Originelle Epigonen

Kometennaturen und Sprudelgeister – frei nach El Greco.

Es ist ein gesellschaftlicher Anspruch und ein gängiges Selbstbild gleichermaßen: Künstler*innen sind originell, ihre Werke einzigartig. Das gilt mittlerweile sogar für alle Kreative, und jeder Mensch ist ja irgendwie kreativ. Originalität wird damit praktisch zum Normalfall. Das Unterscheidende kann nur noch im Detail liegen.

Nach Eigenständigkeit, damit nach Unterscheidendem (Fachbegriff „Distinktion“, klingt schon an sich stinkfein) zu streben, ist ein weithin anerkanntes bürgerliches Ziel. Innerhalb von 200 Jahren hat sich diese Werthaltung entwickelt – vom ersten Auftreten der „Originalgenies“ im 18. Jahrhundert bis zum Alltagskreativen heute. Aber schon von Anfang an gab es Stress. Was ist denn eigentlich originell, sprich ursprünglich und einzigartig? Sind wir nicht alle als erstes Nachgeborene, natürlicherweise von Geburt an? Ob und wie sich der Mensch danach zum Original entwickeln kann, und wie er damit wirtschaftlich erfolgreich wird oder nicht, dieser Fragenkomplex hat sich hartnäckig gehalten, trotz aller Analysen und Diskussionen zwischen Enthusiasmus („Ich bin ein Star“) und Resignation („Wir sind alle Epigonen“).

Die Engländer sollen um 1750 mit dem modernen Originalitätskult angefangen haben. Eine Fülle von Briefen, Traktaten und Denkschriften ist überliefert, die zu beweisen versuchen, dass Literatur und Malerei nicht die Alten und die Traditionen nachahmen müssen, um gut und wichtig zu sein. Die größte Wirkung erzielte in deutschen Landen damals Edward Young mit seinen „Gedanken über die Original-Werke“ – die Übersetzung erschien 1760 schon ein Jahr nach der Originalausgabe. Young schrieb schön bildreich: Originalität lasse die Wüste erblühen, Nachahmung dagegen verpflanze nur fremden Lorbeer, dem dann der Humus fehle. Eine Spitze gegen den Adel, der sich immer selbst kopierte.

Der originelle Künstler galt als Naturtalent mit einem nicht zu bremsenden Schaffenstrieb; ihm fiel alles Gestalten leicht, er war reich an tieferen Empfindungen und genaueren Vorstellungen als sie der Normalmensch hat. Der formatsprengende philosophische Schlagabtausch über dieses Phänomen lässt sich hier nicht referieren. Interessant ist, welche originellen Bezeichnungen vernunftaffine Geister den nach Originalität strebenden Künstlern (das waren zu 99,9 Prozent damals Männer) verliehen: „Kraftknaben“, „Originalnarren“, „Sprudelgeister“ und „Kometennaturen“ lassen tief blicken. Herr Immanuel Kant ließ aus Königsberg verlauten, zwar sei das Genie das Talent, das der Kunst die Regel gibt, aber vor übertriebener Originalität sei zu warnen: Es gebe auch „originalen Unsinn“. Wenn jede Regelverletzung originell ist, verselbstständigt sich das Streben danach ins Banale.

Doch alle Bedenken halfen zunächst wenig. Die Geister wollten und mussten sprudeln, um des Erfolgs willen. Die Begeisterung des Publikums und der Markt verlangten Originalität – bis zur Erschöpfung. Dass dieser Zustand eintrat, bezeugt ein gescheiterter Maler im 19. Jahrhundert: Gottfried Keller. Als Schriftsteller hatte er dann Erfolg, und seine biografische Einsicht: Wir können nicht mehr originell sein, alles war schon einmal da, wir sind zur Epigonalität verdammt, hat er in Novellen und seinem Künstlerroman „Der grüne Heinrich“ von allen Seiten beleuchtet. Es gebe, so steht es in der ersten der „Züricher Novellen“, „nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen“. Bezeichnend, dass die Metaphorik hier in die Sphäre der Industrieproduktion greift.

Es war eine Haltung der Zeit: Karl Immermann veröffentlichte ab 1823 seinen mehrbändigen Roman „Die Epigonen“. Die „jetzige Generation“, so heißt da, kann aus einer Überfülle der Vorbilder schöpfen, alle vorhandenen Themen und Formen ausprobieren – aber immer nur als „Nachhall eines anderen selbständigen Geistes“. Die Position des Nachkommens und Nachahmers wird akzeptiert – so auch das Fazit der Geniekünstler-Kritik Kellers: Nicht wer gewaltsam originell sein möchte, sondern wer sich bescheidet ist am Ende dann vielleicht ein Nachfolger mit relativ eigenem Profil. Was damals verhandelt wurde, klingt wie ein Vorspiel zur sogenannten „Postmoderne“ rund 150 Jahre später.

Wenn wir diesen Zeitsprung machen, landen wir wiederum bei der Einsicht, dass auch das Allerneueste und Individuellste immer grundiert ist von historischen Vorbildern, Inhalten und Formen. Den Mythos der Originalität zu hinterfragen, war in den 1980er Jahren eine neuerliche Regelverletzung, die in der Kunst mitunter seltsame Blüten trieb. Aber: Der Freiraum fürs unbeschwerte Nachahmen, Kopieren, Dekonstruieren usw. war erneut offen.

Originalität und ihr Mythos sind aber zweierlei. Die Strategie der Einzigartigkeit war mehr als Marketing, erzeugte nicht nur Sprudelgeister und schnell verglühende Kometen. Der moderne Kanon von Originalkunst ist kaum umstritten: Werke von Caspar David Friedrich, Edouard Manet, Alberto Giacometti, Joseph Beuys nur als Beispiele. Doch keiner von ihnen arbeitete im luftleeren Raum; auch die Imagination und Praxis der Stars bediente sich an Vorhandenem.

Und das war im Grunde nichts Neues, deshalb noch einmal zurück, zunächst zu Hercules Seghers und Rembrandt van Rijn: Seghers ist unbestritten originell in seinen fast abstrakten Landschaften, für das 17. Jahrhundert völlig ungewöhnliche Darstellungen. Rembrandt, der im Ruf stand, eigensinnig die barocken Regeln der Kunst zu mißachten, hatte kein Problem damit, eine Radierplatte von Seghers zu nehmen und ein Figurengruppe in die Landschaft einzuarbeiten: „Die Flucht nach Ägypten“, 1653 – Appropriation in ihrer Frühform. Nun war dies die Vorgeschichte des eigentlichen Geniekults, in der der Werkstattgedanke und die Kooperation noch verbreitet zum künstlerischen Alltag gehörten. Originalität stand nicht im Widerspruch dazu.

Als originell empfanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Kunstkenner etwa auch Jan van Huysum, genannt „Phönix der Blumen- und Fruchtmaler“: Seine gewöhnlichen Motive und dekorativen Bilder fürs bürgerliche Renommierzimmer würden heute als kitschig empfunden. Etwas originell zu finden, das zeigt dieser Fall, ist eine Frage des Standpunkts.

Caspar David Friedrich ist ein unbestrittener Solitär, und seine Arbeitsweise ist das Gegenteil zur personalreichen Malerwerkstatt: Einsam abgeschottet im stillen Atelier an der Elbe gestaltete er seine Bilder, mit Motiven aus der Natur, aber nicht nach der Natur. Seine originellen Visionen bieten nach wie vor Anlass zu tiefschürfenden Interpretationen. Seine Arbeitsweise war aber recht pragmatisch und profan. „Der Watzmann“, 1824/25 entstanden, beruht auf einem Aquarell eines Schülers; Friedrich hat den Berg nie gesehen. Und die Steinfiguration im Bild vor dem Riesenberg hatte er 1811 im Harz gezeichnet. Ein modernes Aneignungs- und Montageverfahren.

Die so entwickelten Strategien, gegebene Muster nachzuahmen, zu variieren, zu demontieren, Kontexte zu verändern, sie ganz dem eigenen Empfinden unterzuordnen, kurz: aus Überliefertem Neues zu machen, haben in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zu den allseits bekannten Blüten geführt. Nur war zuvor keine Wüste da, sondern bereits sorgsam bestellter Acker. Nicht immer zog das Publikum mit und fand die Blüten schön. Tabubrüche sorgten auch für Skandale. Aber das war vielen um Aufmerksamkeit ringenden Künstlern nur recht: Je provokativer, desto origineller.

Das Leitbild des Original-Genies war Ende des 19. Jahrhunderts trotz aller Bedenken fest etabliert in den Kunst-Institutionen und auf dem Kunstmarkt. Der individuelle Schöpfer trat aus seinem stillen Atelier ins Licht der Öffentlichkeit und hatte sich der Kritik zu stellen. An diesem Künstlerhabitus orientiert sich bis heute die gesamte Kreativwirtschaft, obwohl längst klar ist, dass es voraussetzungslose Originalität nicht gibt. Dieser Mythos hatte seine Funktion im Kulturkampf zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in den „Querelle des Anciens et des Modernes“, in denen Nachkommenschaft strategisch ausgeblendet war. Dass diese Fiktion sich trotz besseren Wissens auch heute ungebrochen hält, hat nicht nur Marketinggründe, sondern bedient auch eine romantische Sehnsucht.

Die erfüllen paradoxerweise selbst Stars der Kunst, die das institutionalisierte System unterlaufen wollen. Wie originell ist es, wenn Marcel Duchamp einen handelsüblichen Flaschentrockner nimmt und in den Kunstkontext stellt? Das Objekt hat er weder erfunden noch gestaltet, trotzdem kann er damit die Kunstgeschichte verändern, indem er Erwartungen und Regeln über den Haufen wirft. Andy Warhol machte in Folge in seiner „Factory“ die profane Warenästhetik zum Inhalt der hohen Kunst. Er profitierte von Duchamps Tabubruch, den er konsequent weiterdachte. Wie weit war er Weg vom klassischen Früchtestilleben zur Supermarkt-Suppendose? Jedenfalls gelang es Warhol, trotz kooperativer Arbeitsweise und Serienproduktion noch als origineller Star zu posieren.

Das Problem, dass keine Grenzen mehr blieben, die noch zu überschreiten waren, stellte sich im 20. Jahrhundert den Künstlerinnen aufs Neue. Wie schon der epigonale Landschaftsmaler Gottfried Keller zweifelten nun viele an dem Anspruch der Originalität. Die ständig verlangte Innovation war einfach nicht mehr zu leisten. Originalität galt „postmodernen“ Künstlerinnen als Ideologie – individualistisch, kapitalistisch, männlich, westlich. Diese Kritik fand ihren Ausdruck am deutlichsten in einer Form visueller Kunst, die bewusst mit Zitaten und Kopien arbeitete. „Appropriation Art“ (Kunst der Aneignung) brachte in den 1980er Jahren zudem Künstlerinnen ins Gespräch: Sherrie Levine sorgte für Aufsehen mit ihrer Foto-Serie „After Walker Evans“. Levine kopierte die bekannten Dokumentarbilder von Evans aus den 30er Jahren, das war ihr Werk. Keine eigene Schöpfung, keine Originalität was Motiv und Gestaltung angeht. Levines Kreativität lag im provokanten Konzept, das die herrschenden Vorstellungen von Autorschaft in Frage stellte. „Das Bild eines Bildes ist ein sehr seltsames Ding“, wird sie zitiert: „Ich versuche, mich nicht vom Original tyrannisieren zu lassen.“

Elaine Sturtevant, eine Pionierin der Appropriation Art, machte es ähnlich wie Rembrandt: Sie griff nach Arbeitsmaterial berühmter Vorgänger, unter anderem von Andy Warhol, dessen Drucksiebe von „Flowers“ sie benutzte, um eine neue Auflage anzufertigen. Und Cindy Sherman inszenierte sich in Selbstporträts (History Portraits) in Kostümen nach Gemälden alter Meister. Die Reproduktionen stellten die Rollenbilder zur Debatte, ebenso wie ihre Inszenierung alltäglicher Szenen im Haushalt. Die wiederum fanden Nachahmer in sogenannten „sozialen Netzwerken“: Fans stellten ihre Imitationen der Sherman-Fotos ins Internet. Spätestens jetzt war das Konzept im populären Feld angekommen: Keine Angst vor Wiederholung. Spielerisch, ironisch und kritisch zeigt sich der originelle Epigone.

Über dieses Thema diskutiert die philosophische Runde mit Rüdiger Kaun und Jürgen Röhrig am Donnerstag, 19. Oktober, um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Siegburg, Griesgasse.