Kunst mit allen Sinnen

Wir sehen, was wir fühlen? Foto: Jürgen Röhrig

Das Surroundvideo „Tales of the Altersea“ der schwedischen Künstlerin Lap-See Lam, das gerade im Frankfurter „Portikus“ zu sehen ist, begeisterte die Kritikerin einer Tageszeitung: Die Arbeit, so lobte sie, sei „sinnlich erfahrbar“.
Tatsächlich? Ist das angesichts eines raumgreifenden Kunstwerks mit bewegten Bildern und Tönen überraschend? Was bedeutet es, wenn eigens erwähnt wird, dass die Sinne angesprochen sind? Offenbar leben wir in einer Gedankenkunstwelt.

Mangel an Sinnlichkeit in einer intellektualisierten Kunstproduktion wird auch von Künstler*innen selbst hin und wieder beklagt. Sonja Alhäuser zum Beispiel will diesem Mangel in ihrem Werk entschieden begegnen, beseelt von der Idee, dass Kunst sich ausschließlich über die Sinne vermittelt. Rirkrit Tiravanija kritisierte die „Art und Weise, Kunst vornehmlich mit dem Auge aufzunehmen, sie zu objektivieren und zu intellektualisieren“. Seine Kochperformances gelten als „Einbringen der sinnlichen Wahrnehmung in den Kunstkontext“, so die Formulierung der Freiburger Kunstwissenschaftlerin Mirja Straub.

Es ist leicht, letzterem zu widersprechen und dagegen zu halten, dass keine Malerei-Ausstellung, keine Performance und kein Konzert funktionieren, wenn das Publikum nicht mindestens Augen und Ohren aufsperrt. Ich werte diese etwas schräge Aussage aber als Symptom für ein tatsächliches Defizit. Es ist ja richtig, dass die Theorie seit Jahrhunderten einen körperlosen Geist des Menschen als Adressaten der Kunst proklamiert und das Gefühl, die Sinnlichkeit als untergeordnetes, ja sogar eher schädliches Phänomen abqualifiziert. Die philosophische Ästhetik ist bis heute nicht ganz frei von dieser Ideologie.

Nach ihren Grundsätzen arbeitet natürlich – mit vielleicht wenigen Ausnahmen – keine Künstlerin, und so ist es eigentlich nicht erstaunlich, wenn ihre Werke die Sinne ansprechen.

Ich möchte im Folgenden die verschiedenen menschlichen Sinne einmal benennen, ihre allgemeine Funktionsweise kurz skizzieren, um daraus abzuleiten, dass Wahrnehmung und Imagination eng zusammenhängen, woraus sich ergibt, dass Kunst nur über die Sinne verständlich wird.

Wovon sprechen wir, wenn es um „die Sinne“ des Menschen geht? So selbstverständlich, wie er meist benutzt wird, ist der Begriff durchaus nicht. Aristoteles kannte die klassischen Fünf: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen. Er übersah einige weitere, so den Gleichgewichtssinn und die „Propriozeption“, das ist die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers. Macht sieben. Manche Fachleute kommen gar auf zwölf: Zu den somatischen Sinnen zählen da Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man mit der inneren Stimme rechnet (siehe das Kapitel „Die Einheit von Wahrnehmen und Denken“ in diesem Blog).

Sinne verwandeln Reize der Außenwelt in Informationen. So registrieren die Augen Lichtwellen, und die entsprechenden Gehirnareale konstruieren aus den Signalen zum Beispiel den Eindruck von Farbe. Die Empfindung ist nicht völlig identisch mit den Daten der Netzhaut. Das Wort Konstruktion ist wichtig. Wie der Inhalt der Empfindung interpretiert wird, hängt zudem nicht allein von den aktuellen Wahrnehmungen ab, sondern auch vom gleichzeitig laufenden Abgleich mit bereits gespeicherten älteren Erfahrungen. Es ist also nicht so simpel, wie Sinne funktionieren. Doch hier liegt, wie ich meine, eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass wir ein Bild sehen, also sinnlich wahrnehmen, und doch nicht sehen können, weil bereits eine fertige Interpretation hinterlegt ist. Auch das ist eine Funktion unserer Wahrnehmung.
„Keinen Sinn für etwas zu haben“ ist eine Metapher, die hier zutrifft: Obwohl das Sinnesorgan funktioniert, sind wir möglicherweise nicht empfänglich für die Reize.

Der Sehsinn ist für die Kunstwahrnehmung mit Ausnahme des Musikerlebnisses sicher der wichtigste. Nicht ohne Grund zielt das „Sensorische Marketing“ unserer Konsumwirtschaft vor allem auf die Augen, mit denen die potentiellen Kunden 83 Prozent aller Informationen aufnehmen. Was in den Diskussionen kaum erwähnt wird: Auch beim Betrachten von Bildern, Plastiken oder Gebäuden ist nicht nur der Sehsinn angesprochen. Wir sehen aus einer Körperposition, von einem Standpunkt aus, und die Erfahrungen des Bewegungsinns (Kinästhetik), das taktilen Sinns und die erwähnte Propriozeption wirken mit. Wahrnehmen ist eine weitgehend unbewusste, aber komplexe Tätigkeit.

Dass trotzdem nicht alle Sinne gleichermaßen angesprochen werden von den Schöpfungen in den Ateliers, ist eine alte Klage, und als besonders benachteiligt gilt der Geruchssinn. Für die Nase wurde lange nichts gestaltet, dabei wecken auch Gerüche Gefühle und Erinnerungen, die Wahrnehmungen beeinflussen. In jüngster Zeit gab es mehrere Ausstellungen zum Thema Düfte in der Kunst: „Unsichtbare Skulpturen“ wurden da präsentiert, auch mit dem Anspruch, die vorherrschenden visuellen Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen.

Sinne beeinflussen sich gegenseitig, und ein Sinn kann einen anderen sogar ersetzen: Mittels „Echolokation“ schaffen es entsprechend geschulte Menschen, ihre Umgebung akustisch abzutasten. Sie erzeugen dazu Klicklaute (eine Technik, die auch Delfine verwenden). Der Echo-Sinn erzeugt eine mentale Repräsentation des Raums, die dann dem Sehsinn zugänglich ist: das innere Bild auf einem Umweg erzeugt. Die Einbildungskraft ist hier nicht freie Fantasie, sondern wirklichkeitsadäquat.

Dass Imagination eine Erkenntnisfunktion ist, untermauert auch ein Blick auf das Stichwort „Synästhesie“: Dabei geht es hier nicht um Spezialfälle, die Töne als Farben wahrnehmen oder ähnliches, sondern um die prinzipiell synästhetische Organisation der Wahrnehmung. Beim Hören eines Wortes zum Beispiel schwingen für die Interpretation des Signals visuelle, taktile und andere Assoziationen mit. Gefühle wiederum sind oft die Auslöser für synästhetische Phänomene: Seine Italiensehnsucht führte bei Heinrich Heine dazu, dass schon der Anblick der Alpen ihn „Zitronen- und Orangendüfte“ wahrnehmen ließ.

Es spricht also nichts dafür, dass die leiblichen Sinne dem Denken untergeordnet sind, im Gegenteil: Sinnlichkeit ermöglicht erst unser Denken. Angewendet auf das Betrachten von Kunstwerken sollte es daher zunächst um die einfachen Beobachtungen gehen. Wenn ich ganz bescheiden feststelle, was die Sinne aufnehmen an Farbe, Form, Material, Textur, Gerüchen, Tönen, ihren Bezügen und der Umgebung, erschließen sich wie von selbst Interpretationsansätze, während die Vor-Urteile erst einmal in den Hintergrund rücken. Der Vorgang ähnelt dem der sinnlichen Erfahrung generell, wie John Locke ihn beschrieben hat in seinem berühmten Essay „Über den menschlichen Verstand“: Alles im Geist kommt aus der Wahrnehmung der einfachen Ideen wie Ausdehnung, Festigkeit, Beweglichkeit, Dauer, Zahl und so fort. Diese durch die Sinne erzeugten Ideen sind real und keine Fiktion des Geistes, darauf bestand der Philosoph, denn der Geist könne einfache, ursprüngliche Ideen nicht selbst erzeugen. Der Verstand ist aber fähig, so Locke, aus den einfachen Ideen „nach Belieben neue komplexe Ideen bilden“. Hier haben wir das Fundament der Imagination, und Locke sah im 17. Jahrhundert auch bereits, was die Naturwissenschaft heute bestätigt: Wahrnehmungserfahrungen und -gewohnheiten prägen das Urteilsvermögen. Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik veröffentlichte 2022 Forschungsergebnisse, die Locke erfreut hätten: Er lag mit seiner Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung insgesamt richtig.

So ist auch die unmittelbare sinnliche Kunst-Erfahrung, wie oben beschrieben, am Ende nicht frei von den erlernten Vor-Urteilen, sondern selbstverständlich immer abhängig von den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Autors wie des Interpreten. Das ist nicht per se ein Nachteil, denn der jeweilige kulturelle Rahmen ist der Orientierungsrahmen, also hilfreich, wenn er das genaue Hinschauen nicht ersetzt.

Oder das Hören, Schmecken, Riechen: „Multisensorik“ gab es schon bei den Futuristen, die an „performativen Abenden“ zu Musik und Duftereignissen einen verzehrbaren „Flugzeugrumpf“ präsentierten – er bestand aus Kalbfleisch. Dieses Thema zieht sich durch die Kunstgeschichte bis in die Gegenwart, siehe Alhäuser, Tiravanija oder auch Daniel Spoerri. Wenn es auch immer um die Sinne geht in der Kunst, werden sie doch nicht immer als solche thematisiert. Eine der seltenen Arbeiten, die sich mit dem Phänomen der Sinnes-Substitution befasst, ist „Einton-Musik außerhalb (oberhalb) des menschlichen Hörbereichs“ von Timm Ulrichs. Der Titel der Installation von 1969/70 erklärt, was auf dem Oszillographen in diesem technischen Ensemble zu sehen ist: das bewegte Bild dessen, was erklingt, aber für Menschen nicht hörbar ist.
In dieses Kapitel gehört auch das außergewöhnliche Werk des (nicht von Geburt an) blinden Fotografen Evgen Bavčar. Er läßt sich seine Bilder mit Worten beschreiben, um ein innere Vorstellung entwickeln zu können. „Ich brauche den Blick des anderen, damit die Bilder in mir erweckt werden.“ Das verweist auf den sozialen Gebrauch der Sinne, auf das Sinn(en)-Angebot von Kunst generell: Zeigen lenkt den Blick, steuert die Aufmerksamkeit des anderen.

Es gibt also etliche Ansätze, die an dem eingangs beklagten Defizit an Sinnlichkeit in der Kunst nicht leiden. Viele Künstler*innen würden es von sich weisen, da Nachholbedarf zu haben. Wer nicht gerade strenge Konzeptkunst macht und sein Angebot auf die Sensation einer Schrifttafel reduziert, kommt an den Sinnen – wie beschrieben – ja gar nicht vorbei.

Es bleibt aber festzuhalten, dass die Kulturkritik seit mehr als hundert Jahren das Thema Defizit ebenso hartnäckig wie nahezu ergebnislos verfolgt. Die Reformpädagogik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wollte „dem Kinde feinere Augen und Ohren geben“. Da freute sich das Militär. In den 1970er Jahren griff die „ästhetische Erziehung“ diese Ansätze unter dem Stichwort „Kultur der Sinne“ wieder auf. Im Schulalltag kam davon kaum etwas an.
Susan Sontag forderte bereits in den 1960er Jahren genau das, was heute immer noch gefordert wird: die Sinne erweitern, ja sie gar erst einmal wiedererlangen. „Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen“, heißt es in „Kunst und Antikunst“. Aber Sontag war auch klar, dass die Künstlerschaft da bereits vorangegangen war, die ihre Mittel „radikal erweitert“, neue Formen des Erlebens entwickelt hatte – als „selbstbewußte Ästhetiker“. Und ganz aktuell ist die Forderung nach einer „neuen Kultur der Leiblichkeit und der Sinne“ wieder da: In seiner Dankesrede zur Verleihung des Erich-Fromm-Preises plädierte der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs im März 2023 für genau das, was da seit Generationen gepredigt wird.

Er hat ja Recht, im Prinzip, nur ist es eben nichts Neues. Woher kommt dieser immerwährende Refrain, warum bleibt das Problem, was steckt dahinter? Bei Fuchs ist es die durch die Debatte um so genannte „Künstliche Intelligenz“ und dem leibfeindlichen Denken befeuerte Sorge um den Menschen, die ihn das Thema aktualisieren lässt.
Doch wahrscheinlich greift Kulturkritik hier generell zu kurz, wie immer, wenn sie sich auf Ästhetisches beschränkt, sich also nur auf den „Überbau“ bezieht. Dass hinter den ästhetischen Problemen handfeste gesellschaftlich-ökonomische stehen, wird entweder ausgeblendet oder, wenn kritisch-theoretisch benannt, nicht mit Praxis verbunden.
Sontag sah die Ursache für eine „massive Betäubung der Sinne“ in der industriellen Wirklichkeit und die Kunst als „Schocktherapie“ dagegen. Jahrzehnte später hielt es Oskar Negt für unerträglich, dass die „arbeitsteilige Spezialisierung unserer Sinne“ die Erfahrungen und das Wissen, Bild und Begriff auseinanderreiße. Vielfach folgte politisch nichts aus den kritischen Analysen – die Strukturen zeigten sich verfestigt.

Trotzdem kann jeder, Künstler*in wie Rezipient*in, die Vielfalt seiner Sinne wirken lassen, so wie es ja auch geschieht im alltäglichen Gebrauch, in der aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomen. Die Sinne zu schärfen, zu erweitern und damit für Neues zu öffnen, das kann sinnvoll sein, solange es nicht in aufgeregtes Selbstoptimierungstraining mündet. Es mangelt in unserer Umwelt ja nicht an möglichen Eindrücken – bis zur Überforderung.

Wenn wir einem Kunstwerk attestieren, es habe unsere Sinne angesprochen, dann meint das wohl eigentlich: Es hat Emotionen in Gang gesetzt, die auf andere Weise nicht berührt wurden, es hat im besten Fall unseren Blick auf die Welt ein wenig verändert. Das könnte ein Anspruch an gute Kunst sein.

Dieses Thema steht zur Diskussion bei „Kunst & Brot“ in der Stadtbibliothek Siegburg am Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr. https://events.siegburg.de/Veranstaltungen/Ist-Kunst-nur-fuer-die-Augen-da.html