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Bildbetrachtung

Erhabene Industrie

Thomas Harrison Hair: „Percy Pit Colliery“, Kupferstich, 19. Jahrhundert.

Rückenfiguren vor Gegenlicht: Ein großes Feuer, dargestellt im Zentrum des Bildes, sorgt für die Beleuchtung der geschäftigen Szene im Mittel- und den tiefen Schatten im Vordergrund. Und oben, etwas links von der Mittelachse, erhellt der Vollmond den Himmel. Dies und die imposanten Gebäude und Maschinen des Bergwerks „Percy Pit“ bei Newcastle Upon Tyne in England hat Thomas Harrison Hair im 19. Jahrhundert für den Druck auf eine Kupferplatte gezeichnet und gestochen. Das Blatt ist nicht datiert.

Auffällig an dieser Ansicht der Kohleindustrie sind die motivischen Parallelen zu Werken des deutschen Romantikers Caspar David Friedrich. Rückenfiguren, die die Landschaft betrachten, finden sich in dessen Werk mehrfach – sie sind fast so etwas wie sein Markenzeichen. Zum Beispiel in dem Bild „Mondaufgang am Meer“ von 1822. Der volle Mond ist hier teilweise von Wolken verdeckt – bei Hair ist es ein qualmender Schlot, der das leuchtende Rund anschneidet. Die Sitzenden bei Friedrich betrachten das Naturschauspiel und zwei Segelschiffe auf dem vom Mondlicht glänzenden Wasser. Geheimnisvolle, kontemplative Stimmung.

Der Bildaufbau ist derselbe wie der des Kupferstichs: Die Figuren sind vom Betrachter abgewandt. Sein Platz beim Anschauen der Szene ist deutlich eine entferntere zweite Reihe. Die angesichts des Erhabenen nötige Distanz zum Geschehen wird so gewahrt.

Die metaphysisch überhöhte Natur ist für Caspar David Friedrich das Gewaltige, letztlich nicht Fassbare. Der Engländer Hair rückt an die Stelle der Natur die zeitgenössische Technik, ihre Größe und Gewalt in die eingeführte Bildstruktur. Erhaben ist hier die Industrie, die Ausbeutung fossiler Rohstoffe. Materialismus ersetzt Metaphysik.

Ein Zufall wird die kompositorische Parallele nicht sein. Es gibt mehrere Varianten des Bergwerk-Motivs, gezeichnet, aquarelliert, gedruckt. Nicht in allen scheint der Mond und ist das Feuer so groß. Thomas Hair hat sich offenbar etwas gedacht bei der Verdeutlichung seiner Reminiszenz an die Romantik in der hier gezeigten Version.

Seine populäre Darstellung, gedruckt auch in Büchern, führt einen Gegenstand in die Motivgeschichte des Erhabenen ein, der seitdem nichts an Faszination verloren hat. Im Gegenteil – heutige Berg- und Hüttenwerke sind bekanntlich noch viel größer und imposanter. Vor allem die Fotografie hat sich der Industriearchitektur angenommen. Wer im Internet Bilder aus der Stahlproduktion aufruft, findet dramatische Feuer in gigantischen Bauwerken. Diese Darstellungen sollen sachlich sein, verzichten daher auf Vollmond und in den Anblick versunkene Rückenfiguren. Doch die Faszination angesichts des übermenschlich wirkenden Geschehens bleibt erhalten. Das Erhabene indes führt nun nicht mehr zum Genuss des Vorscheins einer höheren oder gar besseren Welt, wie Friedrich es noch glaubte; wir wissen heute, dass beim Thema Ausbeutung von Fossilien das Gegenteil der Fall ist.

Das „Erhabene“ in der Kunst ist auch Thema des folgenden Textes. Offene Diskussion am 23. November, 19 Uhr, Stadtbibliothek Siegburg.

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Bildbetrachtung

Original ohne Absicht, Absicht ohne Original

Basis-Kosmos. Foto-Datei Jürgen Röhrig 2023

Kratzspuren und Farbflecken auf dunklem Grund. Eine Zeichnung aus hellen Linien, Punkten, unregelmäßigen Klecksen. Die bunten Töne in einer Abstufung von Gelb zu Rot, dazu etwas Blau und Blaugrün – delikat. Das Bild erlaubt den Blick in einen tiefgründigen Kosmos, ist kein Abbild des Nachthimmels, aber belebt wie dieser: Kometenstreifen, Sterne und Spiralnebel, wenn man diese Assoziationen will. Und der Himmel ist bereits vermessen, in einem regelmäßigen Raster, das die Fläche in zwölf Quadrate aufteilt.

Diese Fotografie zeigt einen kleinen Ausschnitt eines Atelierfußbodens in einer Kunsthochschule. Generationen von Studenten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Die robusten Industriekacheln, 15 mal 15 Zentimeter, sind arg strapaziert worden, was von den physikalischen und farbchemischen Kräften erzählt, die da ausgeübt wurden, ebenso von einer zeitlichen Entwicklung, die nicht zu Ende ist. Das Ergebnis ist die Summe ungeplanter, zufälliger Einwirkungen. Obwohl keine Absicht dahinter steckt, so ist das Bodenbild vor Ort doch ein Original.

Absicht und geplante Gestaltung sind aber Voraussetzung des Fotos, das die ästhetische Qualität des Gegenstands zeigen soll. Vor Ort fotografiert und am PC aufbereitet, ist das Bild ein eigenständiges Werk zwar, aber kein Original. Wie das bei beliebig oft technisch reproduzierbaren Dingen so ist.

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Bildbetrachtung

Acht Sterne

Dmitri Reznikow in Aktion

Die Zeichnung zeigt acht schwarze Sterne auf weißem Grund; das Papierformat entspricht ungefähr DIN-A-3. Jeder Stern besteht aus vier Linien – vertikal, horizontal, zwei Mal diagonal; die Strecken schneiden sich im Mittelpunkt. Eine einfache grafische Grundform, aus freier Hand ohne Rücksicht auf geometrische Exaktheit gezeichnet. Drei Sterne in der oberen, fünf in der unteren Reihe. Ein junger Mann, dessen Gesicht frappierend an Franz Kafka erinnert, hält das Blatt vor der Brust, er zeigt es im öffentlichen Raum in Moskau. Hinter ihm nähert sich ein Uniformierter, der seine Arme bereits zum Zugreifen bereit zu machen scheint. Er blickt den unbekannten Fotografen dieser Szene vom 13. März 2022 an.

Ist die Zeichnung ein Werk konkreter Kunst? Der Schöpfer dieses einfachen Bilds hatte weniger einen ästhetischen als einen ethisch-kommunikativen Anspruch; die Abstraktion diente ihm für eine verschlüsselte Botschaft. Sterne als Auslassungszeichen, als Platzhalter für drei und fünf Buchstaben: нет война́.

„Nein zum Krieg“ meinen übersetzt die beiden Worte. Das Foto wurde in verschiedenen Medien wiedergegeben mit der Information, dass Dmitri Reznikow, der Akteur auf dem Foto, verhaftet und zu 50 000 Rubel (700 Euro) Geldstrafe verurteilt wurde, weil sein Sterne-Symbol von der Staatsmacht als verbotener Protest gegen den Krieg in der Ukraine interpretiert wurde.

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, der legendäre erste Satz in Kafkas „Der Prozess“. Warum darf der junge Mann nicht ein Blatt mit acht Sternen auf der Straße zeigen? нет война́ ist verboten, denn nach offizieller Lesart gibt es keinen Krieg, und der Protest gegen den Überfall ist ebenfalls untersagt. Also greift der Zeichner zu einer List, dadurch wird das simple Protestplakat zur symbolischen Zeichnung. Der Betrachter darf rätseln, was sie zu bedeuten hat. Die Sterne können für нет война́ stehen oder auch nicht, keine Version lässt sich anhand des Artefakts an sich beweisen.

Ob Kunst politisch verstanden wird und eine kritische Kraft entfaltet, entscheidet sich immer mit Blick auf den Kontext, so auch hier (selbst wenn das Bild nicht als Kunstwerk gedacht war). Die Moskauer Obrigkeit sah diesen Kontext, sie urteilte und verurteilte in diesem Sinne und ließ die Grauzone des nicht Beweisbaren, also den Zweifel zugunsten des Angeklagten, nicht gelten. 87,50 Euro pro Stern.

Es ist nicht überliefert, ob der Demonstrant seine Absicht zugegeben hat. Das spielte auch keine Rolle für seine Verhaftung. Die Polizei interpretierte schnell. So mutig Dmitri Reznikow war, so blamabel endete die Aktion für die Autokratie: In Russland darf man keine acht Sterne zeigen, diese Botschaft ging um die Welt. 

Was würde geschehen, wenn in Moskau Repliken von Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ gezeigt würden, als Symbol für den Zustand der Demokratie und der Menschlichkeit in Russland? „Roskomnadsor“, die russische Zensurbehörde und Kommunikationsaufsicht, lese ich bei Wikipedia, warnte bereits ausdrücklich vor der Verwendung von Symbolen, die „doppeldeutig“ sein könnten, zum Beispiel schwarzen Quadraten. Das Motiv wurde schon beim „Euromaidan“ in Kiew als Zeichen von Protest und Widerstand genutzt. Wie hoch der Straftarif in diesem Fall wäre, wird nicht berichtet. Und in der Tretjakow-Galerie soll das Original, das nunmehr gefährlichste Werk des Suprematismus, immer noch zu sehen sein.