das Phänomen über die Jahrhunderte beschrieben. Seit Edmund Burke 1757 seine „Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“ veröffentlichte, wird seine Definition immer wieder zitiert: Was beim Anschauen ein Gefühl von möglicher Gefahr oder Schmerz hervorruft, was uns plötzlich erschauern lässt, ist erhaben. In der Malerei wäre das Motiv des Höllensturzes ein Beispiel, wobei der Mann aus Dublin solchen Szenen aber misstraute: Wollte „der Maler nicht irgendetwas Lächerliches darstellen?“

Sprichwörtlich liegt das Erhabene ja nah am Lächerlichen. Unterscheiden kann man das aus geeigneter Distanz, und die ist für Burke ohnehin unerlässlich, um das Erhabene genießen zu können. Denn darum geht es ja in der Kunst: Der Anblick eines unermesslichen wilden Meeres mit Sturm und Blitzen oder eines gewaltigen Bergmassivs, die Lieblingsgenres des Erhabenen, werden, ohne reale Gefährdung betrachtet, zu Quellen des Erschauerns wie Entzückens in einem. Die Würde der Dinge, so Burke, möchte der Betrachter für sich selbst in Anspruch nehmen. Erhabener Anblick macht demnach uns selbst erhabener. Es sei denn, man findet das unendliche Meer schlicht langweilig, das kam auch vor.

Wohlhabende Briten, kulturbeflissene Reisende, gelten als diejenigen, die die Erhabenheit der Natur im 18. Jahrhundert entdeckten. Auf ihrer obligatorischen Grand Tour nach Italien standen sie irgendwann staunend vor den Alpen. Zahlreiche Beschreibungen zeugen davon und vor allem Bilder, die das nicht Darstellbare, die unüberschaubare Größe der Berge darstellen wollen. Dass auch dieses Genre in der Folge Lächerliches hervorgebracht hat, ist bekannt. Der märchenhafte Kitsch aus dem Atelier von Karl Friedrich Schinkel zum Beispiel zeugt davon.

Aber bleiben wir bei den eindrucksvoll gelungenen Bildern. Caspar David Friedrichs „Watzmann“ vermittelt das Gefühl des Erhabenen, indem er dem Berg eine metaphysische Aura verleiht: Das nicht Erfassbare, Unfassbare weist über die sichtbare Welt hinaus. Nicht nur die räumlichen Koordinaten irritieren, der Blick auf die unnahbaren Gesteinsformationen, eine menschenleere Szene, rückt auch die biologische Zeit in Distanz zur geologischen. Teil dieser Natur zu sein, bei Friedrich religiös begründet, ergreift und erhebt den sensiblen Betrachter.

Ein romantisches Motiv ist das Erhabene immer geblieben. Nicht nur in der Malerei: Auch in der US-amerikanischen Land Art im 20. Jahrhundert gab es Werke, die erhaben in diesem Sinne wirkten: Michael Heizers „Double Negative“ von 1969, Walter De Marias „The Lightning Field“ 1974-77 oder 1976 der knapp 40 Kilometer lange „Running Fence“ von Christo und Jeanne Claude. Darauf komme ich gleich noch. Doch seitdem? Viel „postmoderne“ Ironie, die das Pathos auf die Schippe nahm. Und wenn doch pathetisch, dann zeigte sich in manchen Fällen deutlich, dass das Monumentale und das Erhabene nicht dasselbe sind. Dafür mag Werner Tübkes Bauernkriegspanorama – Leinwandmaß 14 mal 123 Meter – ein Zeugnis ablegen.

Zuvor hatten die Maler Barnett Newman und Yves Klein in den 1950er Jahren etwas ganz anderes versucht, nämlich allein mit monochromen Farbflächen und großen Formaten das Erhabene zum Erlebnis werden zu lassen. In ihren Farbräumen war das Erhabene eben nicht Motiv einer Darstellung, sondern Effekt der Entgrenzung: Der Betrachter soll eintauchen in die Farbe, dazu die Leinwand – so wollte es Newman – aus nächster Nähe anschauen, also den Überblick verlieren. Hier galt nicht das Burkesche Distanzgebot (und es war nicht nötig, da schauerliche Motive ja fehlten). Die Sinne erleben bei der Übermacht der Farbe eine gewisse Überforderung, es gibt keine Anhaltspunkte für eine räumliche oder zeitliche Orientierung: Das Bild ist das Ereignis des Erhabenen im Augenblick. Allein Farbe und Form müssen „die bewundernde Überraschung, das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts, auslösen“, so beschrieb es Jean-François Lyotard in seinem Text „Der Augenblick, Newman“. Die Präsentation der reinen Präsenz ist das Erhabene.

Walter de Marias gigantisches Projekt „Lightning Field“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die moderne Land Art das romantische Konzept der Erhabenheit neu inszeniert. 400 Stäbe aus Edelstahl, etwa sechs Meter hoch, bilden das Blitz-Feld in New Mexico. Sie sind auf einer Fläche von 1,6 mal ein Kilometer in regelmäßigen Abständen senkrecht montiert – 17 Tonnen Stahl. Die Stäbe spiegeln das Licht in seiner Veränderung im Tagesablauf, was als erhabenes Schauspiel beschrieben wird, das seinen Höhepunkt oft in einem Gewitter findet, bei dem die Stäbe wie Blitzableiter funktionieren. Für Zuschauer gibt es einen sicheren Ort, so daß Burkes Forderung erfüllt ist, Erhabenheit solle ungefährdet zu genießen sein. Zwar ist die Form der Installation der eleganten Stäbe im Blitzfeld durchaus abstrakt-minimalistisch, da die Landschaft aber praktisch Teil des Werks wird, kehrt das gegenständliche Naturmotiv zurück.

Damit arbeiten auch Christo und Jeanne-Claude in ihrem Werk „Running Fence“ 1976 in Kalifornien. Über 39,4 Kilometer erstreckte sich der 5,50 Meter hohe Zaun aus weißem Nylongewebe, befestigt an stählernen Seilen und Stäben. Die Fotos davon zeigen ein erhabenes, poetisches Landschaftsbild. Es ist riesig, aber es hat nichts Bedrohliches. Die Stoffbahnen bewegen sich und lassen Licht hindurch – die ästhetische Absicht ist schon dem Material eingeschrieben. Das ist bei der Grenzbefestigung zwischen Israel und dem Gaza-Streifen selbstverständlich völlig anders. Obwohl die Bilder sich frappierend ähneln, ist das Erhabene hier nur abschreckend. Die Mauer soll unüberwindlich sein. Dass sie es nicht war: umso schrecklicher. Die beiden durch die Perspektive des Teleobjektivs formal so verwandt erscheinenden Bauten in der Landschaft unterscheiden sich in Absicht und Wirkung und durch Burkes Diktum: Genießen können wir nur gefahrlos. Andernfalls entstünde zudem ein ethisches Problem. Die Mauer in Palästina hätte Burke hässlich gefunden, aber erhaben: Hässlichkeit, verbunden mit starkem Schrecken, schrieb er, „ist verträglich mit einer Idee von Erhabenem“.

Und wie verhält es sich, wenn ein Künstler einen martialischen Grenzzaun spielerisch-ironisch mit einem bildnerischen Eingriff bearbeitet? Der Franzose, der sich kurz JR nennt, hat dies versucht und die Absperrung zwischen den USA und Mexiko symbolisch überwunden. 2017 montierte er das überdimensionale Foto eines Kleinkinds auf ein Gerüst neben den Zaun, so dass es auf der amerikanischen Seite so aussah, als schaue das Kind zufrieden wie über ein Spielzeug hinweg. Das schrecklich Erhabene war hier bewusst ins Lächerliche gezogen. Für einen überraschenden Augenblick verlor die Mauer ihren Schrecken.

Politische Bezüge sind dem Erhabenen nicht wesensfremd, im Gegenteil: Die Ästhetisierung der Politik setzt oft auf die Wirkung des Erhabenen, wie Walter Benjamin es am Fall des deutschen Faschismus erklärt hat. In diesem Themenfeld bewegt sich Anselm Kiefer mit seinen formal traditionellen Bildern und Objekten. Aktuell werden Werke von ihm wieder vermehrt öffentlich gezeigt. Zurzeit gestaltet er den 176 Quadratmeter großen „Eisernen Vorhang“ in der Wiener Staatsoper als Großbild. Der Künstler erweist sich als später Nachfahre der Romantiker. Seine morbiden Szenen auf riesigen Formaten sind düster; Grau und Braun dominieren. Man schaut auf unergründliche Landschaften und monumentale Architekturen. Die Werke erinnern atmosphärisch und symbolisch deutlich an dunkle Jahre der deutschen Geschichte. Ihre Erhabenheit gründet auf der Assoziation des Schreckens.

Das Pathetische, überwältigend Erhabene, immer in der Gefahr, ins Lächerliche zu kippen oder gekippt zu werden, ist aber nicht die ganze Wahrheit des Sublimen, das meist mit dem Erhabenen gleichgesetzt wird. Dessen Übersetzungen – „the sublime“ im Englischen und „le sublime“ im Französischen – erinnern indes an den wortgeschichtlichen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Subtilen, also gerade mit seinem dimensionalen Gegenteil. Eine Verbindung scheint in der Alchimie alter Zeiten zu liegen: Durch das Verdampfen von Substanzen, das Aufsteigen ihres Geistes ins Erhabene, aber kaum oder nicht mehr Sichtbare, gelang die Sublimation. Das so entstandene Subtile, das „Fast-Nichts“, ist nicht überwältigend, vielmehr nur mit besonderem Feinsinn wahrnehmbar. Es fordert das Empfindungsvermögen heraus, minimale Differenzen zu erspüren und sie zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Burke, der sich vor allem mit den zu seiner Zeit „allgemein bekannten“ und „mächtigen Quellen des Erhabenen“ befasste, mit Größe, Finsternis, Einsamkeit, Schweigen und auch Leere, machte in seinem Essay eine kurze Bemerkung, die in den sublimen Mikrokosmos weist: „Die alleräußerste Kleinheit (ist) in gewissem Sinne gleicherweise erhaben wie die äußerste Größe der Dimension.“ Ein „Extrem der Kleinheit“ sei „in seiner Wirkung vom Riesigen selbst nicht mehr zu unterscheiden.“ Lyotard, der an Burkes Überlegungen anknüpfte, findet die konträren Quellen des Erhabenen bei Newman verknüpft: das Schweigen und die Leere mit dem äußerst Subtilen. Große Farbfeldmalerei als subtile Darstellung von Nicht-Darstellbarkeit.

In solchen Paradoxen erscheint die Kunst vielleicht komplizierter als sie ist. Wir erfassen mit unseren Sinnen spontan, und wenn wir Erhabenes empfinden oder seine Lächerlichkeit, spüren wir es ohne Explikation. Aber wo bleibt am Ende das Flache? Nicht immer wurde es als minderwertig empfunden. Es soll vor langer Zeit christliche Theologen gegeben haben, die sich das Paradies als völlig flach vorgestellt haben und die die Berge für eine Strafe Gottes hielten, der sie über der Ebene aufgetürmt habe nach dem Sündenfall. Da ist es doch kein Wunder, dass die alten Briten die Alpen schrecklich fanden.

„Das Erhabene“ ist Thema der nächsten Veranstaltung in der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 23. November, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgassse. Beginn 19 Uhr.

Originelle Epigonen

Kometennaturen und Sprudelgeister – frei nach El Greco.

Es ist ein gesellschaftlicher Anspruch und ein gängiges Selbstbild gleichermaßen: Künstler*innen sind originell, ihre Werke einzigartig. Das gilt mittlerweile sogar für alle Kreative, und jeder Mensch ist ja irgendwie kreativ. Originalität wird damit praktisch zum Normalfall. Das Unterscheidende kann nur noch im Detail liegen.

Nach Eigenständigkeit, damit nach Unterscheidendem (Fachbegriff „Distinktion“, klingt schon an sich stinkfein) zu streben, ist ein weithin anerkanntes bürgerliches Ziel. Innerhalb von 200 Jahren hat sich diese Werthaltung entwickelt – vom ersten Auftreten der „Originalgenies“ im 18. Jahrhundert bis zum Alltagskreativen heute. Aber schon von Anfang an gab es Stress. Was ist denn eigentlich originell, sprich ursprünglich und einzigartig? Sind wir nicht alle als erstes Nachgeborene, natürlicherweise von Geburt an? Ob und wie sich der Mensch danach zum Original entwickeln kann, und wie er damit wirtschaftlich erfolgreich wird oder nicht, dieser Fragenkomplex hat sich hartnäckig gehalten, trotz aller Analysen und Diskussionen zwischen Enthusiasmus („Ich bin ein Star“) und Resignation („Wir sind alle Epigonen“).

Die Engländer sollen um 1750 mit dem modernen Originalitätskult angefangen haben. Eine Fülle von Briefen, Traktaten und Denkschriften ist überliefert, die zu beweisen versuchen, dass Literatur und Malerei nicht die Alten und die Traditionen nachahmen müssen, um gut und wichtig zu sein. Die größte Wirkung erzielte in deutschen Landen damals Edward Young mit seinen „Gedanken über die Original-Werke“ – die Übersetzung erschien 1760 schon ein Jahr nach der Originalausgabe. Young schrieb schön bildreich: Originalität lasse die Wüste erblühen, Nachahmung dagegen verpflanze nur fremden Lorbeer, dem dann der Humus fehle. Eine Spitze gegen den Adel, der sich immer selbst kopierte.

Der originelle Künstler galt als Naturtalent mit einem nicht zu bremsenden Schaffenstrieb; ihm fiel alles Gestalten leicht, er war reich an tieferen Empfindungen und genaueren Vorstellungen als sie der Normalmensch hat. Der formatsprengende philosophische Schlagabtausch über dieses Phänomen lässt sich hier nicht referieren. Interessant ist, welche originellen Bezeichnungen vernunftaffine Geister den nach Originalität strebenden Künstlern (das waren zu 99,9 Prozent damals Männer) verliehen: „Kraftknaben“, „Originalnarren“, „Sprudelgeister“ und „Kometennaturen“ lassen tief blicken. Herr Immanuel Kant ließ aus Königsberg verlauten, zwar sei das Genie das Talent, das der Kunst die Regel gibt, aber vor übertriebener Originalität sei zu warnen: Es gebe auch „originalen Unsinn“. Wenn jede Regelverletzung originell ist, verselbstständigt sich das Streben danach ins Banale.

Doch alle Bedenken halfen zunächst wenig. Die Geister wollten und mussten sprudeln, um des Erfolgs willen. Die Begeisterung des Publikums und der Markt verlangten Originalität – bis zur Erschöpfung. Dass dieser Zustand eintrat, bezeugt ein gescheiterter Maler im 19. Jahrhundert: Gottfried Keller. Als Schriftsteller hatte er dann Erfolg, und seine biografische Einsicht: Wir können nicht mehr originell sein, alles war schon einmal da, wir sind zur Epigonalität verdammt, hat er in Novellen und seinem Künstlerroman „Der grüne Heinrich“ von allen Seiten beleuchtet. Es gebe, so steht es in der ersten der „Züricher Novellen“, „nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen“. Bezeichnend, dass die Metaphorik hier in die Sphäre der Industrieproduktion greift.

Es war eine Haltung der Zeit: Karl Immermann veröffentlichte ab 1823 seinen mehrbändigen Roman „Die Epigonen“. Die „jetzige Generation“, so heißt da, kann aus einer Überfülle der Vorbilder schöpfen, alle vorhandenen Themen und Formen ausprobieren – aber immer nur als „Nachhall eines anderen selbständigen Geistes“. Die Position des Nachkommens und Nachahmers wird akzeptiert – so auch das Fazit der Geniekünstler-Kritik Kellers: Nicht wer gewaltsam originell sein möchte, sondern wer sich bescheidet ist am Ende dann vielleicht ein Nachfolger mit relativ eigenem Profil. Was damals verhandelt wurde, klingt wie ein Vorspiel zur sogenannten „Postmoderne“ rund 150 Jahre später.

Wenn wir diesen Zeitsprung machen, landen wir wiederum bei der Einsicht, dass auch das Allerneueste und Individuellste immer grundiert ist von historischen Vorbildern, Inhalten und Formen. Den Mythos der Originalität zu hinterfragen, war in den 1980er Jahren eine neuerliche Regelverletzung, die in der Kunst mitunter seltsame Blüten trieb. Aber: Der Freiraum fürs unbeschwerte Nachahmen, Kopieren, Dekonstruieren usw. war erneut offen.

Originalität und ihr Mythos sind aber zweierlei. Die Strategie der Einzigartigkeit war mehr als Marketing, erzeugte nicht nur Sprudelgeister und schnell verglühende Kometen. Der moderne Kanon von Originalkunst ist kaum umstritten: Werke von Caspar David Friedrich, Edouard Manet, Alberto Giacometti, Joseph Beuys nur als Beispiele. Doch keiner von ihnen arbeitete im luftleeren Raum; auch die Imagination und Praxis der Stars bediente sich an Vorhandenem.

Und das war im Grunde nichts Neues, deshalb noch einmal zurück, zunächst zu Hercules Seghers und Rembrandt van Rijn: Seghers ist unbestritten originell in seinen fast abstrakten Landschaften, für das 17. Jahrhundert völlig ungewöhnliche Darstellungen. Rembrandt, der im Ruf stand, eigensinnig die barocken Regeln der Kunst zu mißachten, hatte kein Problem damit, eine Radierplatte von Seghers zu nehmen und ein Figurengruppe in die Landschaft einzuarbeiten: „Die Flucht nach Ägypten“, 1653 – Appropriation in ihrer Frühform. Nun war dies die Vorgeschichte des eigentlichen Geniekults, in der der Werkstattgedanke und die Kooperation noch verbreitet zum künstlerischen Alltag gehörten. Originalität stand nicht im Widerspruch dazu.

Als originell empfanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Kunstkenner etwa auch Jan van Huysum, genannt „Phönix der Blumen- und Fruchtmaler“: Seine gewöhnlichen Motive und dekorativen Bilder fürs bürgerliche Renommierzimmer würden heute als kitschig empfunden. Etwas originell zu finden, das zeigt dieser Fall, ist eine Frage des Standpunkts.

Caspar David Friedrich ist ein unbestrittener Solitär, und seine Arbeitsweise ist das Gegenteil zur personalreichen Malerwerkstatt: Einsam abgeschottet im stillen Atelier an der Elbe gestaltete er seine Bilder, mit Motiven aus der Natur, aber nicht nach der Natur. Seine originellen Visionen bieten nach wie vor Anlass zu tiefschürfenden Interpretationen. Seine Arbeitsweise war aber recht pragmatisch und profan. „Der Watzmann“, 1824/25 entstanden, beruht auf einem Aquarell eines Schülers; Friedrich hat den Berg nie gesehen. Und die Steinfiguration im Bild vor dem Riesenberg hatte er 1811 im Harz gezeichnet. Ein modernes Aneignungs- und Montageverfahren.

Die so entwickelten Strategien, gegebene Muster nachzuahmen, zu variieren, zu demontieren, Kontexte zu verändern, sie ganz dem eigenen Empfinden unterzuordnen, kurz: aus Überliefertem Neues zu machen, haben in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zu den allseits bekannten Blüten geführt. Nur war zuvor keine Wüste da, sondern bereits sorgsam bestellter Acker. Nicht immer zog das Publikum mit und fand die Blüten schön. Tabubrüche sorgten auch für Skandale. Aber das war vielen um Aufmerksamkeit ringenden Künstlern nur recht: Je provokativer, desto origineller.

Das Leitbild des Original-Genies war Ende des 19. Jahrhunderts trotz aller Bedenken fest etabliert in den Kunst-Institutionen und auf dem Kunstmarkt. Der individuelle Schöpfer trat aus seinem stillen Atelier ins Licht der Öffentlichkeit und hatte sich der Kritik zu stellen. An diesem Künstlerhabitus orientiert sich bis heute die gesamte Kreativwirtschaft, obwohl längst klar ist, dass es voraussetzungslose Originalität nicht gibt. Dieser Mythos hatte seine Funktion im Kulturkampf zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in den „Querelle des Anciens et des Modernes“, in denen Nachkommenschaft strategisch ausgeblendet war. Dass diese Fiktion sich trotz besseren Wissens auch heute ungebrochen hält, hat nicht nur Marketinggründe, sondern bedient auch eine romantische Sehnsucht.

Die erfüllen paradoxerweise selbst Stars der Kunst, die das institutionalisierte System unterlaufen wollen. Wie originell ist es, wenn Marcel Duchamp einen handelsüblichen Flaschentrockner nimmt und in den Kunstkontext stellt? Das Objekt hat er weder erfunden noch gestaltet, trotzdem kann er damit die Kunstgeschichte verändern, indem er Erwartungen und Regeln über den Haufen wirft. Andy Warhol machte in Folge in seiner „Factory“ die profane Warenästhetik zum Inhalt der hohen Kunst. Er profitierte von Duchamps Tabubruch, den er konsequent weiterdachte. Wie weit war er Weg vom klassischen Früchtestilleben zur Supermarkt-Suppendose? Jedenfalls gelang es Warhol, trotz kooperativer Arbeitsweise und Serienproduktion noch als origineller Star zu posieren.

Das Problem, dass keine Grenzen mehr blieben, die noch zu überschreiten waren, stellte sich im 20. Jahrhundert den Künstlerinnen aufs Neue. Wie schon der epigonale Landschaftsmaler Gottfried Keller zweifelten nun viele an dem Anspruch der Originalität. Die ständig verlangte Innovation war einfach nicht mehr zu leisten. Originalität galt „postmodernen“ Künstlerinnen als Ideologie – individualistisch, kapitalistisch, männlich, westlich. Diese Kritik fand ihren Ausdruck am deutlichsten in einer Form visueller Kunst, die bewusst mit Zitaten und Kopien arbeitete. „Appropriation Art“ (Kunst der Aneignung) brachte in den 1980er Jahren zudem Künstlerinnen ins Gespräch: Sherrie Levine sorgte für Aufsehen mit ihrer Foto-Serie „After Walker Evans“. Levine kopierte die bekannten Dokumentarbilder von Evans aus den 30er Jahren, das war ihr Werk. Keine eigene Schöpfung, keine Originalität was Motiv und Gestaltung angeht. Levines Kreativität lag im provokanten Konzept, das die herrschenden Vorstellungen von Autorschaft in Frage stellte. „Das Bild eines Bildes ist ein sehr seltsames Ding“, wird sie zitiert: „Ich versuche, mich nicht vom Original tyrannisieren zu lassen.“

Elaine Sturtevant, eine Pionierin der Appropriation Art, machte es ähnlich wie Rembrandt: Sie griff nach Arbeitsmaterial berühmter Vorgänger, unter anderem von Andy Warhol, dessen Drucksiebe von „Flowers“ sie benutzte, um eine neue Auflage anzufertigen. Und Cindy Sherman inszenierte sich in Selbstporträts (History Portraits) in Kostümen nach Gemälden alter Meister. Die Reproduktionen stellten die Rollenbilder zur Debatte, ebenso wie ihre Inszenierung alltäglicher Szenen im Haushalt. Die wiederum fanden Nachahmer in sogenannten „sozialen Netzwerken“: Fans stellten ihre Imitationen der Sherman-Fotos ins Internet. Spätestens jetzt war das Konzept im populären Feld angekommen: Keine Angst vor Wiederholung. Spielerisch, ironisch und kritisch zeigt sich der originelle Epigone.

Über dieses Thema diskutiert die philosophische Runde mit Rüdiger Kaun und Jürgen Röhrig am Donnerstag, 19. Oktober, um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

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Bildbetrachtung

Original ohne Absicht, Absicht ohne Original

Basis-Kosmos. Foto-Datei Jürgen Röhrig 2023

Kratzspuren und Farbflecken auf dunklem Grund. Eine Zeichnung aus hellen Linien, Punkten, unregelmäßigen Klecksen. Die bunten Töne in einer Abstufung von Gelb zu Rot, dazu etwas Blau und Blaugrün – delikat. Das Bild erlaubt den Blick in einen tiefgründigen Kosmos, ist kein Abbild des Nachthimmels, aber belebt wie dieser: Kometenstreifen, Sterne und Spiralnebel, wenn man diese Assoziationen will. Und der Himmel ist bereits vermessen, in einem regelmäßigen Raster, das die Fläche in zwölf Quadrate aufteilt.

Diese Fotografie zeigt einen kleinen Ausschnitt eines Atelierfußbodens in einer Kunsthochschule. Generationen von Studenten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Die robusten Industriekacheln, 15 mal 15 Zentimeter, sind arg strapaziert worden, was von den physikalischen und farbchemischen Kräften erzählt, die da ausgeübt wurden, ebenso von einer zeitlichen Entwicklung, die nicht zu Ende ist. Das Ergebnis ist die Summe ungeplanter, zufälliger Einwirkungen. Obwohl keine Absicht dahinter steckt, so ist das Bodenbild vor Ort doch ein Original.

Absicht und geplante Gestaltung sind aber Voraussetzung des Fotos, das die ästhetische Qualität des Gegenstands zeigen soll. Vor Ort fotografiert und am PC aufbereitet, ist das Bild ein eigenständiges Werk zwar, aber kein Original. Wie das bei beliebig oft technisch reproduzierbaren Dingen so ist.

Ende mit Schrecken

Eine Institution verabschiedet sich: Die „Kunstzeitung“ aus dem Haus Lindinger und Schmid macht Schluss. „Unwiderruflich: Diese KUNSTZEITUNG ist die letzte Ausgabe“, heißt es auf Seite 2 der im Juli erschienen Nummer 306. Fast drei Jahrzehnte lang war das unabhängige Blatt mit Berichten, Analysen und Kommentaren zur Kunstszene ein zuverlässiger Begleiter. Kostenlos lag das Produkt allmonatlich in Museen, Galerien und anderen Kunstbetrieben aus.

Ein gutes Angebot für interessierte Menschen, vor allem auch für weniger Betuchte. Das Blatt zeigte sich in der Regel informativ, fundiert und meinungsstark, war in seiner (Nicht-)Preisklasse konkurrenzlos. Da entsteht jetzt eine deutliche Lücke auf dem Markt.

Warum geben Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid auf? „Wir bleiben auf einem Teil der immens steigenden Produktionskosten sitzen“, schreiben sie. Die Werbeeinnahmen seien in der Pandemie deutlich gesunken und danach nicht wieder ausreichend gestiegen. Die letzte Nummer erschien mit vielen weißen Flächen im Anzeigenraum. Dazu komme, dass Anträge auf Corona-Hilfen abgelehnt wurden: „Nicht einen einzigen Cent bekam die KUNSTZEITUNG während der Corona-Zeit aus dem Neustart-Etat der Kulturstaatsministerin“, so die Klage. Man fühlt sich ungerecht behandelt.

Doch nicht nur die schlechte finanzielle Lage, auch die veränderte Haltung des Publikums spielt eine Rolle für die Entscheidung, das Projekt zu beenden. „Die Digitalgeneration mag sich nicht mehr tief in die Themen beugen.“ Allgemeine Verflachung in der Wahrnehmung gehe einher mit der Verflachung im Programm von Museen, die dafür auch nicht mehr werben wollen, was ja – wenn es stimmt – sogar konsequent wäre.

Selbst teilnehmen an der Digitalisierung, etwa mit einem Blog, wollte die Kunstzeitung offenbar nicht. Im Netz gibt es auf der Website lediglich ein pdf der aktuellen Ausgabe (lindinger-schmid.de). Das Papierzeitalter geht insgesamt zu Ende, die neuen elektronischen Formate haben sich durchgesetzt – und das bedeutet nicht per se Verflachung.

Meinungsfreudig, wie ich sie immer geschätzt habe, ist die Kunstzeitung auch beim Finale. Schmid appelliert noch einmal: „Künstler, aufwachen!“, plädiert für „mehr Avantgarde, weniger Mainstream“. Denn er vermisst den „Mut, das wirklich Neue zu wagen“. Die Künstlerschaft habe Unabhängigkeit und mühsam eroberte Freiräume aufgegeben, stattdessen „überall Duckmäuserei, unsägliche Trauerspiele in den Ateliers“, die Schmid als Brutstätten der Marktangepasstheit und moralischen Korrektheit ausmacht.

Dass diese Kritik keine Ausnahmen erlaubt, nicht die inspirierenden und unangepassten Arbeiten vieler gegenwärtiger Künstler*innen sieht, erstaunt mich. Andererseits hat mich der Besuch der Diplomausstellung der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig vor ein paar Tagen enttäuscht. Der Nachwuchs dort lieferte praktisch eine Bestätigung für Schmids Thesen, doch diese einzelne Stichprobe lässt sich nicht verallgemeinern.

Schmid aber tut das: „Die Lage ist katastrophal“, resümiert er – wer das ohne Einschränkungen und ohne Lichtblick so sieht, will vielleicht auch deshalb keine Kunstzeitung mehr machen.

AugenBlick

kurz vor der Erfindung des Rads

Artists are fighting back

Wenn die so genannte Künstliche Intelligenz ein Kunstwerk produzieren soll, was immer man ihr als Inhalt dieses Begriffs einprogrammiert hat, wenn sie also ein Bild malen soll, kann sie schlecht einfach ein vorhandenes kopieren, denn das wäre bloß ein Plagiat. Also füttert man sie mit den Daten aller Werke einer Künstlerin, und die Maschine gestaltet daraus ein Werk im Stil der Vorbilder. Was natürlich Quatsch ist, denn wohl kein Künstler käme auf die Idee, mal ein Bild zu malen, das irgendwie so aussieht wie die Summe aller seiner bisherigen.

Vielleicht deshalb ist die „KI“-Industrie heute längst dabei, alles was an Bildern im Internet zu finden ist einzusammeln und damit die Algorithmen zu füttern. Aufgrund dieses Datenschatzes sollen dann richtige Kunstwerke entstehen, die die lebenden Künstlerinnen das Fürchten lehren. Nun ist das eher ein frommer Wunsch, denn dahinter steht keine schöpferische Leistung (wie bei den Vorbildern), sondern bloß eine – sicherlich staunenswerte – Rechenleistung. Die Ergebnisse lassen sich sicher gut auf der Kirmes verkaufen. Ja, das ist polemisch, ich weiß, dass die Kirmes heute Auktionshaus heißt.

Und ist es auch nicht intelligent, so hat es doch Methode: Mit dem populistischen Hype um „KI-Kunst“ lässt sich viel Geld verdienen. Das Problem ist aber, dass die verwendeten Vorbilder in der Regel urheberrechtlich geschützt sind, dass ihre Aneignung durch die Tech-Konzerne ohne Wissen, ohne Erlaubnis und ohne Vergütung der betroffenen Künstler geschieht.

Dagegen regt sich jetzt Widerstand: „Artists are fighting back“, schreibt Molly Crabapple auf ihrer Website mollycrabapple.com, „and people, it seems, are waking up.“ Die Malerin und Illustratorin hat mit anderen Künstler*innen eine Aktion gestartet, die Proteststimmen sammelt. Wer sich betroffen fühlt, kann sich auf http://hypebeast.com/2023/5/molly-crabapple-artificial-intelligence-art-petition informieren und findet einen Link zum Unterzeichnen. Das massenweise Abfischen von urheberrechtlich geschützten Bildern im Internet bezeichnet Crabapple als den größten Kunstraub der Geschichte.

Ist das nicht alles übertrieben, ist das Internet nicht ein Raum der Freiheit, von dem wir alle und auch die Künstlerinnen letztlich profitieren? Das ist ein frommer Wunsch, doch jeder, der seine Daten im Silicon Valley abgibt – und wer tut das nicht – weiß, dass die Realität anders ist. „Wir leben vielmehr unter kapitalistischen Bedingungen“, daran erinnert Naomi Klein in der Juni-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (S.55), daher werden die Menschen nicht freier, sondern eher freigestellt, das heißt, Maschinen übernehmen ihre Jobs. Und diese bekannte Tatsache gelte nun auch für Künstler*innen. Sie werden, meint Klein, sogar unter den ersten sein, die von Technologien vom Markt gedrängt werden. Nicht nur Grafiker, Werbefotografen und Gebrauchsillustratoren könnten durch KI ersetzt werden, auch die Position freier Künstler sieht sie in Gefahr. Deshalb: Seine Urheberrechte an den Daten sollte keiner kampflos preisgeben. Crabapple, wir kommen.

Kunst mit allen Sinnen

Wir sehen, was wir fühlen? Foto: Jürgen Röhrig

Das Surroundvideo „Tales of the Altersea“ der schwedischen Künstlerin Lap-See Lam, das gerade im Frankfurter „Portikus“ zu sehen ist, begeisterte die Kritikerin einer Tageszeitung: Die Arbeit, so lobte sie, sei „sinnlich erfahrbar“.
Tatsächlich? Ist das angesichts eines raumgreifenden Kunstwerks mit bewegten Bildern und Tönen überraschend? Was bedeutet es, wenn eigens erwähnt wird, dass die Sinne angesprochen sind? Offenbar leben wir in einer Gedankenkunstwelt.

Mangel an Sinnlichkeit in einer intellektualisierten Kunstproduktion wird auch von Künstler*innen selbst hin und wieder beklagt. Sonja Alhäuser zum Beispiel will diesem Mangel in ihrem Werk entschieden begegnen, beseelt von der Idee, dass Kunst sich ausschließlich über die Sinne vermittelt. Rirkrit Tiravanija kritisierte die „Art und Weise, Kunst vornehmlich mit dem Auge aufzunehmen, sie zu objektivieren und zu intellektualisieren“. Seine Kochperformances gelten als „Einbringen der sinnlichen Wahrnehmung in den Kunstkontext“, so die Formulierung der Freiburger Kunstwissenschaftlerin Mirja Straub.

Es ist leicht, letzterem zu widersprechen und dagegen zu halten, dass keine Malerei-Ausstellung, keine Performance und kein Konzert funktionieren, wenn das Publikum nicht mindestens Augen und Ohren aufsperrt. Ich werte diese etwas schräge Aussage aber als Symptom für ein tatsächliches Defizit. Es ist ja richtig, dass die Theorie seit Jahrhunderten einen körperlosen Geist des Menschen als Adressaten der Kunst proklamiert und das Gefühl, die Sinnlichkeit als untergeordnetes, ja sogar eher schädliches Phänomen abqualifiziert. Die philosophische Ästhetik ist bis heute nicht ganz frei von dieser Ideologie.

Nach ihren Grundsätzen arbeitet natürlich – mit vielleicht wenigen Ausnahmen – keine Künstlerin, und so ist es eigentlich nicht erstaunlich, wenn ihre Werke die Sinne ansprechen.

Ich möchte im Folgenden die verschiedenen menschlichen Sinne einmal benennen, ihre allgemeine Funktionsweise kurz skizzieren, um daraus abzuleiten, dass Wahrnehmung und Imagination eng zusammenhängen, woraus sich ergibt, dass Kunst nur über die Sinne verständlich wird.

Wovon sprechen wir, wenn es um „die Sinne“ des Menschen geht? So selbstverständlich, wie er meist benutzt wird, ist der Begriff durchaus nicht. Aristoteles kannte die klassischen Fünf: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Er übersah einige weitere, so den Gleichgewichtssinn und die „Propriozeption“, das ist die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers. Macht sieben. Manche Fachleute kommen gar auf zwölf: Zu den somatischen Sinnen zählen da Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man mit der inneren Stimme rechnet (siehe das Kapitel „Die Einheit von Wahrnehmen und Denken“ in diesem Blog).

Sinne verwandeln Reize der Außenwelt in Informationen. So registrieren die Augen Lichtwellen, und die entsprechenden Gehirnareale konstruieren aus den Signalen zum Beispiel den Eindruck von Farbe. Die Empfindung ist nicht völlig identisch mit den Daten der Netzhaut. Das Wort Konstruktion ist wichtig. Wie der Inhalt der Empfindung interpretiert wird, hängt zudem nicht allein von den aktuellen Wahrnehmungen ab, sondern auch vom gleichzeitig laufenden Abgleich mit bereits gespeicherten älteren Erfahrungen. Es ist also nicht so simpel, wie Sinne funktionieren. Doch hier liegt, wie ich meine, eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass wir ein Bild sehen, also sinnlich wahrnehmen, und doch nicht sehen können, weil bereits eine fertige Interpretation hinterlegt ist. Auch das ist eine Funktion unserer Wahrnehmung.
„Keinen Sinn für etwas zu haben“ ist eine Metapher, die hier zutrifft: Obwohl das Sinnesorgan funktioniert, sind wir möglicherweise nicht empfänglich für die Reize.

Der Sehsinn ist für die Kunstwahrnehmung mit Ausnahme des Musikerlebnisses sicher der wichtigste. Nicht ohne Grund zielt das „Sensorische Marketing“ unserer Konsumwirtschaft vor allem auf die Augen, mit denen die potentiellen Kunden 83 Prozent aller Informationen aufnehmen. Was in den Diskussionen kaum erwähnt wird: Auch beim Betrachten von Bildern, Plastiken oder Gebäuden ist nicht nur der Sehsinn angesprochen. Wir sehen aus einer Körperposition, von einem Standpunkt aus, und die Erfahrungen des Bewegungsinns (Kinästhetik), das taktilen Sinns und die erwähnte Propriozeption wirken mit. Wahrnehmen ist eine weitgehend unbewusste, aber komplexe Tätigkeit.

Dass trotzdem nicht alle Sinne gleichermaßen angesprochen werden von den Schöpfungen in den Ateliers, ist eine alte Klage, und als besonders benachteiligt gilt der Geruchssinn. Für die Nase wurde lange nichts gestaltet, dabei wecken auch Gerüche Gefühle und Erinnerungen, die Wahrnehmungen beeinflussen. In jüngster Zeit gab es mehrere Ausstellungen zum Thema Düfte in der Kunst: „Unsichtbare Skulpturen“ wurden da präsentiert, auch mit dem Anspruch, die vorherrschenden visuellen Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen.

Sinne beeinflussen sich gegenseitig, und ein Sinn kann einen anderen sogar ersetzen: Mittels „Echolokation“ schaffen es entsprechend geschulte Menschen, ihre Umgebung akustisch abzutasten. Sie erzeugen dazu Klicklaute (eine Technik, die auch Delfine verwenden). Der Echo-Sinn erzeugt eine mentale Repräsentation des Raums, die dann dem Sehsinn zugänglich ist: das innere Bild auf einem Umweg erzeugt. Die Einbildungskraft ist hier nicht freie Fantasie, sondern wirklichkeitsadäquat.

Dass Imagination eine Erkenntnisfunktion ist, untermauert auch ein Blick auf das Stichwort „Synästhesie“: Dabei geht es hier nicht um Spezialfälle, die Töne als Farben wahrnehmen oder ähnliches, sondern um die prinzipiell synästhetische Organisation der Wahrnehmung. Beim Hören eines Wortes zum Beispiel schwingen für die Interpretation des Signals visuelle, taktile und andere Assoziationen mit. Gefühle wiederum sind oft die Auslöser für synästhetische Phänomene: Seine Italiensehnsucht führte bei Heinrich Heine dazu, dass schon der Anblick der Alpen ihn „Zitronen- und Orangendüfte“ wahrnehmen ließ.

Es spricht also nichts dafür, dass die leiblichen Sinne dem Denken untergeordnet sind, im Gegenteil: Sinnlichkeit ermöglicht erst unser Denken. Angewendet auf das Betrachten von Kunstwerken sollte es daher zunächst um die einfachen Beobachtungen gehen. Wenn ich ganz bescheiden feststelle, was die Sinne aufnehmen an Farbe, Form, Material, Textur, Gerüchen, Tönen, ihren Bezügen und der Umgebung, erschließen sich wie von selbst Interpretationsansätze, während die Vor-Urteile erst einmal in den Hintergrund rücken. Der Vorgang ähnelt dem der sinnlichen Erfahrung generell, wie John Locke ihn beschrieben hat in seinem berühmten Essay „Über den menschlichen Verstand“: Alles im Geist kommt aus der Wahrnehmung der einfachen Ideen wie Ausdehnung, Festigkeit, Beweglichkeit, Dauer, Zahl und so fort. Diese durch die Sinne erzeugten Ideen sind real und keine Fiktion des Geistes, darauf bestand der Philosoph, denn der Geist könne einfache, ursprüngliche Ideen nicht selbst erzeugen. Der Verstand ist aber fähig, so Locke, aus den einfachen Ideen „nach Belieben neue komplexe Ideen bilden“. Hier haben wir das Fundament der Imagination, und Locke sah im 17. Jahrhundert auch bereits, was die Naturwissenschaft heute bestätigt: Wahrnehmungserfahrungen und -gewohnheiten prägen das Urteilsvermögen. Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik veröffentlichte 2022 Forschungsergebnisse, die Locke erfreut hätten: Er lag mit seiner Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung insgesamt richtig.

So ist auch die unmittelbare sinnliche Kunst-Erfahrung, wie oben beschrieben, am Ende nicht frei von den erlernten Vor-Urteilen, sondern selbstverständlich immer abhängig von den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Autors wie des Interpreten. Das ist nicht per se ein Nachteil, denn der jeweilige kulturelle Rahmen ist der Orientierungsrahmen, also hilfreich, wenn er das genaue Hinschauen nicht ersetzt.

Oder das Hören, Schmecken, Riechen: „Multisensorik“ gab es schon bei den Futuristen, die an „performativen Abenden“ zu Musik und Duftereignissen einen verzehrbaren „Flugzeugrumpf“ präsentierten – er bestand aus Kalbfleisch. Dieses Thema zieht sich durch die Kunstgeschichte bis in die Gegenwart, siehe Alhäuser, Tiravanija oder auch Daniel Spoerri. Wenn es auch immer um die Sinne geht in der Kunst, werden sie doch nicht immer als solche thematisiert. Eine der seltenen Arbeiten, die sich mit dem Phänomen der Sinnes-Substitution befasst, ist „Einton-Musik außerhalb (oberhalb) des menschlichen Hörbereichs“ von Timm Ulrichs. Der Titel der Installation von 1969/70 erklärt, was auf dem Oszillographen in diesem technischen Ensemble zu sehen ist: das bewegte Bild dessen, was erklingt, aber für Menschen nicht hörbar ist.
In dieses Kapitel gehört auch das außergewöhnliche Werk des (nicht von Geburt an) blinden Fotografen Evgen Bavčar. Er läßt sich seine Bilder mit Worten beschreiben, um ein innere Vorstellung entwickeln zu können. „Ich brauche den Blick des anderen, damit die Bilder in mir erweckt werden.“ Das verweist auf den sozialen Gebrauch der Sinne, auf das Sinn(en)-Angebot von Kunst generell: Zeigen lenkt den Blick, steuert die Aufmerksamkeit des anderen.

Es gibt also etliche Ansätze, die an dem eingangs beklagten Defizit an Sinnlichkeit in der Kunst nicht leiden. Viele Künstler*innen würden es von sich weisen, da Nachholbedarf zu haben. Wer nicht gerade strenge Konzeptkunst macht und sein Angebot auf die Sensation einer Schrifttafel reduziert, kommt an den Sinnen – wie beschrieben – ja gar nicht vorbei.

Es bleibt aber festzuhalten, dass die Kulturkritik seit mehr als hundert Jahren das Thema Defizit ebenso hartnäckig wie nahezu ergebnislos verfolgt. Die Reformpädagogik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wollte „dem Kinde feinere Augen und Ohren geben“. Da freute sich das Militär. In den 1970er Jahren griff die „ästhetische Erziehung“ diese Ansätze unter dem Stichwort „Kultur der Sinne“ wieder auf. Im Schulalltag kam davon kaum etwas an.
Susan Sontag forderte bereits in den 1960er Jahren genau das, was heute immer noch gefordert wird: die Sinne erweitern, ja sie gar erst einmal wiedererlangen. „Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen“, heißt es in „Kunst und Antikunst“. Aber Sontag war auch klar, dass die Künstlerschaft da bereits vorangegangen war, die ihre Mittel „radikal erweitert“, neue Formen des Erlebens entwickelt hatte – als „selbstbewußte Ästhetiker“. Und ganz aktuell ist die Forderung nach einer „neuen Kultur der Leiblichkeit und der Sinne“ wieder da: In seiner Dankesrede zur Verleihung des Erich-Fromm-Preises plädierte der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs im März 2023 für genau das, was da seit Generationen gepredigt wird.

Er hat ja Recht, im Prinzip, nur ist es eben nichts Neues. Woher kommt dieser immerwährende Refrain, warum bleibt das Problem, was steckt dahinter? Bei Fuchs ist es die durch die Debatte um so genannte „Künstliche Intelligenz“ und dem leibfeindlichen Denken befeuerte Sorge um den Menschen, die ihn das Thema aktualisieren lässt.
Doch wahrscheinlich greift Kulturkritik hier generell zu kurz, wie immer, wenn sie sich auf Ästhetisches beschränkt, sich also nur auf den „Überbau“ bezieht. Dass hinter den ästhetischen Problemen handfeste gesellschaftlich-ökonomische stehen, wird entweder ausgeblendet oder, wenn kritisch-theoretisch benannt, nicht mit Praxis verbunden.
Sontag sah die Ursache für eine „massive Betäubung der Sinne“ in der industriellen Wirklichkeit und die Kunst als „Schocktherapie“ dagegen. Jahrzehnte später hielt es Oskar Negt für unerträglich, dass die „arbeitsteilige Spezialisierung unserer Sinne“ die Erfahrungen und das Wissen, Bild und Begriff auseinanderreiße. Vielfach folgte politisch nichts aus den kritischen Analysen – die Strukturen zeigten sich verfestigt.

Trotzdem kann jeder, Künstler*in wie Rezipient*in, die Vielfalt seiner Sinne wirken lassen, so wie es ja auch geschieht im alltäglichen Gebrauch, in der aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomen. Die Sinne zu schärfen, zu erweitern und damit für Neues zu öffnen, das kann sinnvoll sein, solange es nicht in aufgeregtes Selbstoptimierungstraining mündet. Es mangelt in unserer Umwelt ja nicht an möglichen Eindrücken – bis zur Überforderung.

Wenn wir einem Kunstwerk attestieren, es habe unsere Sinne angesprochen, dann meint das wohl eigentlich: Es hat Emotionen in Gang gesetzt, die auf andere Weise nicht berührt wurden, es hat im besten Fall unseren Blick auf die Welt ein wenig verändert. Das könnte ein Anspruch an gute Kunst sein.

Dieses Thema steht zur Diskussion bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Siegburg am Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr. https://events.siegburg.de/Veranstaltungen/Ist-Kunst-nur-fuer-die-Augen-da.html

Kunst ist nahrhaft

Im Titel der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ in der Siegburger Stadtbibliothek steht das „Brot“ konkret für die materielle Existenzgrundlage wie bildlich für die geistige Nahrung. Die Kunst soll in keiner Hinsicht brotlos sein. Das Thema hat Künstler*innen durch die Jahrhunderte immer wieder fasziniert und angeregt. Wenn man sich anschaut, was sie da alles mit Nahrungsmitteln angestellt haben, darf man staunen. Ob sich auch Appetit oder gar Ekel einstellt, hängt wie üblich auch vom Geschmack des Betrachters ab.

Stillleben mit Früchten, Jagdstrecken oder kompletten Vorratskammern sind seit der Antike bekannt und beliebte Motive. Nahrungsmittel tauchen in Bildern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Bedeutungen auf. Im 20. Jahrhundert benutzten immer mehr Künstler*innen Lebensmittel aber nicht mehr nur als Motiv, sondern auch als Material für ihre Werke. So Marcel Duchamp in den 1930er Jahren, als er in einem surrealistischen Environment Kaffeebohnen röstete, um eine Duftnote zu setzen. Es trifft aber nicht zu, dass künstlerische Zweckverfremdung von Lebensmitteln erst in der Moderne erfunden wurde. Der Künstlerbiograf Giorgio Vasari schilderte im 16. Jahrhundert Feste, bei denen die teilnehmenden Maler und Bildhauer sich überboten mit Objekten, die anschließend gegessen wurden: Architekturen aus Würsten und Käse, Figuren aus Geflügel, Bücher aus Lasagne – ein Gang kurioser als der andere.

Solche Vorbilder werden lebendig, wenn man zum Beispiel Videos von Sonja Alhäusers Performances und Publikumsevents anschaut: Der Mann, der langsam in ein Bad von geschmolzener Schokolade taucht und braunglänzend überzogen und triefend wieder auftaucht, hätte in ein Renaissance-Künstlerfest ebenso gepasst wie der figürliche Brunnen aus Margarine, aus dem Rotwein fließt.

Als Spielmaterial in einer Performance werden Lebensmittel hin und wieder verwendet, vor allem sind sie heute aber nach wie vor Bildmotiv und Gestaltungsmaterial. Aus dem großen Vorrat sollen hier einige Appetithappen gereicht werden.

Nahrungsmittel als Motiv: Auch in diesem tradierten Genre hat die Fotografie als Technik an Bedeutung gewonnen. Die Inszenierungen sind oft sehr witzig, offenbar beflügelt gerade das Alltagsmaterial den Humor. Anna Blumes Kampf mit den fliegenden Kartoffeln in der Kleinbürgerküche sind ein Klassiker. Politische Satire gestalteten Siglinde Kallnbach mit verschimmelten Würstchen und Klaus Staeck mit einer angefaulten Birne. Ute Bartel fotografierte Wurstscheiben und montierte sie zu Ornamenten.

Petra Weifenbachs Konzept schafft die Verbindung von der Kategorie Bildmotiv zur Kategorie Bildmaterial: Aus ihren Fotos von Geflügel, Tortenstücken und anderen Leckerbissen baut sie papierene Braten oder Kuchen – ein Dreierschritt vom Lebensmittel über das Bild zum Objekt.

Das Thema Nahrungsmittel als Material hat wie geschildert auch eine lange Vorgeschichte. Seit die Futuristen „Flugzeugrümpfe“ aus Kalbfleisch verspeisten, hat sich das Essen mit Publikum als Kunstevent gehalten. Alison Knowles Auftritt mit „Make a Salad“ von 1964 war wohl die erste Salatzubereitung als Fluxus-Performance. „Eat Art“ praktizierte nicht nur Sonja Alhäuser, als Erfinder dieser Variante gilt Daniel Spoerri, der nach den Events mit Gästen die abgegessenen Tafeln zu „Fallenbildern“ machte. Alles, was noch auf dem Tisch war, wurde fixiert und als Tafelbild an die Wand gebracht. Das gemeinsame Kochen und Essen steht auch im Mittelpunkt der Kunst von Rirkrit Tiravanija. Bei all diesen und ähnlichen lukullischen Aktionen ist der Übergang zum normalen Restauranterlebnis oder der privaten Feier fließend. Kochkunst eben.

Das Material künstlerisch zu verwenden, heißt es verwandeln: Ute Bartel präsentiert Kartoffelschalen als Liniengebilde, Ilse Wegmann Objekte und Rauminstallationen mit Mehl oder Zuckerwürfeln, und sie verwendet nicht zuletzt das hier titelgebende Brot. Wenn auf einem Bild von Dieter Roth die Sonne untergeht, ist es eine fette Scheibe Salami, ziemlich vergammelt. Und seine Objekte aus Schokolade sehen auch nicht mehr appetitlich aus. Bei Roth geht es immer um den Prozess – des Verwesens in diesem Fall. Im Werk von Joseph Beuys sind Lebensmittel wie Honig, Fett oder die „1a gebratene Fischgräte“ symbolhafte Details aus seinem umfassenden Verweisungszusammenhang, in dem körperliche und geistige Nahrung eng verbunden sind.

Abschließend tut ein Schnaps, gereicht von Ben Vautier, sicher gut: „Drink to forget art“ ist sein Text zur Flasche – was an ein weiteres Motiv in der Kunst gemahnt. In Karel van Manders Lebensbeschreibungen niederländischer und deutscher Künstler erscheint der Alkohol außer als darstellbarer Gegenstand auch als Stimulans der Maler, sowie als ihre ernsthafte Gefährdung nach dem Motto „hoe schilder hoe wilder“.

Als roter Faden in dieser Geschichte heterogener Elemente zeigt sich der enge Zusammenhang von Ästhetik und Nahrung. Der bildliche Sprachgebrauch von „geistiger Nahrung“, von sinnlichen Eindrücken, die man „verdauen“ muss, von Kreativität als Prozess des Stoffwechsels lässt sich über Jahrhunderte zurück verfolgen und endet nicht mit dem Künstler-Statement „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“ (Beuys). Wenn Kunstwerke tatsächlich oder im übertragenen Sinn verspeist werden gilt die Erkenntnis: Kunst ist Brot.

https://events.siegburg.de/Veranstaltungen/Kunst-muss-nicht-brotlos-sein.html

Heine und die Geisterbahn

Während seiner Wanderung durchs Gebirg im Jahr 1824 hat der Protagonist in Heinrich Heines Erzählung „Die Harzreise“ einen Traum: Als Ritter steigt er in einen tiefen Brunnen, der in ein unergründliches Bergwerk führt, in dem allerhand Ungeheuer auf den Besucher einstürmen. Ungetüme greifen mit Krallen nach ihm, zornigen Zwergen und weißen Gespenstern muß er sich erwehren, bis er seine „Herzgeliebte“ findet und das ewige Licht erstrahlt.

Diese romantische Urszene ist aktuell wieder nachgebildet in einem Video des chinesischen Künstlers Lu Yang, dessen Werke jetzt die Kunsthalle Basel zeigt. Yangs Zeichentrickfilm „Hell“ von 2022 (zu sehen bei Youtube) zeigt in einer Videospielästhetik die Wanderung eines Helden, Heines Ritter vergleichbar, der sich in einem kunterbunten Höhlenlabyrinth aller möglichen Monster und Untoten erwehren muss, bis er das strahlend weiße Licht findet. Nur die Dame fehlt – sie ist wohl auch schon tot.

Was hier an die Kirmesattraktion Geisterbahn erinnert und erzählerisch unbedarft auftritt, wird im Begleittext der Kunsthalle unter Aufbietung zahlreicher Superlative überhöht. Es gehe in den Arbeiten von Yang um die grundlegenden Fragen des Menschseins, wie die „Ursprünge des Bewusstseins“, wird suggeriert, und es werden Bezüge zu Philosophien und Kosmologien hergestellt, ohne dass dies jemals konkret wird. Der nahe liegende Bezug zur Romantik indes wird nicht erwähnt – vielleicht aus Furcht vor Heinescher Ironie? Dieser nicht genannte Ideenlieferant hätte die banalen Szenen von Yang nur lächerlich gemacht.

In einem Video-Raum der Ausstellung, so der Baseler Text, „strotzt das Ensemble geradezu vor Sinnesreizen und zieht Betrachtende in einen Zuckerrausch aus pulsierenden Farben und Musik“, zu der makabre Gestalten „tanzen, kämpfen und uns in alternative Realitäten entführen“. Realitäten? Fiktivitäten wohl eher. Und darin waren die Romantiker besser. Das Kopfkino, das Autoren wie ETA Hoffmann, Novalis, Tieck und später besagter Heine in Gang setzen konnten, war um vieles intelligenter und spannender als der Zuckerrausch aus der CGI-Werkstatt (Computer Generated Imagery) und bot auch den Sinnen deutlich mehr. Warum ist das überhaupt von Belang? Weil im Text und im Subtext der steilen Thesen der zitierten Kuratoren immer die nun auch schon alte Mär von den ganz neuen Dimensionen, des Eigenlebens der Elektronik und der Überbietung des Humanen herumgeistert. Der Grund dafür ist, dass dieses Genre von Kunst nur so verkauft werden kann. Gerade weil die Performance so schwach ist.

Die menschlichen Möglichkeiten von Imagination und Kreativität sind aber größer als das, was Lu Yang zeigt. Sie entwickeln sich weiter, und das schneller als die Technik, auch wenn diese Quantensprünge macht. Denn schließlich waren die Menschen in ihren Phantasien den real existierenden Apparaten schon immer voraus.

kunsthallebasel.ch

In Bunt und in Farbe

Karl-Theo Stammer: o.T., Linolschnitt

Aus Karl-Theo Stammers überaus umfangreichem Werk gibt es jetzt vom Künstler ausgewählte Beispiele in Nümbrecht im „Haus der Kunst“ zu sehen. „Liniengebilde“ hätte man die Schau überschreiben können. Das weist darauf hin, dass Stammer nichts abbildet – es sei denn Linien. Aber das, was er in der Welt an Lineaturen aufnimmt, ist ihm Anregung, um daraus Eigenes zu machen. Stammer ist ein Virtuose darin, ständig neue Strategien zu entwickeln, zeichnerische Strategien mit unorthodoxem Materialeinsatz, aus denen sich immer neue und nie gesehene Liniengebilde ergeben.

1951 im Rheinland, in Sinzig, geboren, lernte Karl-Theo Stammer schon als Kind Südtirol kennen, was biografisch deshalb von Belang ist, weil er seitdem zwei Heimaten hat: außer Bonn, wo er meistens lebt, ist das Bruneck im Pustertal. Und so ist sein künstlerischer Werdegang eng mit beiden Regionen verbunden: In Köln hat er Kunst formal studiert, in den Alpen hat er seine eigenen Studien betrieben.

Und das oft per Fahrrad. Stammer zieht seine Linien gerne im Gelände, Skizzenblock und Fotokamera im leichten Handgepäck. Er hat mir einmal von einer Tour von Bruneck nach Wien erzählt. Start um Mitternacht, 500 Kilometer in 14 Stunden – und nicht immer geht es bergab. Es wäre Stoff für eine Künstlerlegende, aber auch diese hätte einen wahren Kern: Was der Theo macht, macht er intensiv, voller Begeisterung und mit sportlichem Elan.

Deshalb fehlt die Kunde vom Rennrad fahrenden Künstler auch in keinem Katalogtext, den beeindruckte Kunst-Fachleute wie Dieter Ronte, Pauline Liesen oder Frank Seidel zu Stammers Werk geschrieben haben. Und das ist nicht das einzige Motiv aus der Künstlervita, das wie ein Refrain immer wieder auftaucht: Die anderen beiden sind Stammers Liebe zur klassischen Musik und sein Faible für den 1. FC Köln.

Stichwort intensiv: 2020, zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, entstand das umfangreiche Künstlerbuch „In the mood of Ludwig van“. Dazu tippte Stammer 250 Typografie-Zeichnungen mit einer alten mechanischen Schreibmaschine auf DIN-A-4-Blätter. Zum 500. Geburtstag wird das keiner mehr machen. Aber mehr als 500 Fotos aus Bruneck versammelte Stammer in seiner Bilder-Hommage an die zweite Heimat – ein Foliant. Und schließlich der Fußballverein: Auch ihm widmete der Künstler Bilder.

Energie und handwerkliche Disziplin darf man Karl-Theo Stammer nachsagen, sein Bewegungsdrang mündet in Schaffensdrang, seine Entdeckerfreude ist mit Lust am Spiel, am bildnerischen Spiel verbunden. „Nagelscherenschnitte“ wäre eine durchaus zutreffende Bezeichnung für die Technik der abstrakt ornamentalen Werke, die Stammer zwischen zwei Gläsern, also von beiden Seiten sichtbar präsentiert. Das wäre dann ein weiteres Erzählmotiv, das Katalogautoren lieben: Der Künstler schneidet die kleinen freien Flächen zwischen Linien von Bleistiftzeichnungen säuberlich mit der Nagelschere aus und erzeugt so lichtdurchwirkte filigrane Liniengebilde, die an die orientalischen Fensterschirme, die Maschrabiyya erinnern, die mit ihren geometrischen Ornamenten das Licht auf bestimmte Weise erscheinen lassen. Bei Stammer haben wir es indes mit frei aus der Hand gezeichneten organischen Formen zu tun, die mit der Schere freigelegt sind. Zitat: „Ich bin ein fanatischer Schneider“.

Damit sind wir bei der Technik des Linolschnitts, der sich Stammer ebenfalls eingehend gewidmet hat. Oft ist die freie Zeichnung mit farbigen Flächen konfrontiert. Der Dialog von strenger Form und lebendiger Linie ist hier das Thema, neben der Farbe – die hier noch regelrecht gebändigt wird, während sie in anderen Arbeiten förmlich explodiert: Bunte Liniencluster zeigen die neuesten Arbeiten, Zeichnungen mit Ölpastell von diesem Jahr 2023. „Dialog in Bunt und in Farbe“ hat Stammer diese Ausstellung wie eines seiner Bücher betitelt; es geht um die Übersteigerung von bunt.

Die Zeichnungen hier wirken wie gekonnte Mischungen aus Zufall und Absicht. Und die kalkulierte Mitwirkung des Zufalls zeigt sich oft in den verschiedenen Werkgruppen. Der Künstler experimentiert mit dem Material, zeichnet mit gebündelten Farbstiften, nutzt die Konturen irgendwelcher Gegenstände, Pappreste oder die freie Hand als Schablonen. Oder er unterlegt sein Zeichenblatt mit anderem Material, um Frottage-Effekte mit aufzunehmen: Linien-Gewebe und Flächenmuster in Variation.

„Er konnte schon in frühester Jugend einen perfekten Kreis zeichnen“, auch das ist ein beliebtes Versatzstück in historischen Künstlerlegenden. Aber was ist unpersönlicher als ein perfekter Kreis? Zugegeben, am Rennrad ist er wichtig. Aber nicht in der Kunst: „Mich fasziniert die Sinnlichkeit der Linien, ich will etwas ausdrücken“ hat Stammer mir bereits 2006 in den Block diktiert. Die großen Blätter mit Rötel und Kohle erfüllen diesen Anspruch. Allein angesichts der vielen sinnlichen, lebendigen und ausdrucksstarken Kreise und Kreissegmente in dieser Ausstellung lässt sich erahnen, was das Glück des Zeichners ist: Sehend Linien ziehen mit der Hand, immer andere, immer neue. Bis das Bild stimmt und das nächste beginnen kann.

kt-stammer.de

Die Ausstellung des Kunstvereins Nümbrecht wird am 5. März um 15 Uhr eröffnet und ist bis zum 26. März zu sehen.

Lesarten der Linie

aus dem verzweig“ nennt Sonja Karle ihr jüngstes Künstlerbuch, ein poetisch klingender Titel, der zugleich programmatisch zu verstehen ist. Denn Verzweigungen, Verbindungen, Korrespondenzen sind hier sowohl in den Motiven der Fotos und Zeichnungen, als auch in den Formen der heterogenen Bildelemente, schließlich auch in deren vielfältigen Kombinationen zu entdecken.

22 Doppelseiten – jede Einzelseite misst 21 x 21 cm – umfasst das gebundene Werk. 22 Mal stehen sich ein Foto und eine Hand-Zeichnung gegenüber. Dazu kommen mathematische Symbole, vom einfachen Punkt bis zum Wurzel- oder Summenzeichen, die in die Bilder geschoben oder frei daneben platziert sind. Sonja Karle fasst sie formal auf, dreht, spiegelt, variiert sie. Die konventionelle Bedeutung der Symbole – zum Beispiel das für Unendlichkeit – spricht mit, ist aber nur eine Variante.

Wir haben es also mit drei Bildarten, drei unterschiedlichen Lesarten und deren Logiken zu tun, die die Künstlerin verbindet – miteinander, nebeneinander, gegeneinander. Wörtlich genommen ist das Spiel mit den Zweigen in den Fotos von meist winterlich unbelaubten Bäumen, die Sonja Karle als Zeichnungen aus der Natur inszeniert. Was sie bei Wald- und Obstbäumen an Lineaturen entdeckt und ins Licht oder in den Schatten rückt – die Effekte von Sonnenstrahlen auf Wassertropfen im Verzweig inbegriffen -, ist für sich schon sehenswert. Überfrorene Brombeerranken, abgestorbene Fichten, filigrane Hainbuchen und vieles mehr – was der Spaziergänger kennt, aber so doch noch nicht betrachtet hat: Zweige, die die Form mathematischer Symbole haben; Ästegewirr, das sich unter dem Einfluss der benachbarten Zeichnung als ungekämmter Haarschopf sehen lässt; der gebogene Rücken, den auch die Fichte andeutet.

Thema der filigranen Zeichnungen sind Figuren-Metamorphosen. Aus einer einzigen Linie entwickeln sich menschliche wie tierische Formen, aus abstrakten Verzweigungen wachsen Körper. Merkwürdige Wesen, die sich offenbar noch entwickeln wollen – doch zu was? Das Ineinander von freier Form und Zeichen für Lebewesen jedenfalls spiegelt hier nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich unsere Sichtweise auf die Natur, die – mindestens seit der Romantik – immer ästhetisierend ist.

Das Konzept von „aus dem verzweig“ zeigt drei Arten der Verknüpfung der Bildkategorien: die Linienformen ähneln sich, die Formen der Symbole finden sich auch in der Botanik, beides wie beschrieben, und außerdem verbindet Sonja Karle in einigen Fällen durch die grafischen Symbole die beiden Hälften der Doppelseite. Eine Verschmelzung findet indes nicht statt, die Spannung des Heterogenen bleibt immer erhalten und fordert den Betrachter heraus.

Visuelles Denken in Reinform führt die Künstlerin uns vor. Was ihr sensibles Auge entdeckt hat, verzweigt sich in eine kaum überschaubare Vielfalt der Bildaspekte. Beim Durchblättern dieses Buchs, vor und zurück, komme ich an kein Ende. Hier gibt es immer wieder etwas zu entdecken und zu bedenken.

sonjakarle.eu

Abbildungen „aus dem verzweig“ von Sonja Karle, 2022

Nur Lektüre schafft Honig

Jürgen Röhrig: Buchobjekt „Einbahnstraße“, 2023

Und was zu einer Flucht zählte, schießt ohne Ende vom Terrain.
Aller Ritus hängt vielmehr beim Leben so schon rings.
Tiere vermögen längst abschüssige Ironie oder Luft zu züchtigen.
Wie Luxuswaren empfangen Damen mitten in der Konstruktion einen Federhalter.
Keiner vermag mit Eingebung Gehalt zu vernichten.
Bücher machen jede Dichtigkeit zum Obelisk.
Nur Lektüre schafft Honig.
Sein Jäger hilft dabei zu jeder Zukunft.
Ich streitend mit zehn Epigonen.
Laut aber ritterlich erscheinen dem Innern nur Nachthimmel.
Blick mit Streifen legt eine Stadt auf Zuckersäcke.
Auf Teller stellt der naive Mann seine Augen.
Dies gibt den Blättchen verhexte Schriftzüge.
Wenn Astern freundlich hervorbrechen, ist der Jahre kaum zu wissen.
Noch drei Minuten verkriechen.
So eingekauft sind Schatten Vorzeichen von allem Taumel.

(Die besten 120 Worte aus Walter Benjamin: Einbahnstraße. Von jeder Druckseite eines, in der Reihenfolge der Seiten. Man soll ja nichts umkommen lassen.)

Weg im Netz

Blick in die digitale WEG-Welt. Grafik: Matthijs Muller

Die analoge Ausstellung „WEG“ der Gruppe Acht in der Kulturwerkstatt Kircheib endete mit der Präsentation des digitalen Auftritts: Die Website weg.works ist nicht nur Dokumentation eines künstlerischen Gemeinschaftsprojekts mit individuellen Beiträgen, vielmehr ein weiteres eigenständiges Werk und eine neue Dimension von „WEG“. Matthijs Muller von den „Acht“ und Martin Zepter von der Kulturwerkstatt haben die Seite entwickelt. Spielerisch kann der Nutzer in die Welt von „WEG“ eintauchen und Fotos, Filme und Texte zu den beteiligten Künstlern und deren Arbeiten entdecken.

Wozu brauchen wir Kunst?

Braucht der Mensch Kunst zum Leben – oder ist das ein Luxus, auf den sich genauso gut verzichten lässt? Ein Grundnahrungsmittel ist das Picasso-Poster an der Wand natürlich nicht. Doch wir wissen aus der empirischen Forschung wie aus eigener Erfahrung, dass die ästhetische Funktion beim Menschen immer eingeschaltet ist: Wer atmet, der hört auch Klänge und sieht Bilder. Und beurteilt die Welt unter anderem mit Hilfe von Formen und Farben. Das ist überlebenswichtig.

Ästhetik als Wahrnehmung (biologisch-psychologischer Faden) und die Ästhetik der Kunst (philosophischer Faden) sind zwar nicht dasselbe, aber untrennbar miteinander verwoben. Wer ein Werk erschafft oder es betrachtet, der braucht die grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung, um darauf aufzubauen und die Ästhetik zu entwickeln, zu verfeinern.

Gehören Kunsterfahrungen also unverzichtbar zum Leben? Zum Überleben, wie gesagt, generell wohl kaum – für viele Künstler allerdings doch. Die Eingangsfrage lässt sich nun aber anders stellen: Sind ästhetische Erfahrungen allgemein unverzichtbar für ein gelingendes Leben? Das bejaht in der Tat eine ganze Reihe von Philosophen. Kunst verstehen sie eng verbunden mit Ethik. Die nächste Frage ist unvermeidlich: Was ist ein gelingendes Leben?

Die konkrete Antwort darauf kann nur jeder für sich selbst geben. Wilhelm Schmid, einer der besagten Philosophen, hat Bestseller zu dem Thema geschrieben – die Frage ist durchaus populär. Kurz gefasst: Für gelingend hält Schmid ein Leben dann, wenn es bejahenswert ist, und in seiner ethischen Perspektive bedeutet das einen Zusammenhang von individuellem Glück und sozialer Verantwortung. Wer lebt, gestaltet – „Ästhetik der Existenz“ ist das von Michel Foucault übernommene Stichwort, das einen schöpferischen Umgang mit sich selbst bedeutet. Es gibt die Verantwortung zur kreativen Lebensführung. Ob jeder die Chance hat, sie wahrzunehmen, und wie das auf eine gesunde Weise durchführbar ist – Scheitern ist ja im ästhetischen Wettbewerb nichts Seltenes -, das sind andere Fragen. Schmid jedenfalls geht soweit zu sagen, Ethik lasse sich nur auf Ästhetik begründen – „auf was sonst?“

Damit sind wir noch nicht bei der Kunst angekommen, denn „Ästhetik der Existenz“ beinhaltet – und wohl zum allergrößten Teil – auch Alltagsästhetik. Zu einem bejahenswerten Leben gehören für sehr viele Menschen beispielsweise das schicke Auto, die hippen Klamotten, Selbstdarstellung im Internet, Tätowierungen und andere Gestaltungsversuche am lebenden Objekt. Unverzichtbare Ästhetik, die Umfrageergebnisse dazu lassen sich leicht vorhersagen.

Und dazu noch ein schönes Ambiente, Fotos an der Wand und womöglich ein Kunstwerk. Bücher auf dem Coffeetable, selbstverständlich Musik-Konserven oder das eigene Instrument, Heimkino – alles Standard in unserer Gesellschaft. Also nicht leicht verzichtbar.

Und wenn wir jetzt enger fokussieren, dann sehen oder hören wir Inhalte von Kunst: Christos verpackten Reichstag, einen Roman von einer angesagten Berliner Autorin, Beethovens Klavier-Trios… Da kommt die Ethik der Ästhetik noch ganz anders ins Spiel. Oder die Ästhetik der Ethik. Aber wie hängt beides zusammen? Was ist bestimmend? Steckt am Ende hinter diesen abstrakten Begriffen doch völlig Verschiedenes?

Kunst wurde von jeher in den Dienst der Moral gestellt. In der Moderne hat sich das radikal geändert, in autonomer Kunst sollte Moral keine Rolle mehr spielen. Aber beide Traditionen existieren weiterhin nebeneinander: Martha Nussbaum möchte ethische Inhalte über Erzählungen vermitteln und hält solche Erfahrungen für unverzichtbar für ein gelingendes Leben. Andere, wie Elisabeth Lenk, bestehen darauf, dass Literatur frei von jeglicher moralischer Verantwortung ist; für sie ist sie gerade das Feld vor jeder Ethik.

Der „Ethical Turn“, den die Philosophin Nussbaum anregte, setzt auf eine narrative Ethik, also darauf, dass literarische Erzählungen Leser für ethisch-moralische Inhalte und Werte sensibilisieren können. Befürworter dieser Richtung sehen positive Einflüsse der Kunst: Bessere Wahrnehmung, Anstöße zu Kreativität, Förderung von Empathie und gar Solidarität in ethischen Konflikten. Kritiker dagegen beklagen eine unangemessene Moralisierung der Kunst, die zudem in ihrer Wirkung auf die Rezipienten und ihr Leben überbewertet werde. Es sei nichts gewonnen, wenn man beiden Sphären, der Ästhetik wie der Ethik, ihre Autonomie raube.

Diese Auffassung will nicht zurück zu einer Kunst, die volkserzieherisch und didaktisch vorging, um eine bestimmte Moral und damit Lebensweise zu forcieren. Ein Extrembeispiel wären die Märchen-Fassungen der Gebrüder Grimm, die im 19. Jahrhundert „moralische Gewalt ausüben“ sollten, wie Lenk es formulierte. In ihren Augen ein Missbrauch des „poetischen Bewusstseins“, das einer Sphäre angehöre, „zu der die Moral keinen Zugang hat“. Autonome Literatur habe ihren Sinn darin, Regeln der Gesellschaft außer Kraft setzen zu können, nicht darin, sie einzuüben. Diese Auffassung der 80er Jahre wird bis heute vertreten. Die moralische Bedeutung ästhetischer Erfahrung liege gerade in der Chance, sich von Verbindlichkeiten der Lebensführung zu distanzieren, so der Philosoph Marcus Düwell in einem aktuellen Beitrag zum Thema.

Die Literaturwissenschaftlerin Ingrid Vendrell Ferran schreibt in „Die Vielfalt der Erkenntnis“, zur „existentiellen Dimension der ästhetischen Erfahrung“ gehöre, dass sie die „Integration und Harmonie des Selbst“, die „Verfeinerung der Wahrnehmung“ und die „Entwicklung der Imagination“ fördere. Ebenso „mentale Gesundheit und Gefühle der Sympathie für andere Menschen“.

Eine weit reichende Behauptung, die die These von der Unverzichtbarkeit der Kunst-Ästhetik für ein gelungenes Leben stützt. Vendrell bezieht sich dann auf Nussbaum, die die „Frage nach der Lebensführung“ nicht durch „moralische Normen“, sondern durch ein „empathisches  Imaginieren“ beantworten wolle. Vendrell meint, „literarische Vergegenwärtigungen“ vermitteln „ethische Werterkenntnis“. Nussbaum spreche „von Literatur als optischem Instrument“ – mit Poesie sieht man besser.

Hier wie meistens in ihrem Buch bezieht sich die Autorin auf das, was Literatur inhaltlich mitteilen kann. Zu der Vielfalt der Erkenntnis gehöre aber unbedingt auch, dass Kunst nicht allein den Erwerb von sachlichem Wissen ermögliche, sondern auch emotionale und atmosphärische Eindrücke. Zum Beispiel ermögliche ein Farberlebnis Erkenntnisse, die nicht ersetzbar sind durch theoretisches Wissen. Dieses „erlebnishafte Wissen“, das nicht in Sprache 1:1 übersetzbar ist, wäre dann die Sphäre der Musik, der (abstrakten) Malerei, der Performance in ihrer bildhaften Funktion etc.  Daraus könne nichts Geringeres erwachsen als „eine Revision, Umgestaltung, Verwandlung oder Erweiterung unserer elementaren Formen des Weltbezugs“.

Es ist richtig, meine ich, dass reine Inhaltsästhetik nicht der Mittelpunkt der Überlegungen sein kann. Ästhetische Erfahrungen sind immer auch formale Erfahrungen, Wahrnehmungen von Mustern und deren Störung; und die Ethik einer abstrakten Malerei ist etwas ganz anderes als die einer Hebelschen Kalendergeschichte.

Was haben wir nun praktisch von diesen Überlegungen? Wenn es gut geht, Gedankenanregungen und Argumente dafür, dass die Kunst uns etwas fürs Leben bieten kann, dass ästhetischer Genuss unser je eigener Freiraum ist, in dem wir unseren Geschmack entdecken und ihm nachgehen können. Damit bewegen wir uns bereits wieder auf dem Pfad der Ethik, denn schmeckend unterscheiden wir richtig und falsch intuitiv. Und weiter gehend erreichen wir dann das Geschmacksurteil, da treffen wir Immanuel Kant: Ästhetische Reflexion ist das Zusammenspiel von Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft. Die Moral des Kategorischen Imperativs gilt für die Kunst allerdings nicht, denn kein Werk muss kompatibel mit einer allgemeinen Regel sein. Wenn Kunst eine Moral in Frage stellt, ist das nicht unethisch.

Kunst darf sperrig und schwierig sein. Sie muss nicht schön und erbaulich sein. Auch diese ästhetische Erfahrung bietet vielfältige Möglichkeiten, sie fürs (gelingende) Leben zu nutzen.

„Wozu Kunst?“ Das ist Thema eines Diskussionsabends im Rahmen der Reihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg.

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WEG: Johannes Quint

Bekenntnis zum „Windschiefen“

Der Videokünstler und Musiktheoretiker Johannes Quint bereichert als Gast der Künstlergruppe Acht die Ausstellung WEG. Die neueste Arbeit, die er zeigt, ist das Video „Heaven“ von 2022. Dazu hier ein Interview.

artigart: Wir sehen und hören in dem Video „Heaven“ eine Art Zeichentrickfilm mit vielen parallel verlaufenden Spuren: instrumentale Klänge, Schriften in drei Sprachen, gesprochener Text, Gesang, auf der visuellen Ebene verschiedene Bild- und Textfenster, geometrische Elemente, Fotos, gegenständliche Zeichnungen, Piktogramme: Ist das eine neue Form von Orchesterpartitur?

Johannes Quint: Die Einbeziehung von Video ist in der Szene der zeitgenössischen Musik momentan angesagt. Meist in der Kombination mit aufgeführter Instrumentalmusik. Ich habe mich aber von Partituren verabschiedet und bin – so sehe ich es – in einem Niemandsland gelandet, das keinem bekannten Genre zuzuordnen ist.

Still aus „Heaven“ von Johannes Quint

Es wird eine kleine Geschichte erzählt von dem schwarzen Strichmännchen, das offenbar auf der Leiter nach oben will in den blauen Himmel. Dabei ist das Tempo, mit dem langsamen Pendel visualisiert, eher verhalten. Dann, am Schluss, gibt es einen plötzlichen Bild- und Tempowechsel, es erscheint ein roter Kopf, dem die Haare zu Berge stehen, die Musik wird dramatisch und zwei Textbänder laufen so schnell ab, dass sie unlesbar sind. Sind wir statt in „Heaven“ nun in der Hölle angekommen?

Der Text, der am Ende durchläuft ist ein Ausschnitt aus der Jakobsleiter-Geschichte aus dem Alten Testament. Ich sehe es nicht als die Hölle, sondern als Eintritt des Erhabenen.

Das kletternde Männchen mit dem Ballonkopf und auch der rote Kopf ohne Körper sind zwar lesbare Zeichen, laden aber nicht zur Identifikation ein, wie eigentlich nichts in dem Video. Die V-Effekte sind zahlreich. Sollen die Betrachter auf Distanz gehalten werden?

Nein. Man kann meine Videos als Rätselaufgaben beschreiben, für die es keine Lösung gibt. Identifikation heisst, dass man auf dem Weg an die Hand genommen wird. Es geht aber auch nicht darum, distanziert von aussen wahrzunehmen. Stattdessen gilt es, die Verbindung der akustischen und optischen Objekte selber herzustellen. Die langsame Zeit stellt dazu einen Raum zur Verfügung.

In den üblichen Musikvideos sind Bild, Musik und Sprache redundant, verstärken sich gegenseitig und sorgen für ein eingängiges emotionales Erlebnis. In „Heaven“ wird Redundanz eher vermieden. Es ist nicht leicht, die Fragmente, die in Abständen auftauchen, in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Hohe Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung sind gefragt, gerade weil die Beobachtungsspanne zeitlich gedehnt wird. Ist eine gewisse Überforderung des Rezipienten gewollt?

Es geht um eine je eigene Sinnstiftung. Dazu passt, dass die Videos, die durch Algorithmen generiert werden, immer wieder neue Fassungen ergeben. Ob dabei eine Überforderung entsteht? Ich denke, jeder wird das anders empfinden.

Das Ganze wie auch viele Details wirken am Ende ja auch sehr ironisch. Man könnte sich mit einem Amusement begnügen, es einfach „rauchend genießen“, wie Brecht es vorschlug. Haben wir es bei „Heaven“ mit einer Persiflage auf das Aufwärtsstreben, mit einer Demontage romantischer Formen zu tun?

Nein. Dekonstruktion in der Kunst ist für mich passé. Mich interessieren die ‚großen‘ Themen, die ich ernst nehme, zum Beispiel: Warum komme ich nicht in den Himmel? Vor den Fragen, die hier gestellt werden, sind wir aber klein, und unsere Darstellung wird immer windschief sein. Anders als die vielen bedeutungsschwangeren Celan- oder Hölderlin-Vertonungen versuche ich, mich zu diesem Windschiefen zu bekennen. Gerne auch witzig, aber keine Persiflage und erst recht keine Demontage.

johannes-quint.de