Zur Strafe die Alpen

Karl-Friedrich Schinkel: „Felsentor“, 1818 (Ausschnitt)

Über was ist das Erhabene eigentlich erhaben? Ganz praktisch: über das Flache. Im übertragenen Sinn, und der ist noch erhabener, über alles Nebensächliche und Kleinliche, über alles Profane. Also über vieles, was eigentlich doch interessant und reizend sein kann. Das Gefühl des Erhabenen kann mit dem Empfinden von Macht und Autorität verbunden sein wie mit moralischer Reflexion, religiöser Ergriffenheit oder ästhetischem Genuss. Um das ästhetisch Erhabene soll es hier gehen. In der Geschichte der Kunst spielten erhabene Motive und das gedankliche Konzept der Erhabenheit immer eine große Rolle – bis heute.

Zu groß, um mit den Sinnen vollständig erfasst zu werden, machtvoll und schrecklich, so wird das Phänomen über die Jahrhunderte beschrieben. Seit Edmund Burke 1757 seine „Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“ veröffentlichte, wird seine Definition immer wieder zitiert: Was beim Anschauen ein Gefühl von möglicher Gefahr oder Schmerz hervorruft, was uns plötzlich erschauern lässt, ist erhaben. In der Malerei wäre das Motiv des Höllensturzes ein Beispiel, wobei der Mann aus Dublin solchen Szenen aber misstraute: Wollte „der Maler nicht irgendetwas Lächerliches darstellen?“

Sprichwörtlich liegt das Erhabene ja nah am Lächerlichen. Unterscheiden kann man das aus geeigneter Distanz, und die ist für Burke ohnehin unerlässlich, um das Erhabene genießen zu können. Denn darum geht es ja in der Kunst: Der Anblick eines unermesslichen wilden Meeres mit Sturm und Blitzen oder eines gewaltigen Bergmassivs, die Lieblingsgenres des Erhabenen, werden, ohne reale Gefährdung betrachtet, zu Quellen des Erschauerns wie Entzückens in einem. Die Würde der Dinge, so Burke, möchte der Betrachter für sich selbst in Anspruch nehmen. Erhabener Anblick macht demnach uns selbst erhabener. Es sei denn, man findet das unendliche Meer schlicht langweilig, das kam auch vor.

Wohlhabende Briten, kulturbeflissene Reisende, gelten als diejenigen, die die Erhabenheit der Natur im 18. Jahrhundert entdeckten. Auf ihrer obligatorischen Grand Tour nach Italien standen sie irgendwann staunend vor den Alpen. Zahlreiche Beschreibungen zeugen davon und vor allem Bilder, die das nicht Darstellbare, die unüberschaubare Größe der Berge darstellen wollen. Dass auch dieses Genre in der Folge Lächerliches hervorgebracht hat, ist bekannt. Der märchenhafte Kitsch aus dem Atelier von Karl Friedrich Schinkel zum Beispiel zeugt davon.

Aber bleiben wir bei den eindrucksvoll gelungenen Bildern. Caspar David Friedrichs „Watzmann“ vermittelt das Gefühl des Erhabenen, indem er dem Berg eine metaphysische Aura verleiht: Das nicht Erfassbare, Unfassbare weist über die sichtbare Welt hinaus. Nicht nur die räumlichen Koordinaten irritieren, der Blick auf die unnahbaren Gesteinsformationen, eine menschenleere Szene, rückt auch die biologische Zeit in Distanz zur geologischen. Teil dieser Natur zu sein, bei Friedrich religiös begründet, ergreift und erhebt den sensiblen Betrachter.

Ein romantisches Motiv ist das Erhabene immer geblieben. Nicht nur in der Malerei: Auch in der US-amerikanischen Land Art im 20. Jahrhundert gab es Werke, die erhaben in diesem Sinne wirkten: Michael Heizers „Double Negative“ von 1969, Walter De Marias „The Lightning Field“ 1974-77 oder 1976 der knapp 40 Kilometer lange „Running Fence“ von Christo und Jeanne Claude. Darauf komme ich gleich noch. Doch seitdem? Viel „postmoderne“ Ironie, die das Pathos auf die Schippe nahm. Und wenn doch pathetisch, dann zeigte sich in manchen Fällen deutlich, dass das Monumentale und das Erhabene nicht dasselbe sind. Dafür mag Werner Tübkes Bauernkriegspanorama – Leinwandmaß 14 mal 123 Meter – ein Zeugnis ablegen.

Zuvor hatten die Maler Barnett Newman und Yves Klein in den 1950er Jahren etwas ganz anderes versucht, nämlich allein mit monochromen Farbflächen und großen Formaten das Erhabene zum Erlebnis werden zu lassen. In ihren Farbräumen war das Erhabene eben nicht Motiv einer Darstellung, sondern Effekt der Entgrenzung: Der Betrachter soll eintauchen in die Farbe, dazu die Leinwand – so wollte es Newman – aus nächster Nähe anschauen, also den Überblick verlieren. Hier galt nicht das Burkesche Distanzgebot (und es war nicht nötig, da schauerliche Motive ja fehlten). Die Sinne erleben bei der Übermacht der Farbe eine gewisse Überforderung, es gibt keine Anhaltspunkte für eine räumliche oder zeitliche Orientierung: Das Bild ist das Ereignis des Erhabenen im Augenblick. Allein Farbe und Form müssen „die bewundernde Überraschung, das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts, auslösen“, so beschrieb es Jean-François Lyotard in seinem Text „Der Augenblick, Newman“. Die Präsentation der reinen Präsenz ist das Erhabene.

Walter de Marias gigantisches Projekt „Lightning Field“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die moderne Land Art das romantische Konzept der Erhabenheit neu inszeniert. 400 Stäbe aus Edelstahl, etwa sechs Meter hoch, bilden das Blitz-Feld in New Mexico. Sie sind auf einer Fläche von 1,6 mal ein Kilometer in regelmäßigen Abständen senkrecht montiert – 17 Tonnen Stahl. Die Stäbe spiegeln das Licht in seiner Veränderung im Tagesablauf, was als erhabenes Schauspiel beschrieben wird, das seinen Höhepunkt oft in einem Gewitter findet, bei dem die Stäbe wie Blitzableiter funktionieren. Für Zuschauer gibt es einen sicheren Ort, so daß Burkes Forderung erfüllt ist, Erhabenheit solle ungefährdet zu genießen sein. Zwar ist die Form der Installation der eleganten Stäbe im Blitzfeld durchaus abstrakt-minimalistisch, da die Landschaft aber praktisch Teil des Werks wird, kehrt das gegenständliche Naturmotiv zurück.

Damit arbeiten auch Christo und Jeanne-Claude in ihrem Werk „Running Fence“ 1976 in Kalifornien. Über 39,4 Kilometer erstreckte sich der 5,50 Meter hohe Zaun aus weißem Nylongewebe, befestigt an stählernen Seilen und Stäben. Die Fotos davon zeigen ein erhabenes, poetisches Landschaftsbild. Es ist riesig, aber es hat nichts Bedrohliches. Die Stoffbahnen bewegen sich und lassen Licht hindurch – die ästhetische Absicht ist schon dem Material eingeschrieben. Das ist bei der Grenzbefestigung zwischen Israel und dem Gaza-Streifen selbstverständlich völlig anders. Obwohl die Bilder sich frappierend ähneln, ist das Erhabene hier nur abschreckend. Die Mauer soll unüberwindlich sein. Dass sie es nicht war: umso schrecklicher. Die beiden durch die Perspektive des Teleobjektivs formal so verwandt erscheinenden Bauten in der Landschaft unterscheiden sich in Absicht und Wirkung und durch Burkes Diktum: Genießen können wir nur gefahrlos. Andernfalls entstünde zudem ein ethisches Problem. Die Mauer in Palästina hätte Burke hässlich gefunden, aber erhaben: Hässlichkeit, verbunden mit starkem Schrecken, schrieb er, „ist verträglich mit einer Idee von Erhabenem“.

Und wie verhält es sich, wenn ein Künstler einen martialischen Grenzzaun spielerisch-ironisch mit einem bildnerischen Eingriff bearbeitet? Der Franzose, der sich kurz JR nennt, hat dies versucht und die Absperrung zwischen den USA und Mexiko symbolisch überwunden. 2017 montierte er das überdimensionale Foto eines Kleinkinds auf ein Gerüst neben den Zaun, so dass es auf der amerikanischen Seite so aussah, als schaue das Kind zufrieden wie über ein Spielzeug hinweg. Das schrecklich Erhabene war hier bewusst ins Lächerliche gezogen. Für einen überraschenden Augenblick verlor die Mauer ihren Schrecken.

Politische Bezüge sind dem Erhabenen nicht wesensfremd, im Gegenteil: Die Ästhetisierung der Politik setzt oft auf die Wirkung des Erhabenen, wie Walter Benjamin es am Fall des deutschen Faschismus erklärt hat. In diesem Themenfeld bewegt sich Anselm Kiefer mit seinen formal traditionellen Bildern und Objekten. Aktuell werden Werke von ihm wieder vermehrt öffentlich gezeigt. Zurzeit gestaltet er den 176 Quadratmeter großen „Eisernen Vorhang“ in der Wiener Staatsoper als Großbild. Der Künstler erweist sich als später Nachfahre der Romantiker. Seine morbiden Szenen auf riesigen Formaten sind düster; Grau und Braun dominieren. Man schaut auf unergründliche Landschaften und monumentale Architekturen. Die Werke erinnern atmosphärisch und symbolisch deutlich an dunkle Jahre der deutschen Geschichte. Ihre Erhabenheit gründet auf der Assoziation des Schreckens.

Das Pathetische, überwältigend Erhabene, immer in der Gefahr, ins Lächerliche zu kippen oder gekippt zu werden, ist aber nicht die ganze Wahrheit des Sublimen, das meist mit dem Erhabenen gleichgesetzt wird. Dessen Übersetzungen – „the sublime“ im Englischen und „le sublime“ im Französischen – erinnern indes an den wortgeschichtlichen Zusammenhang des Erhabenen mit dem Subtilen, also gerade mit seinem dimensionalen Gegenteil. Eine Verbindung scheint in der Alchimie alter Zeiten zu liegen: Durch das Verdampfen von Substanzen, das Aufsteigen ihres Geistes ins Erhabene, aber kaum oder nicht mehr Sichtbare, gelang die Sublimation. Das so entstandene Subtile, das „Fast-Nichts“, ist nicht überwältigend, vielmehr nur mit besonderem Feinsinn wahrnehmbar. Es fordert das Empfindungsvermögen heraus, minimale Differenzen zu erspüren und sie zu ihrem Recht kommen zu lassen.

Burke, der sich vor allem mit den zu seiner Zeit „allgemein bekannten“ und „mächtigen Quellen des Erhabenen“ befasste, mit Größe, Finsternis, Einsamkeit, Schweigen und auch Leere, machte in seinem Essay eine kurze Bemerkung, die in den sublimen Mikrokosmos weist: „Die alleräußerste Kleinheit (ist) in gewissem Sinne gleicherweise erhaben wie die äußerste Größe der Dimension.“ Ein „Extrem der Kleinheit“ sei „in seiner Wirkung vom Riesigen selbst nicht mehr zu unterscheiden.“ Lyotard, der an Burkes Überlegungen anknüpfte, findet die konträren Quellen des Erhabenen bei Newman verknüpft: das Schweigen und die Leere mit dem äußerst Subtilen. Große Farbfeldmalerei als subtile Darstellung von Nicht-Darstellbarkeit.

In solchen Paradoxen erscheint die Kunst vielleicht komplizierter als sie ist. Wir erfassen mit unseren Sinnen spontan, und wenn wir Erhabenes empfinden oder seine Lächerlichkeit, spüren wir es ohne Explikation. Aber wo bleibt am Ende das Flache? Nicht immer wurde es als minderwertig empfunden. Es soll vor langer Zeit christliche Theologen gegeben haben, die sich das Paradies als völlig flach vorgestellt haben und die die Berge für eine Strafe Gottes hielten, der sie über der Ebene aufgetürmt habe nach dem Sündenfall. Da ist es doch kein Wunder, dass die alten Briten die Alpen schrecklich fanden.

„Das Erhabene“ ist Thema der nächsten Veranstaltung in der Diskussionsreihe „Kunst & Brot“ am Donnerstag, 23. November, in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgassse. Beginn 19 Uhr.