Ist es nicht verwunderlich, dass eher selten von Kitsch die Rede ist, obwohl er uns im Alltag eigentlich ständig verfolgt? Es gibt jede Menge Fachhändler für Kitschobjekte: Ein-Euro-Läden, Baumärkte, Grabsteinanbieter, Dekobedarfsläden, gewisse Bildergalerien und nicht zuletzt die Trödelmärkte. Und die entsprechend gestalteten Haushalte. Von deren wohlmeinenden Mitgliedern erreichen uns dann die Geschenke, über die wir uns so sehr freuen…
Aber abgesehen von solchen Attacken, was kümmert mich der Kitsch, wenn ich mich nicht dafür interessiere, sondern für Kunst? In dem Genre erreicht mich doch der Trash nicht? So einfach ist es, bei der Zipfelmütze des Gartenzwergs, leider nicht. Kitsch schleicht sich gerne in die Kunstwelt ein, hat es immer getan. Das fängt schon an mit den Bild-Ausschnitten – gezielt fokussierte Teile – von alten Gemälden, die massenhaft reproduziert die Kunst zum Kitsch machen. Raffael ist ein beliebtes Opfer solcher Machenschaften. Obwohl: Einge seiner Madonnen eignen sich auch gut dafür. Wenn aber die Putten, die am unteren Bildrand der Sixtinischen Madonna flügellahm sinnieren, extrahiert und für sich als Bild präsentiert werden, erfüllen sie einzig und allein ein Kitschbedürfnis.
In der Romantik – der Epoche, in der der Kitsch erfunden wurde – verschwimmt die Grenze zur Kunst immer wieder, bei Runge, bei Spitzweg …
Und heute? Mit einem Sprung in die Gegenwart enteilt keiner dem Kunstkitsch oder der Kitschkunst, wenn er zum Beispiel bei Jeff Koons landet. Seine kunterbunten banalen Motive spalten die Kritikerzunft in die Riege der Verächter, die das für Kitsch halten, und die der Wohlwollenden, die es für einen gelungenen Coup von Koons halten, die Kitschmotive in die Kunst krachen zu lassen – endlich wieder ein Tabubruch.
Ich halte Koons‘ Objekte für eine neue Art von Kitsch. Neu daran ist vor allem das beinharte Marketing, mit dem die Firma Koons es schafft, den Trödel im Kunstsystem für Millionen Dollar loszuschlagen. Da haben wir den elitären Dekobedarfsladen für Stinkreiche.
Doch damit geht die Fragerei ja erst richtig los. Was ist denn nun Kitsch, wie erkenne ich ihn und vor allem: Wie unterscheide ich Kitsch von Kunst? Ein abendfüllendes Thema.
Es gibt diverse Theorien über den Kitsch. Fürs erste halte ich es aber für spannender, einmal eine Theorie des Kitsches anzuschauen, um nicht von vorneherein ein Minuszeichen vor die Sache zu setzen. Wie erzeuge ich Kitsch? Anleitungen dazu verwenden das negativ besetzte Wort nicht. Es geht um das schöne Heim, die erfreuliche Gestaltung, die künstlerisch aparte Atmosphäre oder ähnliches. Der Ratgeber-Markt dafür entwickelte sich sprunghaft im 19. Jahrhundert, auf ihm waren Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“ platziert, einschlägige Bücher und gesellige Abende mit „populären kunstgewerblichen Vorträgen“. In einer so übertitelten Reihe erschien 1883 der Text „Die künstlerische Ausstattung der bürgerlichen Wohnung“ von Friedrich Fischbach. Der aus Aachen stammende „Director der Kunstgewerbeschule St. Gallen“ machte dezidierte Vorschläge. Weil es sonst den Rahmen sprengt, hier nur das Wichtigste: Die Architektur soll reich geschmückt sein mit Pilastern, Gesimsen, Holztäfelung und Deckenstuck. Auf der so grundierten Wand macht sich gut die Reproduktion einer Madonna von Raffael – da ist er -, denn „Bilder sollen erheben und erfreuen“ und „die Darstellung der Mutterliebe, des häuslichen Glückes erfreuen Jedermann“. Speziell für Kinder soll die Kunst im Heim „die drastische Phantastik der Märchenwelt“ vor Augen führen, „für Jünglinge und Jungfrauen die ideale Welt der nordischen und griechischen Mythen“. Und der „Dreiklang der Daseinsfreude: >Liebe, Wein und Gesang<“ sei „in der bildenden Kunst unendlich zu variieren“.
Das Haus ist der „Tempel der Schönheit“, so Fachmann Fischbach, und der „gottbegnadete Künstler“ stärke mit seinen Beiträgen „unseren Glauben an die edle Herzenseinfalt und kernige Biederkeit“ des deutschen Volkes. Diese Phrasen waren in aller Einfalt ernst gemeint.
Fischbach, jetzt als Synonym für solche Kitsch-Klischees genommen, ist vorbei, aber das Phänomen bleibt bis heute bestehen. Ausdruck der reinen Daseinsfreude, erfreuliche Atmosphäre, ein Faible für Schönes, dabei alles ausgeblendet, was nicht in die heile Welt passt: Voilà, le Kitsch.
Ja, das deutsche Wort, wahrscheinlich 1860 erstmals verwendet von dem Schriftsteller Wolfgang Müller in Königswinter, ist so speziell und unübersetzbar, dass es auch im Englischen, Französischen, Griechischen und Türkischen verwendet wird. Wikipedia erklärt den Begriff als abwertend verwendet für „minderwertigen Gefühlsausdruck“. Wann ist ein Gefühlsausdruck minderwertig? Jedenfalls dann, wenn er nicht echt ist.
Die Differenz von Kitsch und Kunst lässt sich so bestimmen: Ein Kunstwerk ist interpretierbar, weckt das Bedürfnis nach Deutung, der Kitsch dagegen nicht; er ist eindeutig und (unter)hält passiv. Es handelt sich immer um Stereotype, um die vermeintlichen populären Gewissheiten. Die Offenheit und Vielschichtigkeit von Kunstwerken stünde demnach dem Kitsch fremd gegenüber.
Der Kitschtest für Artefakte, die mit einer Kunstbehauptung auftreten, ist allerdings nicht so einfach zu handhaben. Denn Künstler spielen gerne mal mit Kitsch, machen ihn zum Inhalt ihrer Arbeit. Aber ist das Werk deswegen kitschig? Wesentlich entscheidend ist, in welcher Form die populären Klischees verarbeitet werden. In den Collagen von Max Ernst entstehen aus den banalen Vorlagen rätselhafte und faszinierende surreale Räume. Der Pop-Artist Claes Oldenburg präsentiert alltägliche Gegenstände wie einen Apfelkitsch (das Wort passt wunderbar, ist aber etymologisch nicht verwandt) in inadäquatem Material, wie z.B. weichem Stoff, und riesig vergrößert. Diese deutlich ironische Geste bricht das Klischee.
Von Oldenburgs ironischem Kunstgriff hat Koons gelernt: Auch er übersteigert die Dimensionen seiner Motive, der bunten Blumensträuße und Luftballons. Doch die Ironie verblaßt im Ansatz vor der Erhabenheit der hochglanzpolierten Objekte in edlem Material. Koons produziert – oder lässt produzieren – für den Kunstmarkt der Investoren, die Millionen für ein solches Objekt bezahlen. Seine Werke sollen unkompliziert und für jeden verständlich sein. Nichts steckt dahinter, aber das Publikum darf staunen: über die handwerkliche Perfektion, Glanz und Größe und die astronomischen Preise. Fischbach wäre sicher begeistert.
Überzuckert. Meine Metapher für Kitsch ist das übertrieben Süße. Eine fotorealistische Malerei von Sarah Graham ist das passende Bild dazu: In ihrer Serie „Wilderness of Kitsch“ zeigt sie eine Anhäufung von Süßigkeiten in ihren bunten Verpackungen. Die britische Künstlerin präsentiert den Alltagskitsch, häuft ihn auf zu einer geschlossenen Welt des Süßen. Mit ihrem versuchten Kurzschluss von Kitsch und Kunst will Graham dem Kitsch wohl entgehen. Knifflig, doch ich sehe im Klischee hier nur das Klischee. Interpretieren lässt sich da weiter nichts. Sonst könnte ich auch gleich die Süßigkeiten im Supermarkt interpretieren. Wie sagte Clement Greenberg: Kitsch „ist für den Betrachter vorgekaute Kunst“.
Ein mögliches Fazit: Wenn die Kunst Kitsch verarbeitet, können vielschichtige und produktive Werke entstehen. Wenn umgekehrt der Kitsch Kunst verarbeitet, dann dient der Kunstanspruch missbräuchlich allein der sozialen und kommerziellen Aufwertung des Eindimensionalen, der gefälschten Gefühle für „edle Herzenseinfalt“.