SkandalKunst!

Gustave Doré, 1854: „Der weitere Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen“

Immer hat das Kunstpublikum seine Erwartungen und Vorlieben, seine eingefahrenen Gewohnheiten und kulturellen Ansprüche. Und zuverlässig sorgt ein Teil der Künstlerschaft für Ärger, weil er die Regeln ablehnt und sein eigenes Ding macht. Daraus erwachsen handfeste Konflikte. Die Geschichte der Kunst-Skandale ist ein eigenes Genre der Erzählung. Ich möchte hier anhand einiger Beispiele Schlaglichter auf ihre Entwicklung werfen.

Vor 170 Jahren war ein roter Farbfleck, als gültiges Bild präsentiert, ein Skandal. Die zwölfte Seite in Gustave Dorés Buch mit politischen Karikaturen, Titel: „Histoire pittoresque, dramatique et caricaturale de la Sainte Russie“, gehört zur Frühgeschichte des bürgerlichen Kunstskandals, aber nicht zu der der Abstraktion. Denn augenzwinkernd präsentierte Doré ganz realistisch einen Blutfleck, um den „weiteren Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen“ sinnfällig zusammenzufassen. Aufgeregt hat sich das Publikum 1854 trotzdem, man fühlte sich auf den Arm genommen.

Umstrittene Werke, angegriffen von Kirche und weltlicher Obrigkeit, gab es auch schon vor dieser Zeit, aber erst mit dem Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer Medien war der Kunst-Skandal ein Fall für die breite allgemeine Debatte. Im Resonanzraum der Salons und Clubs, der Museen und der Presse hallte es wider, wenn Kämpfe um Geschmack und Qualität ausgetragen wurden. Der Skandal hatte vor allem die Funktion, die Grenze der künstlerischen Autonomie auszuloten – wobei konservative Künstler und interessiertes Publikum in der Regel versuchten, einzugrenzen, während sich die Künstlerrebellen von den Regeln und Regulierungen befreiten.

Auf diese Weise erstritt Edouard Manet mühsam seine Position. Die ersten Bilder aus seinem Atelier sorgten für große Empörung; 1863 wurden seine Werke für den offiziellen Pariser Salon der aktuellen Malerei nicht zugelassen. Die Bilder, darunter das „Frühstück im Grünen“, wurden schließlich im „Salon des Refusés“, in der Schau der Abgelehnten gezeigt. Das Publikum schimpfte oder lachte. Manet hatte die Erwartungen grob enttäuscht, statt mythologischer oder pathetischer Szenen lieferte er Alltagsfiguren, gewöhnliche Menschen – die Parodie auf die gewohnte repräsentative Kunst.

Um die Konventionen zu verletzen, reichte es damals schon, harmlose Motive ohne historische und politische Bedeutung in den Mittelpunkt des Bildes zu stellen, die nur Vorwand für im Grunde reine Malerei waren. Claude Monet brachte die Kritiker auf die Palme mit Heuhaufen. In vielen Varianten gestaltete er das ländliche Motiv, um Licht und Farbe der Natur einzufangen. Und das gelang ihm, weil er nicht fein ausmalte, sondern Pinselstrich neben Pinselstrich stehen ließ. Schlecht und schlampig fanden das die Spezialisten für glatt Geöltes.

Solche Maler werfen „dem Publikum den Farbtopf ins Gesicht“, schimpfte der berühmte britische Kunstkritiker John Ruskin, und er legte sich insbesondere mit seinem Landsmann James MacNeill Whistler an, den er für einen „ästhetischen Terroristen“ hielt. 1877 stellte der sein neuestes Werk „Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete“ in London aus. Für die „Komposition aus Linie, Form und Farbe“, so die Worte Whistlers, war der Motivvorwand ein nächtliches Feuerwerk. „Hochstapelei“ und „Flegelei“ lauteten Ruskins Bewertungen, und vor allem fand er, das Bild sei keine 200 Guineen wert (diese schicke Goldmünzenwährung ist noch heute bei britischen Kunstauktionen gebräuchlich; eine Guinee gleich 1,05 Pfund). Mit dem Geldwert-Argument kommt eine rhetorische Waffe ins Spiel, die bis heute im Kunst-Skandal gerne verwendet wird. „Keine Steuergelder für so einen Mist“ – solche Rufe sind Stereotypen der Attacken gegen Kunst.

Whistler jedenfalls verklagte Ruskin wegen Verleumdung. Am Ende gewann er den Prozess, der ihm viel öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte, bekam aber keine Entschädigung. Die Kämpfe um akademische Konventionen und künstlerische Experimente im 19. Jahrhundert spalteten die Kunst mit langer Nachwirkung – eigentlich bis heute. Doch die Angefeindeten von damals sind heute absolute Stars, wie auch Edvard Munch, der sich das 1892 nicht hatte träumen lassen. Bei seiner ersten Ausstellung in Berlin gab es Krawall und Handgreiflichkeiten seitens empörter Bürger; die Presse stachelte die Emotionen an. Die Vossische Zeitung sah „unglaubliche Erzeugnisse des kranken Sehvermögens und des willkürlich geschwenkten Schmierpinsels eines modernen Sudlers“. Die Munch-Ausstellung wurde vorzeitig geschlossen. Daraus zog der junge norwegische Künstler jedoch nicht den Schluss, die ungastliche Stadt wieder zu verlassen. Er begriff, dass auch negative Aufmerksamkeit durchaus symbolisches Kapital bildet („Bessere Reklame kann ich gar nicht bekommen“) und vernetzte sich erfolgreich mit gleichgesinnten Malern. Schon im darauf folgenden Jahr stellte Munch in Berlin wieder aus.

Hier zeichnet sich eine Veränderung in der Funktion des Kunstskandals ab: War er bisher vor allem ein Mittel im internen Kampf zwischen Akademikern und Rebellen des Kunstfelds, wandelt er sich nun zum Instrument für Aufmerksamkeitspolitik und Marktstrategie. Das wird im 20. Jahrhundert dazu führen, dass Künstler Skandale nicht mehr nur erleiden und ertragen, sondern sie auch bewusst provozieren und nutzen.

Die Ausstellungen und Aktionen der Dadaisten und später der Surrealisten bieten dafür eine Fülle von Beispielen. Provokation und inszenierter Skandal werden bei Max Ernst in Köln oder André Breton und seiner Gruppe in Paris zum Mittel einer Kunst, die mit dem zu ändernden Leben verschmelzen soll. Davon findet sich heute Vieles wieder etwa in den spektakulären Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“. Aber damit verlassen wir den eigentlich künstlerischen Bereich.

Wer drinnen blieb und an Problemen der Form, des ästhetischen Prozesses arbeitete, brauchte sich um Widerspruch ebenfalls nicht zu sorgen. Informelle Gestik provozierte in den 1950er Jahren das Publikum zuverlässig. Zum Beispiel das „Gekritzel“, die „Schmiererei“ von Rolf Iseli 1957 bei der Jahresausstellung zum Eidgenössischen Kunststipendium in Bern. Mit schwarzer Ölfarbe, direkt aus der Tube auf die Leinwand, hatte Iseli gezeichnet, ein mal mehr, mal weniger verdichtetes Gewirr, das außer Dynamik und Funktionslust nichts mitteilt. Dafür 5000 Franken Preisgeld, aus dem Steuersäckel? 100 Bundesbeamte unterzeichneten einen Offenen Protestbrief an den schweizerischen Bundesrat. Der forderte praktisch einen Leistungsnachweis vom Künstler, der diesen in Form von Aktzeichnungen erbrachte. Akt überzeugte – und das Berner Kunstmuseum kaufte das „Gekritzel“. Damit zeigte die Institution ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung.

Deren Rückständigkeit und Intoleranz in Bezug auf die künstlerische Entwicklung nutzten 1963 ein damals unbekannter junger Maler und sein ebenfalls junger Galerist, die beide ihre Karrieren starten wollten, gezielt aus. Georg Baselitz hatte wilde gegenständliche Bilder gemalt, darunter einen onanierenden Knaben („Die große Nacht im Eimer“, heute im Bestand des Kölner Museums Ludwig), und Michael Werner stellte diese Leinwände in seiner Westberliner Galerie aus. Beide sind heute Stars der Szene, und das kam so: Werner informierte selbst die Staatsanwaltschaft, die ermittelte und eine Anklage verfasste. Die Boulevardpresse biss ebenfalls sofort an. Der Künstler verließ Berlin vorsichtshalber, und sein Image als Tabubrecher hat er seitdem. Auch wenn die erste Ausstellung kein Verkaufserfolg wurde, war der Coup gelungen. Vor Gericht gab es einen Freispruch.

Wie wirksam das Ereignis Skandal nun Teil der künstlerischen Inszenierung sein konnte, bewies keiner besser als Joseph Beuys 1964 bei einer Fluxus-Performance in Aachen. Er provozierte das Publikum mit seiner Bühnenaktion (zum Beispiel mit der Forderung, die Berliner Mauer um fünf Zentimeter zu erhöhen) mit Erfolg: Ein Zuschauer, später als „rechtsgerichtet“ identifiziert, stürmte nach vorne und schlug dem Künstler heftig ins Gesicht. Daraus entstand das bekannte Foto, auf dem Beuys sich mit erhobener rechter Hand und aus der Nase blutend dem Publikum pathetisch präsentierte, in der Linken ein Kruzifix haltend. Man nannte es das „Märtyrer-Foto des heiligen Joseph“. Was es nicht zeigt, was aber in einem Film von dem Vorfall zu sehen ist: Vor der Pose hatte Beuys den Täter mit Schlägen von der Bühne gejagt.

Liessen sich die Attacken gegen den „guten Geschmack“ noch steigern? Wolf Vostell hat das vielleicht geschafft, weil ein Tabu noch unversehrt war: das Auto, das Lieblingsspielzeug im Wirtschaftswunderland. 1963 ließ Vostell in Köln eine Limousine einbetonieren; das Objekt „Ruhender Verkehr“ steht seitdem in der Stadt. Die sich damals dagegen empörten, benutzten die üblichen Argumente wie „Schund“, „Verschwendung von Steuergeldern“, „unzumutbar für das Stadtbild“ usw.

Hans Haacke gelang es 1999, die kontroverse öffentliche Auseinandersetzung um seine künstlerischen Provokationen in den vornehmsten Debattenraum der Republik zu tragen: in den Bundestag. Die parlamentarischen Diskussionen um das Projekt „Der Bevölkerung“ füllten wiederum die Zeitungsspalten und Nachrichtenkanäle, doch die Abgeordneten hatten allen Grund, sich selbst ganz offiziell zu positionieren, denn Haacke hatte sie zu Mitwirkenden an seinem Werk erkoren. Sie waren aufgefordert, jeweils etwas Erde aus ihrem Wahlkreis mitzubringen, mit der das Beet im Innenhof des Reichstagsgebäudes gefüllt wurde und wird. Der Schriftzug „Der Bevölkerung“ inmitten des Beets – in derselben Schrifttype wie „Dem deutschen Volke“ auf der Aussenfassade des Baus – kann als Ergänzung oder Verbesserung des eingeschränkten Volksgedankens gelesen werden. Es geht um alle Menschen im Land. Nicht nur daran entzündete sich Kritik, auch die Erde und der Pflanztrog gefiel nicht allen. Volker Kauder (CDU) sagte Nein zu „diesem simplen und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk“ und „zu dem Versuch der Distanzierung des Deutschen Bundestags von seinem eigenen Volk.“ Norbert Lammert (CDU) meinte: „Skurrile Bundesgartenschau“. Ein fraktionsübergreifender Antrag gegen das Projekt wurde im April 2000 knapp (mit 260 gegen 258 Stimmen) abgelehnt. Heute ist das umstrittene Werk weitgehend akzeptiert; die Liste der Abgeordneten, die ihr Scherflein Erde beigetragen haben, ist lang.

Auffallend, dass bisher nur Männer aufgeführt sind, die in Kunstskandale verwickelt waren. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Künstlerinnen in der Kunstwelt generell unterrepräsentiert, also auch bei den Skandalen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts entdeckten manche die Provokation als Mittel einer feministisch orientierten Kunst. Aber auch diese Aktionen hatten es schwerer, öffentlich zu wirken, als die der Männer. Ob Carolee Schneemann (die alle Schamgrenzen verletzte) oder Pipilotti Rist (die im Film die Fenster geparkter Autos zertrümmerte): Sie wirkten innerhalb der Kunstszene, aber kaum darüber hinaus.

Seitdem im 21. Jahrhundert öffentlichen Debatten vermehrt „postkolonial“ und sensibler für diskriminierte Minderheiten geführt werden, geraten immer weitere Konfliktpotenziale in den Blick und die öffentlichen Reibungsflächen vermehren sich. Skandale der jüngsten Zeit entzünden sich zwar an der Kunst, sind aber politisch basiert, siehe der immer noch nicht ausdiskutierte Fall von Antisemitismus bei der letzten Documenta.

Sollen wir es als Fortschritt werten, dass nun Künstlerinnen häufiger skandalfähig sind? Die Fälle Dana Schutz 2017, Miriam Cahn 2023, Sophia Süßmilch 2024 sind prominente Beispiele.

Dana Schutz ist eine weiße US-Künstlerin, die 2016 das Bild „Open Casket“ (Offener Sarg) im Stil klassischer Moderne gemalt und im Jahr darauf bei der New Yorker Whitney-Biennale ausgestellt hat. Es zeigt den fürchterlich zugerichteten Körper eines von Weißen ermordeten schwarzen Jungen, der 1955 in einem offenen Sarg zu sehen war, wovon Fotos existieren, die Dana Schutz verwendete. Diskriminierung und Gewalt sind gegenwärtig, das wollte Schutz mit der Aktualisierung des spektakulären Falles zeigen. Schwarze Aktivisten um die Künstlerin Hannah Black skandalisierten das und forderten, das Bild aus der Ausstellung zu entfernen. Als weiße Frau dürfe Schutz nicht vom Leid schwarzer Opfer profitieren: No profit and fun. Denn damit übe sie selbst Gewalt aus. Hier haben wir es mit Identitätspolitik gegen künstlerische Solidarität zu tun. Es kam zu Protesten vor dem Bild. Dass es tatsächlich abgehängt wurde, ist nicht überliefert.

Die Gräueltaten russischer Soldaten beim Überfall auf die Ukraine thematisierte Miriam Cahn, unter anderem mit dem Ölbild „Fuck abstraction!“, eine Vergewaltigungsszene. 2023 war es in der Cahn-Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo zu sehen. Empört waren Teile der Öffentlichkeit weniger über das geschilderte Verbrechen, als über Cahns Darstellung. Rechtspopulisten hetzten dagegen; es fanden sich Kritiker, die Anzeige wegen „Verherrlichung von Kinderpornografie“ erstatteten. Der Prozess ging durch mehrere Instanzen; die Klage wurde abgewiesen. Daraufhin griff ein Mann zur Selbstjustiz und schüttete violette Farbe über die Leinwand. Bis zum Ende der Ausstellung war das Werk so zu sehen. Staatspräsident Macron verurteilte den Violett-Vandalismus. Die Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit in der Republik anhand dieses Falles erschien wie eine Wiederholung der Kämpfe des 19. Jahrhunderts.

Und damit zurück in die Provinz: nach Osnabrück. Hier leistet sich die CDU-Stadtratsfraktion einen Angriff auf die Kunstfreiheit, der an preußische Zeiten erinnert (siehe den Text „Populismus frisst Kunstfreiheit“ in diesem Blog). Sophia Süßmilchs aktuelle Ausstellung mit dem einem Märchen entlehnten Titel „Then i’ll huff and i’ll puff and I’ll blow your house in“ („Ich werde husten und prusten und dir dein Haus wegpusten“) kritisiert, so die Künstlerin, die „kapitalistische Verwertbarkeit“ von Menschen. Das Motiv Kannibalismus klingt unter anderem an, und es gab eine Performance mit entblößten Leibern. Die CDU unterstellte „kannibalistische Fantasien“ und forderte, die Ausstellung sofort zu schließen. Süßmilch erhielt eine Morddrohung von Unbekannt. Die Provinzposse fand ein überregionales Echo und hatte ansonsten keine erkennbaren Folgen: Die Ausstellung wurde nicht geschlossen und die örtliche CDU nimmt ungeachtet ihrer Blamage nichts zurück.

Skandal erzeugen, das bleibt gerade in Zeiten von emotional aufgeladener statt vernunftbasierter Politik ein probates Mittel, um Interessen zu verfolgen und sich öffentlich stark zu positionieren. Dabei geht es nicht immer um Aufklärung – und eher selten um die Ermöglichung eigensinniger, inspirierender Kunst. Bei allen Kunstskandalen aber gilt: Das Publikum, gerade auch das kunstferne, wird offensiv angesprochen. Es ist hier auf spezifische Weise Akteur.

„SkandalKunst!“ ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Griesgasse in Siegburg am Donnerstag, 10. Oktober, 18 Uhr.

AugenBlick

Zeichnung beidhändig, Carbon auf Papier (Jürgen Röhrig)

Populismus frisst Kunstfreiheit

In Raum 79 des Prado-Museums in Madrid klafft ein Lücke: Dort, wo bislang das Bild „Saturn verschlingt seinen Sohn“ von Peter Paul Rubens hing, ist die Wand plötzlich leer. „Wir können und wollen nicht hinnehmen, dass unter dem Deckmantel der Kunst derart groteske und verstörende Darstellungen öffentlich gezeigt werden“, hatte ein CDU-Politiker aus dem südlichen Niedersachsen über „kannibalistische Fantasien“ geschimpft. Er rief zum Boykott der Ausstellung auf, und schon bald gab es in den asozialen Netzwerken Morddrohungen gegen den Künstler.

Diese Geschichte ist, was Rubens angeht, erfunden und natürlich Unsinn, aber insofern genau passend zu der rechtspopulistischen Attacke, die wir dieser Tage aus der 167.000-Einwohner-Stadt Osnabrück hören mussten. Da hat der CDU-Fraktionschef genau diese gegen die Ausstellung „Kinder, hört mal alle her“ in der örtlichen Kunsthalle geritten (so heißt allerdings das Jahresprogramm, der Ausstellungstitel lautet „Then i’ll huff and i’ll puff and I’ll blow your house in“). Das Motiv Kannibalismus kommt in der Ausstellung unter anderem vor. Es gab nach dem Angriff aus der Politik eine anonyme Morddrohung gegen die Künstlerin Sophia Süßmilch. Und eine Parteifreundin des Kritikers, die CDU-Landtagsabgeordnete in Niedersachsen ist, setzte noch obendrauf: „Es ist unverständlich, wie ein solche Ausstellung überhaupt genehmigt werden konnte“. Was Künstler*innen machen, muss also genehmigt werden? Wie doof darf Politik sein, wer hat das wiederum genehmigt?

Doch Spott genug aus der ganzen Republik haben die Osnabrücker CDUler einstecken müssen, und viel sachliche Kritik, aus der sie lernen könnten. Das Pamphlet „CDU Osnabrück distanziert sich von Kunsthallen-Ausstellung“ steht allerdings immer noch auf der Website der Ratsfraktion. Alles das kann man im Netz nachvollziehen, muss also hier nicht referiert werden. Doch weitere Schlüsse lassen sich aus dem Provinz-Kunstskandal ziehen – wobei, wie fast immer in solchen Fällen, nicht die Kunst skandalös ist, sondern die reaktionären Reaktionen.

Der Fraktionschef, der nun auch den Prado sicher nicht mehr besuchen möchte, ist studierter Jurist. Er müsste also das Grundgesetz einschließlich der darin garantierten Kunstfreiheit kennen. Er ist schon in seiner Rats-Funktion an die Gesetze gebunden, ein Verfassungsjurist beurteilte sein Verhalten deshalb als „rechtswidrig“. Die Landtagsabgeordnete kommt zwar aus der Landwirtschaft, könnte aber angesichts ihrer politischen Rolle die Verfassung auch mal gelesen haben. Kann da wirklich so viel Unkenntnis herrschen? Oder ist das eine kalkulierte Aktion gegen die Kunst und ihre Freiheit? Was haben wir davon zu halten, wenn so genannte christlich Konservative rechtspopulistische Sprüche klopfen? Aber da haben sie ja Vorbilder in ihrer Bundespartei. Die viel diskutierte Brandmauer gegen die extrem Rechten bekommt so jedenfalls kein Fundament. Sie nützt nichts, wenn es auf beiden Seiten brennt.

Das Rubens-Bild finde ich übrigens schwer erträglich in seiner Brutalität. Schrecklicher aber ist das Bild „Populismus frisst Kunstfreiheit“. Wahrscheinlich war das nicht die letzte Attacke dieser Art.

https://www.museodelprado.es/en/the-collection/art-work/saturn-devouring-a-son/d022fed3-6069-4786-b59f-4399a2d74e50

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Bildbetrachtung

Blicke, die nicht ins Programm passen

August Sander: „Mutter und Tochter“ (Ausschnitt)

Zwei sehr ernste Gesichter schauen den Betrachter an, so wie sie 1912 dem Fotografen August Sander in die Kamera geblickt haben. Der Ausdruck links angespannt, fast ängstlich; rechts eher resigniert. Die beiden Frauen aus dem Westerwald haben sich fein gemacht für das in ihrem Leben sicher außergewöhnliche Ereignis, ins Bild gebannt zu werden. Fein, was die Kleidung und den sparsamen Zierrat betrifft. Für den Friseur hat es nicht gereicht – keine Zeit, kein Geld? Reich werden die Porträtierten nicht gewesen sein; Gesichter und Hände sprechen von einem Leben mit harter, einfacher Arbeit. Sie posieren für Sander, es soll ein gutes Foto werden, aber sie scheinen sich unsicher, ob sie dem Anlass gewachsen sind. Ich habe hier einen Ausschnitt gewählt, der das Statuarische mildert und die am stärksten sprechenden Bereiche fokussiert.

„Mutter und Tochter, Bauern- und Bergmannsfrau“ lautet die Bildunterschrift. Keine Namen. Welche der beiden Frauen ist die ältere, welche die Bergmannsfrau? Dieser Unterschied spielte offenbar keine Rolle. Sander dachte über die Personen hinaus an Typen. Hier hatte er zwei Figuren für seine visuelle soziologische Recherche: So sehen sie aus, die einfachen Frauen vom Land. Individualität ist hier schwer auszumachen, aber entsprachen Mutter und Tochter wirklich dem Klischee? In jedes Foto drängt sich bekanntlich auch das, was nicht den Absichten der Bildgestaltung folgt. So könnte die distanzierte Skepsis der Frauen den ganzen Vorgang in Frage stellen. Niemand, der mit seinem Abbild Betrachter wirklich ansprechen will, darf so schauen. Keine Influencerin heute würde damit Followerinnen finden.

Wie hat der Fotograf mit seinen Modellen gesprochen? Wußten sie, dass es nicht um ihre Gefühle und inneren Ansichten – beim Fotografiertwerden wie überhaupt – ging, sondern um das „Antlitz der Zeit“, um ihre Rolle als typische „Menschen des 20. Jahrhunderts“? Wer einmal Menschen mit der Kamera porträtiert hat, dem wird vielleicht die Erfahrung nicht fremd sein, dass sich in einem Dialog während der Prozedur andere Haltungen ergeben, als die unserer Westerwälderinnen. Respekt und Neugier auf Individualität befördern Selbstbewusstsein. Davon sprechen diese „Antlitze“ nicht.

Sander ist dafür kritisiert worden, dass seine gestellten Posen dem Konzept folgen und nicht der Suche nach Individualität. Die Klischees, die er schildert, seien deshalb ästhetisch nicht überzeugend. Sympathie mit den Abgebildeten wurde ihm abgesprochen; er zwinge die Menschen in seine Bildidee, selbst wenn es sie lächerlich mache.

So sehr die beiden Gesichter von Distanz sprechen statt von Dialog, so bedeutet ihr Ernst doch auch, dass sie sich selbst ernst nehmen, weil ihr sorgenvolles Bauern- und Bergleuteleben gar nichts anderes zulässt – auch, wenn sie im Sonntagsstaat für den durchreisenden Fotografen posieren. Diese Blicke gehören zu den intensivsten und eindrucksvollsten in Sanders Porträtwerk. Sie durchschauen das Programm des Anlasses wohl nicht – sie schauen darüber hinaus. Und das ist doch am Ende ästhetisch gelungen.

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Graffiti und Street Art

Kunst in der Schmuddelecke

Ausgefeilte Buchstabenkunst: Graffiti in Eitorf.

Die Faszination von Graffiti ist ebenso ungebrochen wie die Aversionen dagegen. Ein halbes Jahrhundert, nachdem Wandzeichner begannen, auch in Deutschland den öffentlichen Raum zu erobern, haben sich die Graffiti- und Street-Art-Werke etabliert, legale wie illegale. Die Debatte des vorigen Jahrhunderts, ob das Kunst ist oder Schmiererei, ist längst erledigt. Graffiti ist in jeder Weise in der Kunstszene angekommen: in den Museen, Galerien, in Magazinen und Büchern. Kunstwissenschaftler befassen sich intensiv mit dem Phänomen, so wie unermüdlich die Polizei, die den Kunsthistorikern ihr Bildmaterial zur Verfügung stellt. Kommerziell gesehen ist Graffiti kreatives Kapital. Allerhand Produkte für junge Kunden werden in dieser Bildsprache gestylt. Und die Immobilienwirtschaft ist auch nicht mehr durchweg der Erzfeind der illegalen Szene: Wandbilder gleich Lifestyle gleich Verkaufsargument. Das gilt in großen Städten auch für den Tourismus.

Soviel Vereinnahmung ist vielen subversiven Sprayern nicht recht. „Blu“ zum Beispiel hat in Berlin eigenhändig sein publikumswirksames Wandbild schwarz übermalt. Er löschte ein Postkartenmotiv. Auch andere möchten gegen das „System“ malen und nicht dafür. Sie sind überzeugt davon, ihre eigene Art von Kunst zu sprayen, aber bitte widerständig und autonom.

Graffiti und Street Art (nicht scharf voneinander zu trennen; das erste bezeichnet eher illegale Schriftbilder, das zweite Bildwerke, die auch legal sein können) sind Artefakte in einem sozialen Feld, in dem spannende Konflikte ausgetragen werden. Es sind zum Teil neue Runden in altbekannten Kämpfen: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gegen Akademie; Freiheit der Kunst gegen bürgerliche Moral; prekäre Existenz oder Anpassung an den Markt. Dazu kommt die Frage „Wem gehört der öffentliche Raum?“.

Gegen die Verödung und Betonierung der Städte trat explizit bereits in den 1970er Jahren Harald Naegeli an. Der Sprayer platzierte seine Figuren auf meist öden Wänden und ließ sie mit Witz auf die gebauten Strukturen reagieren. Legendär ist seine in Köln verwirklichte „Totentanz“-Serie. Der Schweizer, der nach Jahren in Deutschland jetzt wieder in Zürich lebt, hat nach einer Ausstellung im Siegburger Stadtmuseum 2014 dort eine legale Wandzeichnung hinterlassen. Die Person Naegeli liefert ein Paradebeispiel für den zwiespältigen Umgang mit illegaler Kunst: In Düsseldorf wurde er offiziell ausgestellt, sollte aber auch Strafe zahlen für ein illegales Wandbild an der Kunstakademie; in der Schweiz musste er eine Haftstrafe verbüßen, wurde aber auch mit einem Zürcher Kunstpreis bedacht.

„Pegasus“ von Harald Naegeli im Stadtmuseum Siegburg

Anders als studierte Künstler wie Naegeli lernen die meisten Sprayer in sehr jungen Jahren ihr Handwerk auf der Straße. Die Vorbilder aus den USA waren stilprägend für die Tags und Pieces, also Buchstabenkürzel und ausformulierte Schriftbilder. Man nennt sich Writer; einzeln oder in der Crew geht es um Street-Credibility und Fame: Die Szene entwickelte bzw. übernahm ihr eigenes Vokabular. Die Fantasienamen der Sprayer dienen auch der Tarnung. Abenteuerlust, der Reiz des Verbotenen, der Stolz auf das eigene Bild im Kiez oder auf der S-Bahn als psychologischer Antrieb; das Gemeinschaftserlebnis, das Zischen der Sprühdose und der Geruch des Farbnebels – das alles beschreiben Akteure als positive Erlebnisse.

Mit dem ungelenken Tag in irgendeiner urbanen Schmuddelecke fängt es an, und am vorläufigen Ende der Entwicklung stehen heute hochprofessionelle Werke, die in generalstabmäßig geplanten Crew-Aktionen auf kaum zugänglichen Fassaden oder auf S-Bahn-Zügen im laufenden Betrieb verwirklicht werden. Außer der Fähigkeit, ein gelungenes Bild zu gestalten, kommen hierbei logistische wie artistische Kompetenzen zum Einsatz. Man muss gut strukturiert, hierarchisch organisiert und sportlich sein, um da mitmachen zu können. Ein neues Feld der Werkproduktion ist mit dem Regiefilm eröffnet, der das bloße Dokumentarfoto mehr und mehr ablöst. Wer sich im Internet einen Action-Film der Crew „1UP“ (One United Power) anschaut, bekommt einen guten Eindruck davon: Kameraführung (mit Handkameras und Drohnen), Bildschnitt und Sound würden auf einem Filmfestival mithalten können.

Bei allem Erfolg ist Graffiti nicht entkriminalisiert. Sachbeschädigung, mitunter in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, wird verfolgt. Zwischen Polizei und Sicherheitsdiensten auf der einen und Sprayern auf der anderen Seite hat sich ein Katz-und-Maus-Spiel etabliert. Spezialisierte Rechtsanwälte begleiten das Geschehen. Die Täterschaft wiederum wird als sehr heterogen beschrieben. Wer nachts loszieht, um illegal zu malen, kann Schüler oder Beamter, Hausfrau oder Mitarbeiter eines Verkehrsbetriebs sein, meist zwischen zwölf und 50 Jahren alt. Ein Querschnitt der Gesellschaft offenbar, auch mit deren Vorurteilen: Frauen hatten es schwer in der Szene, als Künstlerinnen gelten zu können; das ändert sich langsam.

Ebenso vielfältig sind die Stile und Bildsprachen der Street-Artisten. Der einfache „Tag“ als Existenzbeweis, „Ich war hier“, oder als Reviermarkierung, ist ästhetisch nicht anspruchsvoller als das Herz in der Baumrinde. Die Schriftbilder der Writer dagegen sind in Form und Farbgebung oft sehr aufwändig. Mittelalterliche Buchstaben-Malereien waren wohl zuletzt ähnlich ambitioniert. Diese „Pieces“ zeigen einen Fantasie-Namen und geben zusätzliche Informationen wie Alter, Crew-Mitgliedschaft oder anderes preis. Thematische Botschaften sind nicht damit verbunden, das Politische liegt im Kontext: Eroberung eines öffentlichen Raums. Dass diese Bilder überhaupt etwas zu bedeuten haben und nicht etwa Nichts, wie weiland Jean Baudrillard in seinem Text „Kool Killer“ behauptete, hat nicht zuerst die Kunstwissenschaft herausgefunden, sondern die Polizei bei ihren akribischen Ermittlungen.

Dass sich die Schriftbilder in ihrem Gestus vielfach ähneln, hat mit der gestalterisch durchaus konservativen Haltung der Autoren zu tun. „Odem“ aus Dortmund, einer der Pioniere des Genres, hat einmal beschrieben, dass er das Wesen des Buchstaben sucht, Regeln erkennen und einhalten will. Und alle, die etwas gelten wollen, müssen das auch tun. Da sind die nicht an Schrift orientierten Malereien der Street Art freier. Wenn, dann wird der Autonomie-Anspruch hier eingelöst. Abstrakte Farb-Eruptionen à la Katharina Grosse sehen schon erhaben aus, wenn sie von „Moses & Taps“ großflächig auf ein Gleisbett gesprüht werden.

Warum gerade die Deutsche Bahn unfreiwilliger Spitzenlieferant für Malflächen geworden ist, hat sicher etwas mit der aus den USA übernommenen Arbeitsweise zu tun und auch damit, dass so viele Lärmschutzwände, Züge und Stellwerke geboten werden. Das Ergebnis ist beim Publikum umstritten. Wer mag es schon, wenn das Zugfenster undurchschaubar geworden ist. Oder wenn schalkhafte Akteure eine täuschend echte Zugtür auf die Bahn gemalt haben, die sich nicht öffnen lässt.

Das erinnert an die Spaß-Guerilla Ende der 1960er Jahre, die ebenfalls als eine Quelle für heutige Street Art gesehen werden kann. Da wird die Aussage dann inhaltlich politisch, wobei hierzulande aktuell Umweltthemen häufiger vorkommen. Auch der legendäre „Banksy“ liefert so etwas. Jüngst hat er wieder Furore gemacht mit einem Werk, das eine Situation im öffentlichen Raum geschickt für seine Form nutzt: Ein verstümmelter Baum steht vor einer Brandmauer, auf die der Sprayer viel grüne Farbe gibt. Mit aufgestochenen Farbdosen lässt sich die sehr hoch spritzen, so dass sich zusammen gesehen das Bild eines sehr ergrünten Gezweigs ergibt. Schön gemalt dazu noch eine lebensgroße Figur, während die grünen Schlieren dann doch eher so aussehen, wie wütende Gegner es von allen Graffiti behaupten: geschmiert. Und dann rückte jemand dem Bild mit weißer Wandfarbe zu Leibe, und die schöne Ironie in diesem Fall ist, dass daraufhin in der Presse zu lesen war: Kunstwerk beschmiert. So ändern sich die Perspektiven.

Die Konflikte, die sich in einer demokratischen Gesellschaft aus dieser Art Kunstpraxis ergeben, sind ernst zu nehmen, aber harmlos im Vergleich zu denen in autokratisch geführten Staaten oder Diktaturen. In Russland ist politisches Graffiti ungleich riskanter, und doch gibt es viele mutige Aktivitäten, wie ein Blick auf die Internet-Plattform „nowobble.net“ zeigt. Auf einer Mauer in Sankt Petersburg hat ein Schablonensprayer das Google-Signet in „Goolag“ transformiert. Das ist überraschend und witzig, wirkt anders als die bloße Aufforderung „Kein Krieg“. Streng sanktioniert wird beides. Der Petersburger Sprayer wurde während der Arbeit verhaftet; Mitstreiter vollendeten später sein Werk und fotografierten es – bevor das Kunstwerk überschmiert wurde.

Graffiti ist Thema der nächsten Gesprächsrunde bei „Kunst und Brot“ am Donnerstag, 16. Mai, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

Malgründe der verschiedensten Art liefert immer wieder die Deutsche Bahn.

Subtile Sensationen

KP Kremer: Aquarell auf Sparbuch

Was KP Kremer selbst in ein entwertetes Sparbuch eingetragen hat mit Pinsel und Farbe, wird auf besondere Weise verzinst. Reichtum und Kostbarkeit entstehen hier für das Erleben des Betrachters. Das Heft ist in der Mitte kreuzförmig perforiert, um es für die Bankökonomie zu entwerten. Der Künstler hat das gedruckte Linienraster der Rubriken ergänzt durch perspektivische Linien, die auf das Kreuz in der Mitte zulaufen. Aquarellfarbe bildet wolkige Flächen, umgrenzt von Farbverdichtungen an den Rändern, die beim Trocknen entstehen. Schwungvolle blaue Linien hat er mit dem trockenen Pinsel hinzugefügt. Man könnte an ein abstrahiertes barockes Deckengemälde denken – das Kreuz würde dann auf eine Kirchenkuppel hindeuten -, erschiene das sakrale Symbol nicht in der Zeile „Unterschrift des Beamten“.

Dieses Beispiel aus dem umfangreichen Werk des Künstlers beinhaltet auf kleinem Format verdichtet vieles, was für KP Kremers Arbeitsweise und Absichten grundlegend wichtig ist. Es geht um das Entdecken und wirkungsvolle Darstellen ästhetischer Phänomene, die nicht alltäglich und selbstverständlich sind. Es geht in der Tat um das „Kostbare“: Es zeigt sich im differenzierten Ausdruck der Farbe, in der Qualität von Materialien, in der freien individuellen Handschrift ebenso wie in ihrem Gegensatz, dem geometrisch Geordneten, bei alldem immer auch in den Nuancen, den subtilen Sensationen, die mit feinem Sinn zu erspüren sind.

Der Blick für das, was leicht übersehen wird, ist bei KP Kremer geschärft. Und was er entdeckt, will er natürlich mitteilen, erfahrbar machen. Das zeigt vom 21. April an die Ausstellung im Museum Burg Wissem mit ihrem thematisch dem Ort angemessenen Schwerpunkt auf Künstlerbüchern und verwandten Papierarbeiten. Die großen monochrom erscheinenden Leinwände, ein wichtiges Kapitel in seinem Schaffen, bleiben hier ausgespart. Aber unter den gezeigten Aquarellen auf Büttenpapier finden sich ebenfalls Farbflächenmalereien, auf die der Begriff der „konkreten Kunst“ anwendbar scheint. Nicht auf Gegenständliches bezogen, auch nicht abstrahierend, stehen diese Farbzonen für sich. Die Retrospektive macht indes deutlich, dass sich KP Kremers Werk nicht auf das Genre „konkret“ beschränkt. Derlei Erkundungen von Farbklängen und Farbatmosphären sind für ihn eine Möglichkeit neben anderen.

Die Verbindung von Ordnungsstrukturen und freien Farbflüssen, von geometrischer Genauigkeit und informeller Gestik, von Plan und Zufall ist grundlegend für die Werkentwicklung. Um diese Spannungen, das Miteinander des Gegensätzlichen ins Bild zu setzen, hat KP Kremer eine Vielzahl von Methoden und Strategien entwickelt. Daher zeigt die Ausstellung unterschiedliche Buch-Unikate, deren Bandbreite von wiederum streng geometrischen Auftritten über spielerische Collagen bis zu dramatischen Farb-Eruptionen reicht. Einerseits gibt es die Bücher, die direkt bemalt werden – so wie das eingangs genannte Sparbuch -; andererseits Leerbücher, auf deren Seiten Elemente geklebt werden, die Papierfläche also der Bildraum ist; oder solche, die lediglich als Präsentationsfläche für eingeklebte eigenständige Arbeiten dienen.

Die intuitive Verteilung von Kreisflächen aus schwarzem Papier auf den roten Seiten eines Heftes ergibt eine Abfolge von freien Mustern. „Ich spiele gerne“, sagt KP Kremer, und hier hat es etwas von Domino nach ganz eigenen Regeln. Der einfache Farbkontrast gibt dem Geschehen Halt. Komplexer sind die Collagen aus schmalen Papierstreifen, die an Mikado denken lassen: Die schwarzen, braunen, grünen und orangefarbenen Linien stammen aus Plakatdrucken und Schnittmusterzeichnungen und sind auf einem trapezförmig beschnittenen Teil des Schnittmusters arrangiert. So spielerisch das auf den ersten Blick wirkt, ist das Arrangement hier nicht dem Zufall überlassen; mit Kalkül arbeitet Kremer die visuellen Werte des gefundenen Materials heraus.

Die Ordnungsstruktur von Linienrastern und Rubrik-Bezeichnungen ist in einem Buch mit Aquarellzeichnungen und Pinselflecken in starken Blau-, Rot-, Gelb- und Orangetönen weitgehend überdeckt. Die mehrfache Übermalung scheint das Reglement auslöschen zu wollen. Der opulente Farbauftritt, ein Geflecht von Linien auf wolkigen Zonen, reizt mit subtilen Effekten: So hat die nasse Aquarellfarbe auf dem feucht gewellten Papier kleine Pfützen gebildet, die nach dem Trocknen rote, fast regelmäßige Rechtecke ergeben. Die Ordnung ist nur marginal noch aufgerufen, nur eben noch zitiert.

Die ursprüngliche Bedeutung der in vielen Arbeiten verwendeten Texte spielt in der Regel keine Rolle. Es gibt Blätter mit Börsenkursen und Todesanzeigen, es gibt ausrangierte Aktendeckel mit Kürzeln und Ziffern („Laufmappe“). Sie repräsentieren Kategorien der Wirklichkeit und bringen ihre eigene Ästhetik ein. Der Künstler kann sie mit als wertvoll konnotierten Farben – Gold, Magenta, Purpur aus der sakralen Tradition – aufwerten, ästhetisch kostbarer machen. Er kann sie mit einem grellen Orange konfrontieren, das die Geometrie von Rubriken herausstellt – auch das grafische Fundstück ist damit im Sinne der gegenstandsfreien Konkretion aufgefasst.

Das schwerere Gewicht innerhalb der Zweiwertigkeit der Kategorien (fragmentarisch lesbarer Text mit gleichzeitig grafischer Eigenständigkeit) liegt in den meisten Fällen auf dem visuellen Aspekt. Auf einem von nur drei Leinwandbildern der Ausstellung wird das Gewicht allerdings verschoben hin zu deutlicheren inhaltlichen Mitteilungen: Lyrische klingende Zeilen – „…uns in der Maisonne liebten“ und „beim Duft der Kamelien“ – in sachlichen Schreibmaschinentypen, dazu arabeskenhafte handschriftliche Eintragungen – Kopien aus einer alten Urkunde – stehen als Zeilen auf einem Rubrikenraster, ohne dessen Einteilungen zu folgen. Das alles ist mit dem Pinsel gezeichnet und stark vergrößert, auf 180 mal 130 Zentimeter. Die Konzentration auf den Text und der Verzicht auf Farbe verdeutlichen die Spannung zwischen dem Konstruktiv-Konkreten und der Expressivität noch einmal anders. Auch formal eher sachlich auftretende Bilder transportieren emotionale Qualitäten.

Es geht demnach in diesem Werk grundsätzlich nicht um eine Konkretion im Sinne einer ideellen Reinheit von Form und Farbe, um Purismus. Kremer forciert einen offenen Prozess, in dem Rationalität und Gefühl im Erleben nicht künstlich getrennt werden.

Das ist die gekürzte Fassung meines Textes zum Katalog „KP Kremer: vivace“, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Burg Wissem in Troisdorf erscheint. Eröffnung 21. April, 16 Uhr. Finissage am 16. Juni um 15 Uhr: KP Kremer im Dialog mit Jürgen Röhrig.

Hierarchie – ein Kreislauf

Der gläserne Turm strebt zum Licht. Foto: Jürgen Röhrig

Aus der Tiefe betrachtet wächst der zwölf Meter hohe Turm aus klarem Glas zum Licht. Die Kellersohle des ehemaligen Pumpwerks in Siegburg ist die Basis, dort steht auch der kleine Wassertank, dessen Inhalt durch transparente Schläuche nach oben gepumpt wird, per Sonnenenergie, um in Kaskaden wieder nach unten zu fließen – ein Kreislauf. Der Blick nach oben ins Licht, durch viele Glasscheiben, Aquarien, Reagenzgläser, Phiolen, Trinkgläser, auch Scherben und anderen Bauteilen mehr, ist ein flirrendes Erlebnis. Die massiven Betonwände des alten Wasserspeichers verlieren scheinbar ihr Gewicht, die Gitter im Boden sind entfernt, der lichtdurchflutete Turm hat nichts Lastendes. Obwohl er unten schmale 30 mal 40 Zentimeter misst und nach oben hin immer breiter wird, also eine statisch gegenläufige Figur zeigt.

„Hierarchien“ betitelt Rolf Hinterecker sein Werk im Haus des Kunstvereins Rhein-Sieg. Das bezieht sich ebenso auf die im Nebentrakt inszenierten Bilder und Bildobjekte: Fotogramme von Wurzeln, kurz „Wurzelgramme“, und übermalte Fotos von Landschaften. Wer angesichts des gläsernen Turms und seinem Wasserkreislauf an die Erforschung natürlicher Prozesse gedacht hat, findet sich vor den Arbeiten mit Naturfotos bestätigt: Offenbar experimentiert der Künstler mit seinen Reaktionen und Zugriffen auf Pflanzen, Wasser und Landschaftsraum, stellt ästhetisch Kontakt her zu unseren Lebensgrundlagen.

Dabei spricht die Laborsituation zunächst von Distanz, von der Objektivität des Forschers, der das Lebendige zergliedert, auflöst und analysiert. Was im Reagenzglas gelandet ist, atmet nicht mehr. Doch löst sich dieses Labor nicht selbst auf? Die Einrichtung wuchert, sie sprengt die Grenzen trockener Sachlichkeit und wächst ins Fantastische. Kein verrückter Wissenschaftler war hier am Werk, das wäre Klamauk, nein: Hier geht es um das Wiederaufleben des natürlichen Wachstumsprozesses aus künstlerischem Antrieb.

„Als Künstler suche ich Formen zwischen phantastischen Erzählungen und philosophischen Analysen“, sagt Rolf Hinterecker (Jahrgang 1951), der in jungen Jahren neben seiner künstlerischen Ausbildung auch Soziologie studiert und das Handwerk des Kunstglasers erlernt hat. Das fließt zusammen in seiner Siegburger Ausstellung, und dazu kommt seine Beschäftigung mit Positionen von Biologen, die sich mit (vermeintlichen) natürlichen Hierarchien beschäftigt haben. Der Renaissancephilosoph Charles de Bouelles skizzierte, so schildert Hinterecker, 1509 in seinem „Tractatus de nihilo“ eine „stufenförmige Anordnung unbelebter und belebter Natur vom anorganischen Gestein über organische Pflanzen und Tiere bis zum Menschen“. Da stand die „Krone der Schöpfung“ immer noch oben, wie im Mittelalter. Doch bekanntlich änderte sich das im 19. Jahrhundert mit Charles Darwin, nicht nur wegen der menschlichen Verwandtschaft mit Affen, sondern auch, weil Darwin Pflanzen eine Form von Intelligenz zuschrieb. Das bestätigen neuere Forschungen; der Künstler bezieht sich auf den Botaniker Stefano Mancuso, einer der Wissenschaftler, der tradierte hierarchische Vorstellungen kritisch in Frage stellt.

Während die gläserne Installation solche Einsichten (und hier sind es nicht nur metaphorische) erleben lässt, zeigen die Übermalungen eine andere Art des Eingriffs in Naturszenerien. Das schwarz-weiße Foto ist eine Zuwendung aus Interesse und eine Abstraktion. Die damit verbundene Distanz des „Objektivs“ überspielt Hinterecker im nächsten Schritt mit Stift, Pinsel und Farbe. Er nähert sich den Pflanzen und ihrem Raum, er reagiert gestisch auf ihre Formen, spürt den Strukturen von Ästen und Stämmen nach wie den Wolken am Himmel. Markierungen und Farbbahnen: Höchst emotional ist dieser Zugriff, der von Bewunderung spricht und nicht von Überhebung.

Was kann wachsen aus den Bildern der Natur, das ist Hintereckers genuin künstlerische Frage. Dahinter stünden dann die philosophischen: Was können wir ästhetisch lernen, wie verbinden wir uns neu mit der Natur? Zunächst: Sichtbar ist im Pumpwerk auch, dass aus Wurzelgrammen Reliefs werden können, Bildobjekte durch Einschnitte und Auffaltungen entstehen. Die Szene im Guckkasten erlaubt einmal mehr Durchblicke.

Mitten aus dem Arbeitsprozess am gläsernen Turm in Siegburg schrieb mir Rolf Hinterecker eine kurze Mitteilung: „Es wächst und wächst“. Das sagt doch eigentlich alles.

hinterecker-art.com

„artists talk“ mit Rolf Hinterecker und seinen Künstlerkolleg*innen Carola Willbrand, Gertrude Moser-Wagner, Ulrike Oeter und Wolfgang Lüttgens am Sonntag, 7. April, 15 Uhr im „Pumpwerk“, moderiert von Jürgen Röhrig

Kategorien
Fotografie

Alles manipuliert

„Melde“ aus der Serie „Gemüse“, 2017. Foto: Inge Kamps

Das Naheliegende in Nahaufnahme: Alltägliches in überraschender Ansicht zeigt die Künstlerin Inge Kamps in ihrer Fotoserie, die sich mit ihren Gartenpflanzen beschäftigt. Sie spielt mit Parametern wie Farbe, Geometrie und Schärfentiefe. Klassische Regeln der Bildgestaltung interessieren sie nicht. Sie möchte Spannung erzeugen mit ihren Arrangements, auch irritieren und dabei, wie sie sagt, „das Banale reicher machen“. kamps-lab.de

Es mutet aus heutiger Sicht fast nostalgisch an: Vor gut 50 Jahren bereits, also lange vor der digitalen Fotografie, fühlte sich ein Kritiker von den vielen analogen Fotos in den traditionellen Medien überfordert: „Eine Schwemme!“ Er konnte nicht ahnen, dass dies ein Rinnsal war im Vergleich zur gigantischen Bilderflut heute. Allein die Foto-Plattform instagram hat weltweit mehr als 1,2 Milliarden Nutzer, die täglich zig Millionen neuer Fotos hochladen. Bilder umgeben uns ständig, eine ökologische Konstante, erzeugt von Profis aller Sparten oder eben Milliarden von Amateuren und Hobbyfotografen.

Wir denken nicht nur in Bildern, wir wollen sie auch vor Augen haben. Das Erstaunliche an der Allgegenwart der Fotografie ist allerdings, dass sie einerseits als besonders korrektes Medium angesehen wird, das die Wirklichkeit unbestechlich genau wiedergibt, sie anderseits aber auch mit Misstrauen betrachtet wird, weil Bilder dem Verdacht der Lüge unterliegen. „Deep fake“ ist das aktuelle Stichwort. Es meint computergenerierte Fälschungen, die schwer zu durchschauen sind. Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass eine Tageszeitung kürzlich zur „zentralen Frage der Gegenwart“ erklärte: Wie steht es um die „Wahrheit der Bilder“?

Das Paradox, denke ich, lässt sich auflösen. Es hat mit dem Ursprung der Fotografie zu tun, dass ihr Unbestechlichkeit unterstellt wird: Lichtstrahlen lassen sich auf einer Fläche fixieren, ergeben ein Bild, das keinen Handgriff mit Stift oder Pinsel brauchte. Das frappierend Authentische, das damit eng verbundene Dokumentarische ist bis heute aus der Fotografie nicht wegzudenken. Auf der anderen Seite gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert „Kunstgriffe“, das fotografische Bild frei zu gestalten: „malerische“ Kamerabilder oder kameralose aus dem Labor – Fotogramme von Gegenständen und abstrakte Chemiegramme, entstanden durch das Manipulieren der Entwicklungs- und Fixierungsprozesse.

Ein Urlaubsfoto: „Wir waren da!“ Aber wo?

Ein Dokument fürs Familienalbum sollte es sein, aber es ging schief. Auf dem Foto ist nicht das zu sehen, was als Bild gedacht war. Angesichts der Tücke der Prozedur stellt sich die Frage: Wer ist hier eigentlich der Autor? Missglückte Fotos, die dann ganz andere und vielleicht auch reizvolle Ansichten liefern, sind ein eigenes Kapitel der Fotografiegeschichte, so wie auch Fotos aus Versehen, die alle Strategien ausblenden…

Künstler sind keine Reporter, sie gestalten mit Fotografie, und auch da sind mittels Digitaltechnik heute die Möglichkeiten noch weit größer. Das eigentliche Bild wird nicht in der Kamera, sondern am Rechner produziert. Es ist auch nicht mehr unbedingt nötig, selbst vor Ort einen Apparat zu bedienen; die Welt ist voller (Überwachungs-)Kameras und das Internet bietet Zugriff darauf. Siehe die faszinierenden Arbeiten von marcusdesieno.com (No Man’s Land) oder mishkahenner.com (Feedlots).

Stehen wir demnach vor einer geteilten Bilderwelt, der manipulierten und der nicht manipulierten? Keineswegs, denn auch jedes „wahre Foto“ ist nicht einfach objektiv, sondern beruht auf einer Vielzahl von Voraussetzungen. Mit der Entscheidung, wann was fotografiert wird, mit welchen Mitteln und aus welcher Perspektive fängt es bekanntlich an. Und auch, dass Fotografen ihre sozialen und kulturellen Prägungen in den Prozess der Bildgenerierung einbringen, weiss der Leistungskurs. Im Internet kursieren Anleitungen und Apps, die dem Nutzer beibringen, welchen Gestaltungsklischees er folgen soll.

Das Problem ist am Ende nicht, dass Fotografien manipuliert sind. Sie sind es grundsätzlich. Ein Problem entsteht dann, wenn so getan wird, als sei das Bild nicht manipuliert.

Das Vertrauen auf die Echtheit dessen, was abgelichtet wird, ist die Voraussetzung dafür, dass Fälschungen Erfolg haben und für authentisch gehalten werden. Je mehr das Misstrauen steigt, umso weniger sollten daher Fakes funktionieren. Aber unsere Wahrnehmung ist nun einmal so: Was wir sehen, wollen wir erkennen und für unsere Orientierung nutzen, also für wahr halten.

Mit dem blinden Glauben an die Fotografie muss man also rechnen. Will man diesen durchschauen, ist die Beschäftigung mit künstlerischen Fotos in hohem Maß nützlich. Wie gestalten Künstler*innen? Sie entwickeln einen besonderen Blick aufs Gegebene oder inszenieren ihre Fotos sorgfältig. Die Geschichte des Mediums bietet dazu ein Fülle von Material. Arbeiten von zwei Künstlerinnen sind hier als Beispiele zu sehen.

„Zwei mal Fünf“ aus der Serie „Im alltäglich Besonderen“, 2013. Foto: Sonja Karle

Dieses Foto erschließt sich nicht im Augenblick. Sonja Karles besondere Perspektive verlangt ein geduldigeres Sehen. Offenbar haben wir es mit Treppenstufen und einem Geländer zu tun, doch das Bild verändert die Strukturen hin zu einer freieren, formalen Auffassung. Die Senkrechte wird betont – begehen könnte der Betrachter die optisch gekippte Treppe so nicht. Zwei Kinderhände (jeweils mal fünf Finger) geben Halt. sonjakarle.eu

Der blinde Glaube an die Fotografie“ ist Thema der offenen philosophischen Diskussionsrunde „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 18. April, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

Aus der Mottenkiste

Victor Bonato (1934-2019): „Leitkultur Deutschland 2001“

Die Postkarte, die mich an meiner damaligen Arbeitsstelle vor bald 23 Jahren, im Mai 2001, erreichte, war unterschrieben mit „F. Merz“. Thema: „Leitkultur Deutschland“. Die Vorderseite zeigte das Bild einer Art Montagsdemo von Gartenzwergen. Victor Bonato, der wahre Verfasser der Ansichtskarte (hier wird der Begriff „Ansicht“ doppeldeutig), hatte den CDU-Politiker satirisch-künstlerisch aufs Korn genommen. Mail-Art nannte man das. Als ich das kleine Werk jetzt wiederfand, wurde mir noch einmal deutlich, dass der populistische Kampfbegriff „Leitkultur“ nicht nur kulturfeindlicher Unsinn ist, sondern auch ein uralter Hut. Die Fantasie von „F. Merz“ reichte jetzt offenkundig gerade noch dazu, ihn wieder aus der Mottenkiste zu holen. Aber dahin wird er über kurz oder lang auch wieder verschwinden. Wie hieß es doch in der ebenfalls von Victor Bonato herausgegebenen Aphorismen-Sammlung „Gedanken Lesen. Gedanken Gut“: „Leitkultur ist, wenn dem Leithammel der Leitfaden reißt“.

Mail-Art als politische Satire

Sollen Künstler Beamte werden?

Ein Kalenderjahr ist vergangen, in dem die öffentliche Debatte über die Künste in vieler Hinsicht irritierend war. 2023 ging es immer wieder um politische Korrektheit, um die Abgrenzung von Identitäten und andere kulturelle Kämpfe. Das führte zu zahlreichen Rücktritten – von Kuratoren, Findungskommissaren und sonstigen Betriebsfunktionären, auch zur Absage von öffentlichen Auftritten wie Preisverleihungen. Überwiegend lautete der Vorwurf Antisemitismus – davon kommt vor allem das Label „documenta“ nicht los -, und bis heute wird gerungen um eine erkennbare und damit handhabbare Trennlinie zwischen Israelkritik und Judenfeindlichkeit.

Die, um deren Arbeit es eigentlich geht (gehen sollte), die Künstler*innen, werden in diesen Debatten der Funktionäre fast immer lediglich als stumme Adressaten von Forderungen berücksichtigt. „Trennt E-Kunst nicht von U-Kunst“, tönt Kulturstaatsministerin Claudia Roth aktuell, sie hat ein neues Fass für 2024 aufgemacht. Ihr Rücktritt blieb im vorigen Jahr aus, obwohl ihn die „Jüdische Allgemeine“ im Zusammenhang mit dem „documenta-Skandal“ gefordert hatte. Zurückgetreten wurde aber der Leiter der Berliner Berlinale, woraufhin 200 Kulturschaffende aus aller Welt über Claudia Roth herzogen. Der Zirkus geht weiter. Jetzt sollen, wiederum in Berlin, Fördergelder für Kulturschaffende nur dann noch bewilligt werden, wenn sie eine „Antidiskriminierungs-Klausel“ unterschreiben. Über den Textinhalt wird heftig gestritten. Es geht hauptsächlich wieder um Antisemitismus. 4000 „Kulturproduzent*innen“ haben mittlerweile einen offenen Brief gegen diese behördliche Gängelung unterschrieben, weil sie ihre im Grundgesetz verbriefte Meinungsfreiheit gefährdet sehen und der Senat vorher mit ihnen nicht einmal gesprochen habe.

Wer sich auf das Grundgesetz beruft, fühlt sich diesem Text und seinen Werten offenbar verpflichtet. Das beinhaltet die Beachtung der Menschenrechte. Was soll man da noch zusätzlich unterschreiben? So etwas müssen bisher Beamte bei ihrer Einstellung. Wir könnten doch alle Künstler verbeamten, wie das hässliche Wort heißt, dann käme die staatliche Förderung endlich auch bei allen an.

Womit auch ein grundsätzliches Diskriminierungsproblem gelöst wäre: das der sozialen Benachteiligung. Denn Künstler (vor allem aber Rezipienten und gar Käufer) werden in unserer Gesellschaft ganz selten die Unterprivilegierten, weniger formal Gebildeten. Nicht nur Antisemitismus grenzt aus. Autonomie der Kunst – die Chance zum freien Spiel – ist ein historischer Anspruch, der bisher nur für manche verwirklicht wurde. Nicht für jeden in Deutschland, erst längst nicht in der Welt. Trotzdem bleibt Autonomie eine gute Idee. Dabei ist klar, dass dieser Spielraum der Freiheit immer bedingt, gefährdet und umkämpft sein wird. Es geht um die Möglichkeit, wenigstens an diesem Kampf teilnehmen zu können.

Ohne Solidarität mit den weniger Privilegierten ist Kunstfreiheit logisch nicht zu denken. „Autonomie und Solidarität“ ist für mich deshalb der bessere Slogan für 2024 als irgendeiner aus der Cancel-Culture. In Feuilleton-Beiträgen wird Autonomie zurzeit gerne für überholt erklärt. Das halte ich für nicht durchdacht. Es ist – wiederum – gegen die Interessen der Künstler*innen. Es gibt aber auch andere Stimmen, die aus unterschiedlichen Perspektiven künstlerischer Praxis den Freiheitsanspruch aktualisieren, aus verschiedenen Generationen. So ganz dezidiert der Komponist Wolfgang Rihm (Jahrgang 1952), der kürzlich in einem Interview idealistisch die „grenzenlose Freiheit“ der Kunst hochhielt: „Angesichts von immer mehr heterogenen Ansprüchen muss das betont werden“. So auch die Kritikerin Larissa Kikol (*1986), die im Hinblick auf Graffiti und Street Art meint, die Kunst werde schutzlos den Interessen des Marktes ausgeliefert, wenn sie nicht autonom bleibe. Und als drittes Beispiel der Künstler und Theoretiker Steffen Zillig (*1981), der gerade mit seiner „Ästhetik des Asozialen“ ein grundlegendes, sehr empfehlenswertes Buch zum Zusammenhang von Autonomie und Solidarität veröffentlicht hat. Ihm geht es darum, „die Kunst als einen jener Spielräume bürgerlicher Freiheit zu verteidigen, der (…) zumindest eine Idee davon lässt, worum (…) in viel stärkerem Maß gerungen werden muss“.

Positionen, die künstlerische Arbeit in den großen Zusammenhang stellen. Wie betrifft das die schöpferische Arbeit im stillen Atelier, am Schreibtisch? Wenn wir zu der Freiheit, die wir uns da nehmen, den universellen Anspruch auf diese relative Autonomie hinzudenken, wird seine mangelhafte Verwirklichung zumindest bewusst. Ändern können Künstler*innen das alleine nicht, aber gegen die Bevormundung durch Institutionen und Politiker, gegen die „Verbeamtung“ wehren sie sich zu Recht.

Update: Am 23. Januar 2024 wird gemeldet, der Berliner Kultursenator habe die umstrittene Klausel zurückgezogen, wegen rechtlicher Bedenken und weil er nun mit den Kulturschaffenden sprechen wolle.

Ein Spielraum der Freiheit

AugenBlick

Partitur mit feinem Blau

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Bildbetrachtung

Erhabene Industrie

Thomas Harrison Hair: „Percy Pit Colliery“, Kupferstich, 19. Jahrhundert.

Rückenfiguren vor Gegenlicht: Ein großes Feuer, dargestellt im Zentrum des Bildes, sorgt für die Beleuchtung der geschäftigen Szene im Mittel- und den tiefen Schatten im Vordergrund. Und oben, etwas links von der Mittelachse, erhellt der Vollmond den Himmel. Dies und die imposanten Gebäude und Maschinen des Bergwerks „Percy Pit“ bei Newcastle Upon Tyne in England hat Thomas Harrison Hair im 19. Jahrhundert für den Druck auf eine Kupferplatte gezeichnet und gestochen. Das Blatt ist nicht datiert.

Auffällig an dieser Ansicht der Kohleindustrie sind die motivischen Parallelen zu Werken des deutschen Romantikers Caspar David Friedrich. Rückenfiguren, die die Landschaft betrachten, finden sich in dessen Werk mehrfach – sie sind fast so etwas wie sein Markenzeichen. Zum Beispiel in dem Bild „Mondaufgang am Meer“ von 1822. Der volle Mond ist hier teilweise von Wolken verdeckt – bei Hair ist es ein qualmender Schlot, der das leuchtende Rund anschneidet. Die Sitzenden bei Friedrich betrachten das Naturschauspiel und zwei Segelschiffe auf dem vom Mondlicht glänzenden Wasser. Geheimnisvolle, kontemplative Stimmung.

Der Bildaufbau ist derselbe wie der des Kupferstichs: Die Figuren sind vom Betrachter abgewandt. Sein Platz beim Anschauen der Szene ist deutlich eine entferntere zweite Reihe. Die angesichts des Erhabenen nötige Distanz zum Geschehen wird so gewahrt.

Die metaphysisch überhöhte Natur ist für Caspar David Friedrich das Gewaltige, letztlich nicht Fassbare. Der Engländer Hair rückt an die Stelle der Natur die zeitgenössische Technik, ihre Größe und Gewalt in die eingeführte Bildstruktur. Erhaben ist hier die Industrie, die Ausbeutung fossiler Rohstoffe. Materialismus ersetzt Metaphysik.

Ein Zufall wird die kompositorische Parallele nicht sein. Es gibt mehrere Varianten des Bergwerk-Motivs, gezeichnet, aquarelliert, gedruckt. Nicht in allen scheint der Mond und ist das Feuer so groß. Thomas Hair hat sich offenbar etwas gedacht bei der Verdeutlichung seiner Reminiszenz an die Romantik in der hier gezeigten Version.

Seine populäre Darstellung, gedruckt auch in Büchern, führt einen Gegenstand in die Motivgeschichte des Erhabenen ein, der seitdem nichts an Faszination verloren hat. Im Gegenteil – heutige Berg- und Hüttenwerke sind bekanntlich noch viel größer und imposanter. Vor allem die Fotografie hat sich der Industriearchitektur angenommen. Wer im Internet Bilder aus der Stahlproduktion aufruft, findet dramatische Feuer in gigantischen Bauwerken. Diese Darstellungen sollen sachlich sein, verzichten daher auf Vollmond und in den Anblick versunkene Rückenfiguren. Doch die Faszination angesichts des übermenschlich wirkenden Geschehens bleibt erhalten. Das Erhabene indes führt nun nicht mehr zum Genuss des Vorscheins einer höheren oder gar besseren Welt, wie Friedrich es noch glaubte; wir wissen heute, dass beim Thema Ausbeutung von Fossilien das Gegenteil der Fall ist.

Das „Erhabene“ in der Kunst ist auch Thema des folgenden Textes. Offene Diskussion am 23. November, 19 Uhr, Stadtbibliothek Siegburg.

Zur Strafe die Alpen

Karl-Friedrich Schinkel: „Felsentor“, 1818 (Ausschnitt)

Über was ist das Erhabene eigentlich erhaben? Ganz praktisch: über das Flache. Im übertragenen Sinn, und der ist noch erhabener, über alles Nebensächliche und Kleinliche, über alles Profane. Also über vieles, was eigentlich doch interessant und reizend sein kann. Das Gefühl des Erhabenen kann mit dem Empfinden von Macht und Autorität verbunden sein wie mit moralischer Reflexion, religiöser Ergriffenheit oder ästhetischem Genuss. Um das ästhetisch Erhabene soll es hier gehen. In der Geschichte der Kunst spielten erhabene Motive und das gedankliche Konzept der Erhabenheit immer eine große Rolle – bis heute.

Zu groß, um mit den Sinnen vollständig erfasst zu werden, machtvoll und schrecklich, so wird das Phänomen über die Jahrhunderte beschrieben. Seit Edmund Burke 1757 seine „Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“ veröffentlichte, wird seine Definition immer wieder zitiert: Was beim Anschauen ein Gefühl von möglicher Gefahr oder Schmerz hervorruft, was uns plötzlich erschauern lässt, ist erhaben. In der Malerei wäre das Motiv des Höllensturzes ein Beispiel, wobei der Mann aus Dublin solchen Szenen aber misstraute: Wollte „der Maler nicht irgendetwas Lächerliches darstellen?“

Sprichwörtlich liegt das Erhabene ja nah am Lächerlichen. Unterscheiden kann man das aus geeigneter Distanz, und die ist für Burke ohnehin unerlässlich, um das Erhabene genießen zu können. Denn darum geht es ja in der Kunst: Der Anblick eines unermesslichen wilden Meeres mit Sturm und Blitzen oder eines gewaltigen Bergmassivs, die Lieblingsgenres des Erhabenen, werden, ohne reale Gefährdung betrachtet, zu Quellen des Erschauerns wie Entzückens in einem. Die Würde der Dinge, so Burke, möchte der Betrachter für sich selbst in Anspruch nehmen. Erhabener Anblick macht demnach uns selbst erhabener. Es sei denn, man findet das unendliche Meer schlicht langweilig, das kam auch vor.

Wohlhabende Briten, kulturbeflissene Reisende, gelten als diejenigen, die die Erhabenheit der Natur im 18. Jahrhundert entdeckten. Auf ihrer obligatorischen Grand Tour nach Italien standen sie irgendwann staunend vor den Alpen. Zahlreiche Beschreibungen zeugen davon und vor allem Bilder, die das nicht Darstellbare, die unüberschaubare Größe der Berge darstellen wollen. Dass auch dieses Genre in der Folge Lächerliches hervorgebracht hat, ist bekannt. Der märchenhafte Kitsch aus dem Atelier von Karl Friedrich Schinkel zum Beispiel zeugt davon.

Aber bleiben wir bei den eindrucksvoll gelungenen Bildern. Caspar David Friedrichs „Watzmann“ vermittelt das Gefühl des Erhabenen, indem er dem Berg eine metaphysische Aura verleiht: Das nicht Erfassbare, Unfassbare weist über die sichtbare Welt hinaus. Nicht nur die räumlichen Koordinaten irritieren, der Blick auf die unnahbaren Gesteinsformationen, eine menschenleere Szene, rückt auch die biologische Zeit in Distanz zur geologischen. Teil dieser Natur zu sein, bei Friedrich religiös begründet, ergreift und erhebt den sensiblen Betrachter.

Ein romantisches Motiv ist das Erhabene immer geblieben. Nicht nur in der Malerei: Auch in der US-amerikanischen Land Art im 20. Jahrhundert gab es Werke, die erhaben in diesem Sinne wirkten: Michael Heizers „Double Negative“ von 1969, Walter De Marias „The Lightning Field“ 1974-77 oder 1976 der knapp 40 Kilometer lange „Running Fence“ von Christo und Jeanne Claude. Darauf komme ich gleich noch. Doch seitdem? Viel „postmoderne“ Ironie, die das Pathos auf die Schippe nahm. Und wenn doch pathetisch, dann zeigte sich in manchen Fällen deutlich, dass das Monumentale und das Erhabene nicht dasselbe sind. Dafür mag Werner Tübkes Bauernkriegspanorama – Leinwandmaß 14 mal 123 Meter – ein Zeugnis ablegen.

Zuvor hatten die Maler Barnett Newman und Yves Klein in den 1950er Jahren etwas ganz anderes versucht, nämlich allein mit monochromen Farbflächen und großen Formaten das Erhabene zum Erlebnis werden zu lassen. In ihren Farbräumen war das Erhabene eben nicht Motiv einer Darstellung, sondern Effekt der Entgrenzung: Der Betrachter soll eintauchen in die Farbe, dazu die Leinwand – so wollte es Newman – aus nächster Nähe anschauen, also den Überblick verlieren. Hier galt nicht das Burkesche Distanzgebot (und es war nicht nötig, da schauerliche Motive ja fehlten). Die Sinne erleben bei der Übermacht der Farbe eine gewisse Überforderung, es gibt keine Anhaltspunkte für eine räumliche oder zeitliche Orientierung: Das Bild ist das Ereignis des Erhabenen im Augenblick. Allein Farbe und Form müssen „die bewundernde Überraschung, das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts, auslösen“, so beschrieb es Jean-François Lyotard in seinem Text „Der Augenblick, Newman“. Die Präsentation der reinen Präsenz ist das Erhabene.

Walter de Marias gigantisches Projekt „Lightning Field“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die moderne Land Art das romantische Konzept der Erhabenheit neu inszeniert. 400 Stäbe aus Edelstahl, etwa sechs Meter hoch, bilden das Blitz-Feld in New Mexico. Sie sind auf einer Fläche von 1,6 mal ein Kilometer in regelmäßigen Abständen senkrecht montiert – 17 Tonnen Stahl. Die Stäbe spiegeln das Licht in seiner Veränderung im Tagesablauf, was als erhabenes Schauspiel beschrieben wird, das seinen Höhepunkt oft in einem Gewitter findet, bei dem die Stäbe wie Blitzableiter funktionieren. Für Zuschauer gibt es einen sicheren Ort, so daß Burkes Forderung erfüllt ist, Erhabenheit solle ungefährdet zu genießen sein. Zwar ist die Form der Installation der eleganten Stäbe im Blitzfeld durchaus abstrakt-minimalistisch, da die Landschaft aber praktisch Teil des Werks wird, kehrt das gegenständliche Naturmotiv zurück.

Damit arbeiten auch Christo und Jeanne-Claude in ihrem Werk „Running Fence“ 1976 in Kalifornien. Über 39,4 Kilometer erstreckte sich der 5,50 Meter hohe Zaun aus weißem Nylongewebe, befestigt an stählernen Seilen und Stäben. Die Fotos davon zeigen ein erhabenes, poetisches Landschaftsbild. Es ist riesig, aber es hat nichts Bedrohliches. Die Stoffbahnen bewegen sich und lassen Licht hindurch – die ästhetische Absicht ist schon dem Material eingeschrieben. Das ist bei der Grenzbefestigung zwischen Israel und dem Gaza-Streifen selbstverständlich völlig anders. Obwohl die Bilder sich frappierend ähneln, ist das Erhabene hier nur abschreckend. Die Mauer soll unüberwindlich sein. Dass sie es nicht war: umso schrecklicher. Die beiden durch die Perspektive des Teleobjektivs formal so verwandt erscheinenden Bauten in der Landschaft unterscheiden sich in Absicht und Wirkung und durch Burkes Diktum: Genießen können wir nur gefahrlos. Andernfalls entstünde zudem ein ethisches Problem. Die Mauer in Palästina hätte Burke hässlich gefunden, aber erhaben: Hässlichkeit, verbunden mit starkem Schrecken, schrieb er, „ist verträglich mit einer Idee von Erhabenem“.

Und wie verhält es sich, wenn ein Künstler einen martialischen Grenzzaun spielerisch-ironisch mit einem bildnerischen Eingriff bearbeitet? Der Franzose, der sich kurz JR nennt, hat dies versucht und die Absperrung zwischen den USA und Mexiko symbolisch überwunden. 2017 montierte er das überdimensionale Foto eines Kleinkinds auf ein Gerüst neben den Zaun, so dass es auf der amerikanischen Seite so aussah, als schaue das Kind zufrieden wie über ein Spielzeug hinweg. Das schrecklich Erhabene war hier bewusst ins Lächerliche gezogen. Für einen überraschenden Augenblick verlor die Mauer ihren Schrecken.

Politische Bezüge sind dem Erhabenen nicht wesensfremd, im Gegenteil: Die Ästhetisierung der Politik setzt oft auf die Wirkung des Erhabenen, wie Walter Benjamin es am Fall des deutschen Faschismus erklärt hat. In diesem Themenfeld bewegt sich Anselm Kiefer mit seinen formal traditionellen Bildern und Objekten. Aktuell werden Werke von ihm wieder vermehrt öffentlich gezeigt. Zurzeit gestaltet er den 176 Quadratmeter großen „Eisernen Vorhang“ in der Wiener Staatsoper als Großbild. Der Künstler erweist sich als später Nachfahre der Romantiker. Seine morbiden Szenen auf riesigen Formaten sind düster; Grau und Braun dominieren. Man schaut auf unergründliche Landschaften und monumentale Architekturen. Die Werke erinnern atmosphärisch und symbolisch deutlich an dunkle Jahre der deutschen Geschichte. Ihre Erhabenheit gründet auf der Assoziation des Schreckens.

Das Pathetische, überwältigend Erhabene, immer in der Gefahr, ins Lächerliche zu kippen oder gekippt zu werden, ist aber nicht die ganze Wahrheit des Sublimen, das meist mit dem Erhabenen gleichgesetzt wird. Dessen Übersetzungen – „the sublime“ im Englischen und „le sublime“ im Französischen – erinnern indes an den wortgeschichtlichen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Subtilen, also gerade mit seinem dimensionalen Gegenteil. Eine Verbindung scheint in der Alchimie alter Zeiten zu liegen: Durch das Verdampfen von Substanzen, das Aufsteigen ihres Geistes ins Erhabene, aber kaum oder nicht mehr Sichtbare, gelang die Sublimation. Das so entstandene Subtile, das „Fast-Nichts“, ist nicht überwältigend, vielmehr nur mit besonderem Feinsinn wahrnehmbar. Es fordert das Empfindungsvermögen heraus, minimale Differenzen zu erspüren und sie zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Burke, der sich vor allem mit den zu seiner Zeit „allgemein bekannten“ und „mächtigen Quellen des Erhabenen“ befasste, mit Größe, Finsternis, Einsamkeit, Schweigen und auch Leere, machte in seinem Essay eine kurze Bemerkung, die in den sublimen Mikrokosmos weist: „Die alleräußerste Kleinheit (ist) in gewissem Sinne gleicherweise erhaben wie die äußerste Größe der Dimension.“ Ein „Extrem der Kleinheit“ sei „in seiner Wirkung vom Riesigen selbst nicht mehr zu unterscheiden.“ Lyotard, der an Burkes Überlegungen anknüpfte, findet die konträren Quellen des Erhabenen bei Newman verknüpft: das Schweigen und die Leere mit dem äußerst Subtilen. Große Farbfeldmalerei als subtile Darstellung von Nicht-Darstellbarkeit.

In solchen Paradoxen erscheint die Kunst vielleicht komplizierter als sie ist. Wir erfassen mit unseren Sinnen spontan, und wenn wir Erhabenes empfinden oder seine Lächerlichkeit, spüren wir es ohne Explikation. Aber wo bleibt am Ende das Flache? Nicht immer wurde es als minderwertig empfunden. Es soll vor langer Zeit christliche Theologen gegeben haben, die sich das Paradies als völlig flach vorgestellt haben und die die Berge für eine Strafe Gottes hielten, der sie über der Ebene aufgetürmt habe nach dem Sündenfall. Da ist es doch kein Wunder, dass die alten Briten die Alpen schrecklich fanden.

„Das Erhabene“ ist Thema der nächsten Veranstaltung in der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 23. November, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgassse. Beginn 19 Uhr.

Originelle Epigonen

Kometennaturen und Sprudelgeister – frei nach El Greco.

Es ist ein gesellschaftlicher Anspruch und ein gängiges Selbstbild gleichermaßen: Künstler*innen sind originell, ihre Werke einzigartig. Das gilt mittlerweile sogar für alle Kreative, und jeder Mensch ist ja irgendwie kreativ. Originalität wird damit praktisch zum Normalfall. Das Unterscheidende kann nur noch im Detail liegen.

Nach Eigenständigkeit, damit nach Unterscheidendem (Fachbegriff „Distinktion“, klingt schon an sich stinkfein) zu streben, ist ein weithin anerkanntes bürgerliches Ziel. Innerhalb von 200 Jahren hat sich diese Werthaltung entwickelt – vom ersten Auftreten der „Originalgenies“ im 18. Jahrhundert bis zum Alltagskreativen heute. Aber schon von Anfang an gab es Stress. Was ist denn eigentlich originell, sprich ursprünglich und einzigartig? Sind wir nicht alle als erstes Nachgeborene, natürlicherweise von Geburt an? Ob und wie sich der Mensch danach zum Original entwickeln kann, und wie er damit wirtschaftlich erfolgreich wird oder nicht, dieser Fragenkomplex hat sich hartnäckig gehalten, trotz aller Analysen und Diskussionen zwischen Enthusiasmus („Ich bin ein Star“) und Resignation („Wir sind alle Epigonen“).

Die Engländer sollen um 1750 mit dem modernen Originalitätskult angefangen haben. Eine Fülle von Briefen, Traktaten und Denkschriften ist überliefert, die zu beweisen versuchen, dass Literatur und Malerei nicht die Alten und die Traditionen nachahmen müssen, um gut und wichtig zu sein. Die größte Wirkung erzielte in deutschen Landen damals Edward Young mit seinen „Gedanken über die Original-Werke“ – die Übersetzung erschien 1760 schon ein Jahr nach der Originalausgabe. Young schrieb schön bildreich: Originalität lasse die Wüste erblühen, Nachahmung dagegen verpflanze nur fremden Lorbeer, dem dann der Humus fehle. Eine Spitze gegen den Adel, der sich immer selbst kopierte.

Der originelle Künstler galt als Naturtalent mit einem nicht zu bremsenden Schaffenstrieb; ihm fiel alles Gestalten leicht, er war reich an tieferen Empfindungen und genaueren Vorstellungen als sie der Normalmensch hat. Der formatsprengende philosophische Schlagabtausch über dieses Phänomen lässt sich hier nicht referieren. Interessant ist, welche originellen Bezeichnungen vernunftaffine Geister den nach Originalität strebenden Künstlern (das waren zu 99,9 Prozent damals Männer) verliehen: „Kraftknaben“, „Originalnarren“, „Sprudelgeister“ und „Kometennaturen“ lassen tief blicken. Herr Immanuel Kant ließ aus Königsberg verlauten, zwar sei das Genie das Talent, das der Kunst die Regel gibt, aber vor übertriebener Originalität sei zu warnen: Es gebe auch „originalen Unsinn“. Wenn jede Regelverletzung originell ist, verselbstständigt sich das Streben danach ins Banale.

Doch alle Bedenken halfen zunächst wenig. Die Geister wollten und mussten sprudeln, um des Erfolgs willen. Die Begeisterung des Publikums und der Markt verlangten Originalität – bis zur Erschöpfung. Dass dieser Zustand eintrat, bezeugt ein gescheiterter Maler im 19. Jahrhundert: Gottfried Keller. Als Schriftsteller hatte er dann Erfolg, und seine biografische Einsicht: Wir können nicht mehr originell sein, alles war schon einmal da, wir sind zur Epigonalität verdammt, hat er in Novellen und seinem Künstlerroman „Der grüne Heinrich“ von allen Seiten beleuchtet. Es gebe, so steht es in der ersten der „Züricher Novellen“, „nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen“. Bezeichnend, dass die Metaphorik hier in die Sphäre der Industrieproduktion greift.

Es war eine Haltung der Zeit: Karl Immermann veröffentlichte ab 1823 seinen mehrbändigen Roman „Die Epigonen“. Die „jetzige Generation“, so heißt da, kann aus einer Überfülle der Vorbilder schöpfen, alle vorhandenen Themen und Formen ausprobieren – aber immer nur als „Nachhall eines anderen selbständigen Geistes“. Die Position des Nachkommens und Nachahmers wird akzeptiert – so auch das Fazit der Geniekünstler-Kritik Kellers: Nicht wer gewaltsam originell sein möchte, sondern wer sich bescheidet ist am Ende dann vielleicht ein Nachfolger mit relativ eigenem Profil. Was damals verhandelt wurde, klingt wie ein Vorspiel zur sogenannten „Postmoderne“ rund 150 Jahre später.

Wenn wir diesen Zeitsprung machen, landen wir wiederum bei der Einsicht, dass auch das Allerneueste und Individuellste immer grundiert ist von historischen Vorbildern, Inhalten und Formen. Den Mythos der Originalität zu hinterfragen, war in den 1980er Jahren eine neuerliche Regelverletzung, die in der Kunst mitunter seltsame Blüten trieb. Aber: Der Freiraum fürs unbeschwerte Nachahmen, Kopieren, Dekonstruieren usw. war erneut offen.

Originalität und ihr Mythos sind aber zweierlei. Die Strategie der Einzigartigkeit war mehr als Marketing, erzeugte nicht nur Sprudelgeister und schnell verglühende Kometen. Der moderne Kanon von Originalkunst ist kaum umstritten: Werke von Caspar David Friedrich, Edouard Manet, Alberto Giacometti, Joseph Beuys nur als Beispiele. Doch keiner von ihnen arbeitete im luftleeren Raum; auch die Imagination und Praxis der Stars bediente sich an Vorhandenem.

Und das war im Grunde nichts Neues, deshalb noch einmal zurück, zunächst zu Hercules Seghers und Rembrandt van Rijn: Seghers ist unbestritten originell in seinen fast abstrakten Landschaften, für das 17. Jahrhundert völlig ungewöhnliche Darstellungen. Rembrandt, der im Ruf stand, eigensinnig die barocken Regeln der Kunst zu mißachten, hatte kein Problem damit, eine Radierplatte von Seghers zu nehmen und ein Figurengruppe in die Landschaft einzuarbeiten: „Die Flucht nach Ägypten“, 1653 – Appropriation in ihrer Frühform. Nun war dies die Vorgeschichte des eigentlichen Geniekults, in der der Werkstattgedanke und die Kooperation noch verbreitet zum künstlerischen Alltag gehörten. Originalität stand nicht im Widerspruch dazu.

Als originell empfanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Kunstkenner etwa auch Jan van Huysum, genannt „Phönix der Blumen- und Fruchtmaler“: Seine gewöhnlichen Motive und dekorativen Bilder fürs bürgerliche Renommierzimmer würden heute als kitschig empfunden. Etwas originell zu finden, das zeigt dieser Fall, ist eine Frage des Standpunkts.

Caspar David Friedrich ist ein unbestrittener Solitär, und seine Arbeitsweise ist das Gegenteil zur personalreichen Malerwerkstatt: Einsam abgeschottet im stillen Atelier an der Elbe gestaltete er seine Bilder, mit Motiven aus der Natur, aber nicht nach der Natur. Seine originellen Visionen bieten nach wie vor Anlass zu tiefschürfenden Interpretationen. Seine Arbeitsweise war aber recht pragmatisch und profan. „Der Watzmann“, 1824/25 entstanden, beruht auf einem Aquarell eines Schülers; Friedrich hat den Berg nie gesehen. Und die Steinfiguration im Bild vor dem Riesenberg hatte er 1811 im Harz gezeichnet. Ein modernes Aneignungs- und Montageverfahren.

Die so entwickelten Strategien, gegebene Muster nachzuahmen, zu variieren, zu demontieren, Kontexte zu verändern, sie ganz dem eigenen Empfinden unterzuordnen, kurz: aus Überliefertem Neues zu machen, haben in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zu den allseits bekannten Blüten geführt. Nur war zuvor keine Wüste da, sondern bereits sorgsam bestellter Acker. Nicht immer zog das Publikum mit und fand die Blüten schön. Tabubrüche sorgten auch für Skandale. Aber das war vielen um Aufmerksamkeit ringenden Künstlern nur recht: Je provokativer, desto origineller.

Das Leitbild des Original-Genies war Ende des 19. Jahrhunderts trotz aller Bedenken fest etabliert in den Kunst-Institutionen und auf dem Kunstmarkt. Der individuelle Schöpfer trat aus seinem stillen Atelier ins Licht der Öffentlichkeit und hatte sich der Kritik zu stellen. An diesem Künstlerhabitus orientiert sich bis heute die gesamte Kreativwirtschaft, obwohl längst klar ist, dass es voraussetzungslose Originalität nicht gibt. Dieser Mythos hatte seine Funktion im Kulturkampf zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in den „Querelle des Anciens et des Modernes“, in denen Nachkommenschaft strategisch ausgeblendet war. Dass diese Fiktion sich trotz besseren Wissens auch heute ungebrochen hält, hat nicht nur Marketinggründe, sondern bedient auch eine romantische Sehnsucht.

Die erfüllen paradoxerweise selbst Stars der Kunst, die das institutionalisierte System unterlaufen wollen. Wie originell ist es, wenn Marcel Duchamp einen handelsüblichen Flaschentrockner nimmt und in den Kunstkontext stellt? Das Objekt hat er weder erfunden noch gestaltet, trotzdem kann er damit die Kunstgeschichte verändern, indem er Erwartungen und Regeln über den Haufen wirft. Andy Warhol machte in Folge in seiner „Factory“ die profane Warenästhetik zum Inhalt der hohen Kunst. Er profitierte von Duchamps Tabubruch, den er konsequent weiterdachte. Wie weit war er Weg vom klassischen Früchtestilleben zur Supermarkt-Suppendose? Jedenfalls gelang es Warhol, trotz kooperativer Arbeitsweise und Serienproduktion noch als origineller Star zu posieren.

Das Problem, dass keine Grenzen mehr blieben, die noch zu überschreiten waren, stellte sich im 20. Jahrhundert den Künstlerinnen aufs Neue. Wie schon der epigonale Landschaftsmaler Gottfried Keller zweifelten nun viele an dem Anspruch der Originalität. Die ständig verlangte Innovation war einfach nicht mehr zu leisten. Originalität galt „postmodernen“ Künstlerinnen als Ideologie – individualistisch, kapitalistisch, männlich, westlich. Diese Kritik fand ihren Ausdruck am deutlichsten in einer Form visueller Kunst, die bewusst mit Zitaten und Kopien arbeitete. „Appropriation Art“ (Kunst der Aneignung) brachte in den 1980er Jahren zudem Künstlerinnen ins Gespräch: Sherrie Levine sorgte für Aufsehen mit ihrer Foto-Serie „After Walker Evans“. Levine kopierte die bekannten Dokumentarbilder von Evans aus den 30er Jahren, das war ihr Werk. Keine eigene Schöpfung, keine Originalität was Motiv und Gestaltung angeht. Levines Kreativität lag im provokanten Konzept, das die herrschenden Vorstellungen von Autorschaft in Frage stellte. „Das Bild eines Bildes ist ein sehr seltsames Ding“, wird sie zitiert: „Ich versuche, mich nicht vom Original tyrannisieren zu lassen.“

Elaine Sturtevant, eine Pionierin der Appropriation Art, machte es ähnlich wie Rembrandt: Sie griff nach Arbeitsmaterial berühmter Vorgänger, unter anderem von Andy Warhol, dessen Drucksiebe von „Flowers“ sie benutzte, um eine neue Auflage anzufertigen. Und Cindy Sherman inszenierte sich in Selbstporträts (History Portraits) in Kostümen nach Gemälden alter Meister. Die Reproduktionen stellten die Rollenbilder zur Debatte, ebenso wie ihre Inszenierung alltäglicher Szenen im Haushalt. Die wiederum fanden Nachahmer in sogenannten „sozialen Netzwerken“: Fans stellten ihre Imitationen der Sherman-Fotos ins Internet. Spätestens jetzt war das Konzept im populären Feld angekommen: Keine Angst vor Wiederholung. Spielerisch, ironisch und kritisch zeigt sich der originelle Epigone.

Über dieses Thema diskutiert die philosophische Runde mit Rüdiger Kaun und Jürgen Röhrig am Donnerstag, 19. Oktober, um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.

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Bildbetrachtung

Original ohne Absicht, Absicht ohne Original

Basis-Kosmos. Foto-Datei Jürgen Röhrig 2023

Kratzspuren und Farbflecken auf dunklem Grund. Eine Zeichnung aus hellen Linien, Punkten, unregelmäßigen Klecksen. Die bunten Töne in einer Abstufung von Gelb zu Rot, dazu etwas Blau und Blaugrün – delikat. Das Bild erlaubt den Blick in einen tiefgründigen Kosmos, ist kein Abbild des Nachthimmels, aber belebt wie dieser: Kometenstreifen, Sterne und Spiralnebel, wenn man diese Assoziationen will. Und der Himmel ist bereits vermessen, in einem regelmäßigen Raster, das die Fläche in zwölf Quadrate aufteilt.

Diese Fotografie zeigt einen kleinen Ausschnitt eines Atelierfußbodens in einer Kunsthochschule. Generationen von Studenten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Die robusten Industriekacheln, 15 mal 15 Zentimeter, sind arg strapaziert worden, was von den physikalischen und farbchemischen Kräften erzählt, die da ausgeübt wurden, ebenso von einer zeitlichen Entwicklung, die nicht zu Ende ist. Das Ergebnis ist die Summe ungeplanter, zufälliger Einwirkungen. Obwohl keine Absicht dahinter steckt, so ist das Bodenbild vor Ort doch ein Original.

Absicht und geplante Gestaltung sind aber Voraussetzung des Fotos, das die ästhetische Qualität des Gegenstands zeigen soll. Vor Ort fotografiert und am PC aufbereitet, ist das Bild ein eigenständiges Werk zwar, aber kein Original. Wie das bei beliebig oft technisch reproduzierbaren Dingen so ist.

Ende mit Schrecken

Eine Institution verabschiedet sich: Die „Kunstzeitung“ aus dem Haus Lindinger und Schmid macht Schluss. „Unwiderruflich: Diese KUNSTZEITUNG ist die letzte Ausgabe“, heißt es auf Seite 2 der im Juli erschienen Nummer 306. Fast drei Jahrzehnte lang war das unabhängige Blatt mit Berichten, Analysen und Kommentaren zur Kunstszene ein zuverlässiger Begleiter. Kostenlos lag das Produkt allmonatlich in Museen, Galerien und anderen Kunstbetrieben aus.

Ein gutes Angebot für interessierte Menschen, vor allem auch für weniger Betuchte. Das Blatt zeigte sich in der Regel informativ, fundiert und meinungsstark, war in seiner (Nicht-)Preisklasse konkurrenzlos. Da entsteht jetzt eine deutliche Lücke auf dem Markt.

Warum geben Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid auf? „Wir bleiben auf einem Teil der immens steigenden Produktionskosten sitzen“, schreiben sie. Die Werbeeinnahmen seien in der Pandemie deutlich gesunken und danach nicht wieder ausreichend gestiegen. Die letzte Nummer erschien mit vielen weißen Flächen im Anzeigenraum. Dazu komme, dass Anträge auf Corona-Hilfen abgelehnt wurden: „Nicht einen einzigen Cent bekam die KUNSTZEITUNG während der Corona-Zeit aus dem Neustart-Etat der Kulturstaatsministerin“, so die Klage. Man fühlt sich ungerecht behandelt.

Doch nicht nur die schlechte finanzielle Lage, auch die veränderte Haltung des Publikums spielt eine Rolle für die Entscheidung, das Projekt zu beenden. „Die Digitalgeneration mag sich nicht mehr tief in die Themen beugen.“ Allgemeine Verflachung in der Wahrnehmung gehe einher mit der Verflachung im Programm von Museen, die dafür auch nicht mehr werben wollen, was ja – wenn es stimmt – sogar konsequent wäre.

Selbst teilnehmen an der Digitalisierung, etwa mit einem Blog, wollte die Kunstzeitung offenbar nicht. Im Netz gibt es auf der Website lediglich ein pdf der aktuellen Ausgabe (lindinger-schmid.de). Das Papierzeitalter geht insgesamt zu Ende, die neuen elektronischen Formate haben sich durchgesetzt – und das bedeutet nicht per se Verflachung.

Meinungsfreudig, wie ich sie immer geschätzt habe, ist die Kunstzeitung auch beim Finale. Schmid appelliert noch einmal: „Künstler, aufwachen!“, plädiert für „mehr Avantgarde, weniger Mainstream“. Denn er vermisst den „Mut, das wirklich Neue zu wagen“. Die Künstlerschaft habe Unabhängigkeit und mühsam eroberte Freiräume aufgegeben, stattdessen „überall Duckmäuserei, unsägliche Trauerspiele in den Ateliers“, die Schmid als Brutstätten der Marktangepasstheit und moralischen Korrektheit ausmacht.

Dass diese Kritik keine Ausnahmen erlaubt, nicht die inspirierenden und unangepassten Arbeiten vieler gegenwärtiger Künstler*innen sieht, erstaunt mich. Andererseits hat mich der Besuch der Diplomausstellung der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig vor ein paar Tagen enttäuscht. Der Nachwuchs dort lieferte praktisch eine Bestätigung für Schmids Thesen, doch diese einzelne Stichprobe lässt sich nicht verallgemeinern.

Schmid aber tut das: „Die Lage ist katastrophal“, resümiert er – wer das ohne Einschränkungen und ohne Lichtblick so sieht, will vielleicht auch deshalb keine Kunstzeitung mehr machen.

AugenBlick

kurz vor der Erfindung des Rads

Artists are fighting back

Wenn die so genannte Künstliche Intelligenz ein Kunstwerk produzieren soll, was immer man ihr als Inhalt dieses Begriffs einprogrammiert hat, wenn sie also ein Bild malen soll, kann sie schlecht einfach ein vorhandenes kopieren, denn das wäre bloß ein Plagiat. Also füttert man sie mit den Daten aller Werke einer Künstlerin, und die Maschine gestaltet daraus ein Werk im Stil der Vorbilder. Was natürlich Quatsch ist, denn wohl kein Künstler käme auf die Idee, mal ein Bild zu malen, das irgendwie so aussieht wie die Summe aller seiner bisherigen.

Vielleicht deshalb ist die „KI“-Industrie heute längst dabei, alles was an Bildern im Internet zu finden ist einzusammeln und damit die Algorithmen zu füttern. Aufgrund dieses Datenschatzes sollen dann richtige Kunstwerke entstehen, die die lebenden Künstlerinnen das Fürchten lehren. Nun ist das eher ein frommer Wunsch, denn dahinter steht keine schöpferische Leistung (wie bei den Vorbildern), sondern bloß eine – sicherlich staunenswerte – Rechenleistung. Die Ergebnisse lassen sich sicher gut auf der Kirmes verkaufen. Ja, das ist polemisch, ich weiß, dass die Kirmes heute Auktionshaus heißt.

Und ist es auch nicht intelligent, so hat es doch Methode: Mit dem populistischen Hype um „KI-Kunst“ lässt sich viel Geld verdienen. Das Problem ist aber, dass die verwendeten Vorbilder in der Regel urheberrechtlich geschützt sind, dass ihre Aneignung durch die Tech-Konzerne ohne Wissen, ohne Erlaubnis und ohne Vergütung der betroffenen Künstler geschieht.

Dagegen regt sich jetzt Widerstand: „Artists are fighting back“, schreibt Molly Crabapple auf ihrer Website mollycrabapple.com, „and people, it seems, are waking up.“ Die Malerin und Illustratorin hat mit anderen Künstler*innen eine Aktion gestartet, die Proteststimmen sammelt. Wer sich betroffen fühlt, kann sich auf http://hypebeast.com/2023/5/molly-crabapple-artificial-intelligence-art-petition informieren und findet einen Link zum Unterzeichnen. Das massenweise Abfischen von urheberrechtlich geschützten Bildern im Internet bezeichnet Crabapple als den größten Kunstraub der Geschichte.

Ist das nicht alles übertrieben, ist das Internet nicht ein Raum der Freiheit, von dem wir alle und auch die Künstlerinnen letztlich profitieren? Das ist ein frommer Wunsch, doch jeder, der seine Daten im Silicon Valley abgibt – und wer tut das nicht – weiß, dass die Realität anders ist. „Wir leben vielmehr unter kapitalistischen Bedingungen“, daran erinnert Naomi Klein in der Juni-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (S.55), daher werden die Menschen nicht freier, sondern eher freigestellt, das heißt, Maschinen übernehmen ihre Jobs. Und diese bekannte Tatsache gelte nun auch für Künstler*innen. Sie werden, meint Klein, sogar unter den ersten sein, die von Technologien vom Markt gedrängt werden. Nicht nur Grafiker, Werbefotografen und Gebrauchsillustratoren könnten durch KI ersetzt werden, auch die Position freier Künstler sieht sie in Gefahr. Deshalb: Seine Urheberrechte an den Daten sollte keiner kampflos preisgeben. Crabapple, wir kommen.

Kunst mit allen Sinnen

Wir sehen, was wir fühlen? Foto: Jürgen Röhrig

Das Surroundvideo „Tales of the Altersea“ der schwedischen Künstlerin Lap-See Lam, das gerade im Frankfurter „Portikus“ zu sehen ist, begeisterte die Kritikerin einer Tageszeitung: Die Arbeit, so lobte sie, sei „sinnlich erfahrbar“.
Tatsächlich? Ist das angesichts eines raumgreifenden Kunstwerks mit bewegten Bildern und Tönen überraschend? Was bedeutet es, wenn eigens erwähnt wird, dass die Sinne angesprochen sind? Offenbar leben wir in einer Gedankenkunstwelt.

Mangel an Sinnlichkeit in einer intellektualisierten Kunstproduktion wird auch von Künstler*innen selbst hin und wieder beklagt. Sonja Alhäuser zum Beispiel will diesem Mangel in ihrem Werk entschieden begegnen, beseelt von der Idee, dass Kunst sich ausschließlich über die Sinne vermittelt. Rirkrit Tiravanija kritisierte die „Art und Weise, Kunst vornehmlich mit dem Auge aufzunehmen, sie zu objektivieren und zu intellektualisieren“. Seine Kochperformances gelten als „Einbringen der sinnlichen Wahrnehmung in den Kunstkontext“, so die Formulierung der Freiburger Kunstwissenschaftlerin Mirja Straub.

Es ist leicht, letzterem zu widersprechen und dagegen zu halten, dass keine Malerei-Ausstellung, keine Performance und kein Konzert funktionieren, wenn das Publikum nicht mindestens Augen und Ohren aufsperrt. Ich werte diese etwas schräge Aussage aber als Symptom für ein tatsächliches Defizit. Es ist ja richtig, dass die Theorie seit Jahrhunderten einen körperlosen Geist des Menschen als Adressaten der Kunst proklamiert und das Gefühl, die Sinnlichkeit als untergeordnetes, ja sogar eher schädliches Phänomen abqualifiziert. Die philosophische Ästhetik ist bis heute nicht ganz frei von dieser Ideologie.

Nach ihren Grundsätzen arbeitet natürlich – mit vielleicht wenigen Ausnahmen – keine Künstlerin, und so ist es eigentlich nicht erstaunlich, wenn ihre Werke die Sinne ansprechen.

Ich möchte im Folgenden die verschiedenen menschlichen Sinne einmal benennen, ihre allgemeine Funktionsweise kurz skizzieren, um daraus abzuleiten, dass Wahrnehmung und Imagination eng zusammenhängen, woraus sich ergibt, dass Kunst nur über die Sinne verständlich wird.

Wovon sprechen wir, wenn es um „die Sinne“ des Menschen geht? So selbstverständlich, wie er meist benutzt wird, ist der Begriff durchaus nicht. Aristoteles kannte die klassischen Fünf: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Er übersah einige weitere, so den Gleichgewichtssinn und die „Propriozeption“, das ist die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers. Macht sieben. Manche Fachleute kommen gar auf zwölf: Zu den somatischen Sinnen zählen da Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man mit der inneren Stimme rechnet (siehe das Kapitel „Die Einheit von Wahrnehmen und Denken“ in diesem Blog).

Sinne verwandeln Reize der Außenwelt in Informationen. So registrieren die Augen Lichtwellen, und die entsprechenden Gehirnareale konstruieren aus den Signalen zum Beispiel den Eindruck von Farbe. Die Empfindung ist nicht völlig identisch mit den Daten der Netzhaut. Das Wort Konstruktion ist wichtig. Wie der Inhalt der Empfindung interpretiert wird, hängt zudem nicht allein von den aktuellen Wahrnehmungen ab, sondern auch vom gleichzeitig laufenden Abgleich mit bereits gespeicherten älteren Erfahrungen. Es ist also nicht so simpel, wie Sinne funktionieren. Doch hier liegt, wie ich meine, eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass wir ein Bild sehen, also sinnlich wahrnehmen, und doch nicht sehen können, weil bereits eine fertige Interpretation hinterlegt ist. Auch das ist eine Funktion unserer Wahrnehmung.
„Keinen Sinn für etwas zu haben“ ist eine Metapher, die hier zutrifft: Obwohl das Sinnesorgan funktioniert, sind wir möglicherweise nicht empfänglich für die Reize.

Der Sehsinn ist für die Kunstwahrnehmung mit Ausnahme des Musikerlebnisses sicher der wichtigste. Nicht ohne Grund zielt das „Sensorische Marketing“ unserer Konsumwirtschaft vor allem auf die Augen, mit denen die potentiellen Kunden 83 Prozent aller Informationen aufnehmen. Was in den Diskussionen kaum erwähnt wird: Auch beim Betrachten von Bildern, Plastiken oder Gebäuden ist nicht nur der Sehsinn angesprochen. Wir sehen aus einer Körperposition, von einem Standpunkt aus, und die Erfahrungen des Bewegungsinns (Kinästhetik), das taktilen Sinns und die erwähnte Propriozeption wirken mit. Wahrnehmen ist eine weitgehend unbewusste, aber komplexe Tätigkeit.

Dass trotzdem nicht alle Sinne gleichermaßen angesprochen werden von den Schöpfungen in den Ateliers, ist eine alte Klage, und als besonders benachteiligt gilt der Geruchssinn. Für die Nase wurde lange nichts gestaltet, dabei wecken auch Gerüche Gefühle und Erinnerungen, die Wahrnehmungen beeinflussen. In jüngster Zeit gab es mehrere Ausstellungen zum Thema Düfte in der Kunst: „Unsichtbare Skulpturen“ wurden da präsentiert, auch mit dem Anspruch, die vorherrschenden visuellen Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen.

Sinne beeinflussen sich gegenseitig, und ein Sinn kann einen anderen sogar ersetzen: Mittels „Echolokation“ schaffen es entsprechend geschulte Menschen, ihre Umgebung akustisch abzutasten. Sie erzeugen dazu Klicklaute (eine Technik, die auch Delfine verwenden). Der Echo-Sinn erzeugt eine mentale Repräsentation des Raums, die dann dem Sehsinn zugänglich ist: das innere Bild auf einem Umweg erzeugt. Die Einbildungskraft ist hier nicht freie Fantasie, sondern wirklichkeitsadäquat.

Dass Imagination eine Erkenntnisfunktion ist, untermauert auch ein Blick auf das Stichwort „Synästhesie“: Dabei geht es hier nicht um Spezialfälle, die Töne als Farben wahrnehmen oder ähnliches, sondern um die prinzipiell synästhetische Organisation der Wahrnehmung. Beim Hören eines Wortes zum Beispiel schwingen für die Interpretation des Signals visuelle, taktile und andere Assoziationen mit. Gefühle wiederum sind oft die Auslöser für synästhetische Phänomene: Seine Italiensehnsucht führte bei Heinrich Heine dazu, dass schon der Anblick der Alpen ihn „Zitronen- und Orangendüfte“ wahrnehmen ließ.

Es spricht also nichts dafür, dass die leiblichen Sinne dem Denken untergeordnet sind, im Gegenteil: Sinnlichkeit ermöglicht erst unser Denken. Angewendet auf das Betrachten von Kunstwerken sollte es daher zunächst um die einfachen Beobachtungen gehen. Wenn ich ganz bescheiden feststelle, was die Sinne aufnehmen an Farbe, Form, Material, Textur, Gerüchen, Tönen, ihren Bezügen und der Umgebung, erschließen sich wie von selbst Interpretationsansätze, während die Vor-Urteile erst einmal in den Hintergrund rücken. Der Vorgang ähnelt dem der sinnlichen Erfahrung generell, wie John Locke ihn beschrieben hat in seinem berühmten Essay „Über den menschlichen Verstand“: Alles im Geist kommt aus der Wahrnehmung der einfachen Ideen wie Ausdehnung, Festigkeit, Beweglichkeit, Dauer, Zahl und so fort. Diese durch die Sinne erzeugten Ideen sind real und keine Fiktion des Geistes, darauf bestand der Philosoph, denn der Geist könne einfache, ursprüngliche Ideen nicht selbst erzeugen. Der Verstand ist aber fähig, so Locke, aus den einfachen Ideen „nach Belieben neue komplexe Ideen bilden“. Hier haben wir das Fundament der Imagination, und Locke sah im 17. Jahrhundert auch bereits, was die Naturwissenschaft heute bestätigt: Wahrnehmungserfahrungen und -gewohnheiten prägen das Urteilsvermögen. Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik veröffentlichte 2022 Forschungsergebnisse, die Locke erfreut hätten: Er lag mit seiner Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung insgesamt richtig.

So ist auch die unmittelbare sinnliche Kunst-Erfahrung, wie oben beschrieben, am Ende nicht frei von den erlernten Vor-Urteilen, sondern selbstverständlich immer abhängig von den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Autors wie des Interpreten. Das ist nicht per se ein Nachteil, denn der jeweilige kulturelle Rahmen ist der Orientierungsrahmen, also hilfreich, wenn er das genaue Hinschauen nicht ersetzt.

Oder das Hören, Schmecken, Riechen: „Multisensorik“ gab es schon bei den Futuristen, die an „performativen Abenden“ zu Musik und Duftereignissen einen verzehrbaren „Flugzeugrumpf“ präsentierten – er bestand aus Kalbfleisch. Dieses Thema zieht sich durch die Kunstgeschichte bis in die Gegenwart, siehe Alhäuser, Tiravanija oder auch Daniel Spoerri. Wenn es auch immer um die Sinne geht in der Kunst, werden sie doch nicht immer als solche thematisiert. Eine der seltenen Arbeiten, die sich mit dem Phänomen der Sinnes-Substitution befasst, ist „Einton-Musik außerhalb (oberhalb) des menschlichen Hörbereichs“ von Timm Ulrichs. Der Titel der Installation von 1969/70 erklärt, was auf dem Oszillographen in diesem technischen Ensemble zu sehen ist: das bewegte Bild dessen, was erklingt, aber für Menschen nicht hörbar ist.
In dieses Kapitel gehört auch das außergewöhnliche Werk des (nicht von Geburt an) blinden Fotografen Evgen Bavčar. Er läßt sich seine Bilder mit Worten beschreiben, um ein innere Vorstellung entwickeln zu können. „Ich brauche den Blick des anderen, damit die Bilder in mir erweckt werden.“ Das verweist auf den sozialen Gebrauch der Sinne, auf das Sinn(en)-Angebot von Kunst generell: Zeigen lenkt den Blick, steuert die Aufmerksamkeit des anderen.

Es gibt also etliche Ansätze, die an dem eingangs beklagten Defizit an Sinnlichkeit in der Kunst nicht leiden. Viele Künstler*innen würden es von sich weisen, da Nachholbedarf zu haben. Wer nicht gerade strenge Konzeptkunst macht und sein Angebot auf die Sensation einer Schrifttafel reduziert, kommt an den Sinnen – wie beschrieben – ja gar nicht vorbei.

Es bleibt aber festzuhalten, dass die Kulturkritik seit mehr als hundert Jahren das Thema Defizit ebenso hartnäckig wie nahezu ergebnislos verfolgt. Die Reformpädagogik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wollte „dem Kinde feinere Augen und Ohren geben“. Da freute sich das Militär. In den 1970er Jahren griff die „ästhetische Erziehung“ diese Ansätze unter dem Stichwort „Kultur der Sinne“ wieder auf. Im Schulalltag kam davon kaum etwas an.
Susan Sontag forderte bereits in den 1960er Jahren genau das, was heute immer noch gefordert wird: die Sinne erweitern, ja sie gar erst einmal wiedererlangen. „Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen“, heißt es in „Kunst und Antikunst“. Aber Sontag war auch klar, dass die Künstlerschaft da bereits vorangegangen war, die ihre Mittel „radikal erweitert“, neue Formen des Erlebens entwickelt hatte – als „selbstbewußte Ästhetiker“. Und ganz aktuell ist die Forderung nach einer „neuen Kultur der Leiblichkeit und der Sinne“ wieder da: In seiner Dankesrede zur Verleihung des Erich-Fromm-Preises plädierte der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs im März 2023 für genau das, was da seit Generationen gepredigt wird.

Er hat ja Recht, im Prinzip, nur ist es eben nichts Neues. Woher kommt dieser immerwährende Refrain, warum bleibt das Problem, was steckt dahinter? Bei Fuchs ist es die durch die Debatte um so genannte „Künstliche Intelligenz“ und dem leibfeindlichen Denken befeuerte Sorge um den Menschen, die ihn das Thema aktualisieren lässt.
Doch wahrscheinlich greift Kulturkritik hier generell zu kurz, wie immer, wenn sie sich auf Ästhetisches beschränkt, sich also nur auf den „Überbau“ bezieht. Dass hinter den ästhetischen Problemen handfeste gesellschaftlich-ökonomische stehen, wird entweder ausgeblendet oder, wenn kritisch-theoretisch benannt, nicht mit Praxis verbunden.
Sontag sah die Ursache für eine „massive Betäubung der Sinne“ in der industriellen Wirklichkeit und die Kunst als „Schocktherapie“ dagegen. Jahrzehnte später hielt es Oskar Negt für unerträglich, dass die „arbeitsteilige Spezialisierung unserer Sinne“ die Erfahrungen und das Wissen, Bild und Begriff auseinanderreiße. Vielfach folgte politisch nichts aus den kritischen Analysen – die Strukturen zeigten sich verfestigt.

Trotzdem kann jeder, Künstler*in wie Rezipient*in, die Vielfalt seiner Sinne wirken lassen, so wie es ja auch geschieht im alltäglichen Gebrauch, in der aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomen. Die Sinne zu schärfen, zu erweitern und damit für Neues zu öffnen, das kann sinnvoll sein, solange es nicht in aufgeregtes Selbstoptimierungstraining mündet. Es mangelt in unserer Umwelt ja nicht an möglichen Eindrücken – bis zur Überforderung.

Wenn wir einem Kunstwerk attestieren, es habe unsere Sinne angesprochen, dann meint das wohl eigentlich: Es hat Emotionen in Gang gesetzt, die auf andere Weise nicht berührt wurden, es hat im besten Fall unseren Blick auf die Welt ein wenig verändert. Das könnte ein Anspruch an gute Kunst sein.

Dieses Thema steht zur Diskussion bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Siegburg am Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr. https://events.siegburg.de/Veranstaltungen/Ist-Kunst-nur-fuer-die-Augen-da.html

Kunst ist nahrhaft

Im Titel der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ in der Siegburger Stadtbibliothek steht das „Brot“ konkret für die materielle Existenzgrundlage wie bildlich für die geistige Nahrung. Die Kunst soll in keiner Hinsicht brotlos sein. Das Thema hat Künstler*innen durch die Jahrhunderte immer wieder fasziniert und angeregt. Wenn man sich anschaut, was sie da alles mit Nahrungsmitteln angestellt haben, darf man staunen. Ob sich auch Appetit oder gar Ekel einstellt, hängt wie üblich auch vom Geschmack des Betrachters ab.

Stillleben mit Früchten, Jagdstrecken oder kompletten Vorratskammern sind seit der Antike bekannt und beliebte Motive. Nahrungsmittel tauchen in Bildern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Bedeutungen auf. Im 20. Jahrhundert benutzten immer mehr Künstler*innen Lebensmittel aber nicht mehr nur als Motiv, sondern auch als Material für ihre Werke. So Marcel Duchamp in den 1930er Jahren, als er in einem surrealistischen Environment Kaffeebohnen röstete, um eine Duftnote zu setzen. Es trifft aber nicht zu, dass künstlerische Zweckverfremdung von Lebensmitteln erst in der Moderne erfunden wurde. Der Künstlerbiograf Giorgio Vasari schilderte im 16. Jahrhundert Feste, bei denen die teilnehmenden Maler und Bildhauer sich überboten mit Objekten, die anschließend gegessen wurden: Architekturen aus Würsten und Käse, Figuren aus Geflügel, Bücher aus Lasagne – ein Gang kurioser als der andere.

Solche Vorbilder werden lebendig, wenn man zum Beispiel Videos von Sonja Alhäusers Performances und Publikumsevents anschaut: Der Mann, der langsam in ein Bad von geschmolzener Schokolade taucht und braunglänzend überzogen und triefend wieder auftaucht, hätte in ein Renaissance-Künstlerfest ebenso gepasst wie der figürliche Brunnen aus Margarine, aus dem Rotwein fließt.

Als Spielmaterial in einer Performance werden Lebensmittel hin und wieder verwendet, vor allem sind sie heute aber nach wie vor Bildmotiv und Gestaltungsmaterial. Aus dem großen Vorrat sollen hier einige Appetithappen gereicht werden.

Nahrungsmittel als Motiv: Auch in diesem tradierten Genre hat die Fotografie als Technik an Bedeutung gewonnen. Die Inszenierungen sind oft sehr witzig, offenbar beflügelt gerade das Alltagsmaterial den Humor. Anna Blumes Kampf mit den fliegenden Kartoffeln in der Kleinbürgerküche sind ein Klassiker. Politische Satire gestalteten Siglinde Kallnbach mit verschimmelten Würstchen und Klaus Staeck mit einer angefaulten Birne. Ute Bartel fotografierte Wurstscheiben und montierte sie zu Ornamenten.

Petra Weifenbachs Konzept schafft die Verbindung von der Kategorie Bildmotiv zur Kategorie Bildmaterial: Aus ihren Fotos von Geflügel, Tortenstücken und anderen Leckerbissen baut sie papierene Braten oder Kuchen – ein Dreierschritt vom Lebensmittel über das Bild zum Objekt.

Das Thema Nahrungsmittel als Material hat wie geschildert auch eine lange Vorgeschichte. Seit die Futuristen „Flugzeugrümpfe“ aus Kalbfleisch verspeisten, hat sich das Essen mit Publikum als Kunstevent gehalten. Alison Knowles Auftritt mit „Make a Salad“ von 1964 war wohl die erste Salatzubereitung als Fluxus-Performance. „Eat Art“ praktizierte nicht nur Sonja Alhäuser, als Erfinder dieser Variante gilt Daniel Spoerri, der nach den Events mit Gästen die abgegessenen Tafeln zu „Fallenbildern“ machte. Alles, was noch auf dem Tisch war, wurde fixiert und als Tafelbild an die Wand gebracht. Das gemeinsame Kochen und Essen steht auch im Mittelpunkt der Kunst von Rirkrit Tiravanija. Bei all diesen und ähnlichen lukullischen Aktionen ist der Übergang zum normalen Restauranterlebnis oder der privaten Feier fließend. Kochkunst eben.

Das Material künstlerisch zu verwenden, heißt es verwandeln: Ute Bartel präsentiert Kartoffelschalen als Liniengebilde, Ilse Wegmann Objekte und Rauminstallationen mit Mehl oder Zuckerwürfeln, und sie verwendet nicht zuletzt das hier titelgebende Brot. Wenn auf einem Bild von Dieter Roth die Sonne untergeht, ist es eine fette Scheibe Salami, ziemlich vergammelt. Und seine Objekte aus Schokolade sehen auch nicht mehr appetitlich aus. Bei Roth geht es immer um den Prozess – des Verwesens in diesem Fall. Im Werk von Joseph Beuys sind Lebensmittel wie Honig, Fett oder die „1a gebratene Fischgräte“ symbolhafte Details aus seinem umfassenden Verweisungszusammenhang, in dem körperliche und geistige Nahrung eng verbunden sind.

Abschließend tut ein Schnaps, gereicht von Ben Vautier, sicher gut: „Drink to forget art“ ist sein Text zur Flasche – was an ein weiteres Motiv in der Kunst gemahnt. In Karel van Manders Lebensbeschreibungen niederländischer und deutscher Künstler erscheint der Alkohol außer als darstellbarer Gegenstand auch als Stimulans der Maler, sowie als ihre ernsthafte Gefährdung nach dem Motto „hoe schilder hoe wilder“.

Als roter Faden in dieser Geschichte heterogener Elemente zeigt sich der enge Zusammenhang von Ästhetik und Nahrung. Der bildliche Sprachgebrauch von „geistiger Nahrung“, von sinnlichen Eindrücken, die man „verdauen“ muss, von Kreativität als Prozess des Stoffwechsels lässt sich über Jahrhunderte zurück verfolgen und endet nicht mit dem Künstler-Statement „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“ (Beuys). Wenn Kunstwerke tatsächlich oder im übertragenen Sinn verspeist werden gilt die Erkenntnis: Kunst ist Brot.

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