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Fotografie

Alles manipuliert

„Melde“ aus der Serie „Gemüse“, 2017. Foto: Inge Kamps

Das Naheliegende in Nahaufnahme: Alltägliches in überraschender Ansicht zeigt die Künstlerin Inge Kamps in ihrer Fotoserie, die sich mit ihren Gartenpflanzen beschäftigt. Sie spielt mit Parametern wie Farbe, Geometrie und Schärfentiefe. Klassische Regeln der Bildgestaltung interessieren sie nicht. Sie möchte Spannung erzeugen mit ihren Arrangements, auch irritieren und dabei, wie sie sagt, „das Banale reicher machen“. kamps-lab.de

Es mutet aus heutiger Sicht fast nostalgisch an: Vor gut 50 Jahren bereits, also lange vor der digitalen Fotografie, fühlte sich ein Kritiker von den vielen analogen Fotos in den traditionellen Medien überfordert: „Eine Schwemme!“ Er konnte nicht ahnen, dass dies ein Rinnsal war im Vergleich zur gigantischen Bilderflut heute. Allein die Foto-Plattform instagram hat weltweit mehr als 1,2 Milliarden Nutzer, die täglich zig Millionen neuer Fotos hochladen. Bilder umgeben uns ständig, eine ökologische Konstante, erzeugt von Profis aller Sparten oder eben Milliarden von Amateuren und Hobbyfotografen.

Wir denken nicht nur in Bildern, wir wollen sie auch vor Augen haben. Das Erstaunliche an der Allgegenwart der Fotografie ist allerdings, dass sie einerseits als besonders korrektes Medium angesehen wird, das die Wirklichkeit unbestechlich genau wiedergibt, sie anderseits aber auch mit Misstrauen betrachtet wird, weil Bilder dem Verdacht der Lüge unterliegen. „Deep fake“ ist das aktuelle Stichwort. Es meint computergenerierte Fälschungen, die schwer zu durchschauen sind. Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass eine Tageszeitung kürzlich zur „zentralen Frage der Gegenwart“ erklärte: Wie steht es um die „Wahrheit der Bilder“?

Das Paradox, denke ich, lässt sich auflösen. Es hat mit dem Ursprung der Fotografie zu tun, dass ihr Unbestechlichkeit unterstellt wird: Lichtstrahlen lassen sich auf einer Fläche fixieren, ergeben ein Bild, das keinen Handgriff mit Stift oder Pinsel brauchte. Das frappierend Authentische, das damit eng verbundene Dokumentarische ist bis heute aus der Fotografie nicht wegzudenken. Auf der anderen Seite gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert „Kunstgriffe“, das fotografische Bild frei zu gestalten: „malerische“ Kamerabilder oder kameralose aus dem Labor – Fotogramme von Gegenständen und abstrakte Chemiegramme, entstanden durch das Manipulieren der Entwicklungs- und Fixierungsprozesse.

Ein Urlaubsfoto: „Wir waren da!“ Aber wo?

Ein Dokument fürs Familienalbum sollte es sein, aber es ging schief. Auf dem Foto ist nicht das zu sehen, was als Bild gedacht war. Angesichts der Tücke der Prozedur stellt sich die Frage: Wer ist hier eigentlich der Autor? Missglückte Fotos, die dann ganz andere und vielleicht auch reizvolle Ansichten liefern, sind ein eigenes Kapitel der Fotografiegeschichte, so wie auch Fotos aus Versehen, die alle Strategien ausblenden…

Künstler sind keine Reporter, sie gestalten mit Fotografie, und auch da sind mittels Digitaltechnik heute die Möglichkeiten noch weit größer. Das eigentliche Bild wird nicht in der Kamera, sondern am Rechner produziert. Es ist auch nicht mehr unbedingt nötig, selbst vor Ort einen Apparat zu bedienen; die Welt ist voller (Überwachungs-)Kameras und das Internet bietet Zugriff darauf. Siehe die faszinierenden Arbeiten von marcusdesieno.com (No Man’s Land) oder mishkahenner.com (Feedlots).

Stehen wir demnach vor einer geteilten Bilderwelt, der manipulierten und der nicht manipulierten? Keineswegs, denn auch jedes „wahre Foto“ ist nicht einfach objektiv, sondern beruht auf einer Vielzahl von Voraussetzungen. Mit der Entscheidung, wann was fotografiert wird, mit welchen Mitteln und aus welcher Perspektive fängt es bekanntlich an. Und auch, dass Fotografen ihre sozialen und kulturellen Prägungen in den Prozess der Bildgenerierung einbringen, weiss der Leistungskurs. Im Internet kursieren Anleitungen und Apps, die dem Nutzer beibringen, welchen Gestaltungsklischees er folgen soll.

Das Problem ist am Ende nicht, dass Fotografien manipuliert sind. Sie sind es grundsätzlich. Ein Problem entsteht dann, wenn so getan wird, als sei das Bild nicht manipuliert.

Das Vertrauen auf die Echtheit dessen, was abgelichtet wird, ist die Voraussetzung dafür, dass Fälschungen Erfolg haben und für authentisch gehalten werden. Je mehr das Misstrauen steigt, umso weniger sollten daher Fakes funktionieren. Aber unsere Wahrnehmung ist nun einmal so: Was wir sehen, wollen wir erkennen und für unsere Orientierung nutzen, also für wahr halten.

Mit dem blinden Glauben an die Fotografie muss man also rechnen. Will man diesen durchschauen, ist die Beschäftigung mit künstlerischen Fotos in hohem Maß nützlich. Wie gestalten Künstler*innen? Sie entwickeln einen besonderen Blick aufs Gegebene oder inszenieren ihre Fotos sorgfältig. Die Geschichte des Mediums bietet dazu ein Fülle von Material. Arbeiten von zwei Künstlerinnen sind hier als Beispiele zu sehen.

„Zwei mal Fünf“ aus der Serie „Im alltäglich Besonderen“, 2013. Foto: Sonja Karle

Dieses Foto erschließt sich nicht im Augenblick. Sonja Karles besondere Perspektive verlangt ein geduldigeres Sehen. Offenbar haben wir es mit Treppenstufen und einem Geländer zu tun, doch das Bild verändert die Strukturen hin zu einer freieren, formalen Auffassung. Die Senkrechte wird betont – begehen könnte der Betrachter die optisch gekippte Treppe so nicht. Zwei Kinderhände (jeweils mal fünf Finger) geben Halt. sonjakarle.eu

Der blinde Glaube an die Fotografie“ ist Thema der offenen philosophischen Diskussionsrunde „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 18. April, um 18 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.