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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Die Einheit von Wahrnehmen und Denken

Kapitel 3

Polanyis These, dass alles Denken gleichsam aus dem Körper hervorgeht und nicht immer bewusst ist, wird nach ihm in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genauso gesehen: Bei Psychologen, Pädagogen oder Neurobiologen unter anderen findet man Aussagen dazu. Künstlerisches Denken ist an den ganzen Menschen, an Leib und Seele gebunden, und ich setze für diese Denkleistungen die allgemein grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung voraus, ein sensomotorisches Fundament also und Lernfähigkeit. Implizites Wissen ist dabei nicht zuerst und nicht nur sprachlich gestützt, sondern vor allem sensomotorisch, so der Linguist Martin Thiering, Autor des Buchs „Kognitive Semantik und kognitive Anthropologie“ (S. 285). Der ganze Körper spielt eine Rolle, nicht allein das Gehirn, das aber in manchen Disziplinen alleine im Fokus steht. Neurowissenschaftler beschäftigen sich dabei gerne mit der Kunst – in der empirischen Ästhetik bzw. der Neuroästhetik. Sie versuchen, universelle neurobiologische Regeln für Sichtweisen der und auf die Kunst zu formulieren, umgekehrt Rückschlüsse von vor allem Bildern auf Hirnprozesse zu ziehen.

Eric Kandel, einer der berühmtesten Neurowissenschaftler, hat diesem Thema ein umfangreiches Buch gewidmet: „Das Zeitalter der Erkenntnis“, in dem er die Erforschung des Unbewussten nicht nur seit Sigmund Freud, sondern prominent auch durch die Wiener Maler Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka detailliert schildert. Die Lösung des Rätsels künstlerischen Denkens indes findet sich in diesem durchaus spannenden Werk am Ende nicht. Künstler müssen „die kognitive Psychologie von Wahrnehmung, Farbe und Emotion intuitiv beherrschen“, ist eine von Kandels zentralen Erkenntnissen. Der Autor (der einen willkürlich begrenzt erscheinenden Kunstbegriff zugrunde legt) versucht stetig, das implizite wie explizite künstlerische Denken auf sein neurowissenschaftliches Paradigma festzulegen. Künstler aber beherrschen trivialerweise intuitiv-psychologisch dasselbe wie alle Menschen, und erst dann stellt sich die Frage: Gibt es ein besonderes künstlerisches Denken? 

Eine Antwort ist nicht aus der Betrachtung des Gehirns allein zu erwarten. Die leibphänomenologischen Forschungen von Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle widmen sich diesem Problem: Für die Sinnesphysiologen und Psychologen sind sinnliches Wahrnehmen und Denken keine unterschiedlichen Sphären oder getrennten Vorgänge, sondern bilden eine Einheit, die aus der Resonanzbeziehung zwischen Leib und Umwelt entsteht. Es ist auch in ihrer Sicht nicht allein das Gehirn, das im Denkprozess aktiv ist, sondern der gesamt Organismus mit all seinen Sinnen. Bewusstes und logisch zielgerichtetes Denken ist dabei eine Verhaltensweise unter anderen. Die Begriffe „Leib“ und „Körper“ stehen für verschiedene Sichtweisen auf die humane Hardware: „Leib sein ist Werden, Körper haben ist Gewordensein“, schreibt der Philosoph und Psychiater Fuchs, „der Körper ist das, was sich aus dem Lebensprozess heraus fortwährend bildet, ablagert und verfestigt, während der Leib immer auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet ist.“ („Zwischen Leib und Körper“, in Hähnel/Knaup (Hg.): Leib und Leben, S. 86)

Die Vielfalt der Sinneswahrnehmung und damit das Potential des Denkens veranschlagt Scheurle höher als andere Autoren. Er unterscheidet Sinnesorgane (körperliche Strukturen wie Augen, Ohren, Hände) und Sinne als Medien des Erlebens. Die Beschreibung der Sinne orientiert sich an der Klassifikation Rudolf Steiners (die auch für Joseph Beuys eine wichtige Rolle spielte): Demnach gibt es die somatischen, die atmosphärischen und die Sinne des Hörens. Zu den somatischen Sinnen zählen Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen rechnet er Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man auch mit der inneren Stimme rechnet. Scheurle hält, nach ausführlichen Studien dazu, mit dieser zwölfteiligen Beschreibung „das Spektrum der qualitativen Gegenwartserfahrung“ für vollständig erfasst. Im Vorgang der Wahrnehmung vereint ein Sinnesorgan mehrere Modalitäten: „So nimmt man im Sehen außer Farbe, Hell und Dunkel noch weitere Qualitäten wie Form und Bewegung, Gleichgewicht und Richtung wahr.“ („Das Gehirn ist nicht einsam“, S. 183-185) 

Dass die somatischen und atmosphärischen Sinne für die künstlerische Arbeit in unterschiedlichem Maß, aber grundlegend relevant sind, dürfte unstrittig sein. Das trifft auch auf Ton- und Sprachsinn zu, doch wie verhält es sich mit dem Gedankensinn? Vermutlich ist dieser für das künstlerische Denken ebenso wichtig, aber was genau ist damit gemeint? „Durch den Gedankensinn werden Symbole, Wortbedeutungen und Begriffe, Kategorien und Sinnbezüge usw. unmittelbar wahrgenommen, wobei uns Worte und Sprache dafür einstweilen fehlen können“ (ebd. S. 188). Das soll hier in einem weiteren Kapitel mit Hilfe der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson deutlicher gemacht werden; wir sind zunächst an dem Punkt des vorsprachlichen Denkens angelangt, einer Quelle der Welterfassung im alltäglichen Leben, deren besondere Relevanz für den künstlerischen Prozess Scheurle ansatzweise beschreibt. 

Sinneswahrnehmung und künstlerische Tätigkeit entspringen derselben Quelle (und auch hier gibt es „keine scharfe Grenze zwischen physisch-organischen und seelisch-geistigen Lebensvorgängen“), so der Autor (vgl. ebd. S. 56). Zum „Kreativpotential des Menschen“ gehören alle unbewussten Lebensprozesse, also außer Wahrnehmung und Denken auch das Gedächtnis.  

Phantasie, Vision und Traum sind Scheurles Beispiele für das „Kreativvermögen“. Wenn diese Phänomene zunächst auf den Sinnen beruhen, statt auf expliziten Intentionen und Überlegungen, wie entstehen sie? Scheurle gründet seine Darstellung auf die physiologisch gegebene Fähigkeit der Sinne zur „Eigenproduktion“. Auf den Sehsinn bezogen, als Beispiel, ist es das komplementärfarbene Nachbild als unwillkürliche Reaktion auf das Betrachten einer monochromen Farbfläche. „Zu den Eigenproduktionen im weiteren Sinne ist das reaktive Hervorbringen von Hör-, Sprach- und Gedankenempfindungen, zum Beispiel nachklingenden Wortbildungen, poetischen, musikalischen, bildhaften und anderen kreativen Wahrnehmungen zu zählen. Vision, Imagination und Traum sind neuschöpferische innere Sehwahrnehmungen, die unabhängig von der Interaktion des Auges mit der Außenwelt auftreten“, schreibt Scheurle und betont noch einmal detaillierter: „Die den Sinnen zugrunde liegende produktive Einbildungskraft, die schöpferische Phantasie, ist unlösbar mit der Wahrnehmung, mit Imagination und Inspiration, mit Déja-Vu und Intuition verwoben“  (ebd. S. 50-55. Scheurle schildert an dieser Stelle auch, dass schon Kant die produktive Einbildungskraft „ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“ genannt hat.)

Eigenproduktionen der Sinne sind „unbewusstes, assoziatives Denken“. Der Autor nennt es das „System I“; „rational bewusstes, systematisches und kritisches Denken“ ist das „System II“. Auch im Denken also lassen sich „reaktive Eigenproduktionen und proaktive Gedankenbildung unterscheiden“. Und weiter: Auch wenn es sich nicht um „unbewusste Gedanken“ handelt, sondern um verbal formulierbare gedankliche Wahrnehmungen, können diese „sowohl real und substanziell als auch bloß eingebildet, imaginär oder illusionär sein“. „Die höchsten anspruchsvollsten Kulturleistungen sind ebenso Lebensvorgänge wie die einfachsten Reflexe“, resümiert Scheurle. Das Schöpferische bewege sich immer „zwischen unbewusster Eigenproduktion und bewusstem rationalen Weltverhältnis“ (ebd. S. 60ff.).

Mit dem, was hier über reaktive Empfindungen und neuschöpferische innere Wahrnehmung gesagt ist, haben wir nun ein besseres Verständnis von implizitem Wissen. Diesem Bereich ordne ich das Phänomen der Inspiration (innere Eingebung, Idee, Impuls) und das Phänomen der Intuition (handlungsleitend, „gewusst wie“) zu. Beide beruhen auf der eingangs erwähnten Resonanz zwischen Leib und Umwelt. Imagination als weiteres grundlegend wichtiges Potential ist nicht allein als implizites Wissen zu beschreiben, sondern sowohl im Unterbewussten als auch im bewussten Denken angesiedelt. Imagination ist dabei kaum ohne Resonanzbeziehungen, vor allem Inspiration vorstellbar. Metaphern sind der Link zwischen Emotionen und Reflexionen, zwischen Denken und Sprache. In diesem Fall haben wir es dann nicht mit außer- oder vorsprachlich unbewussten Vorgängen zu tun, sondern mit sprachlich strukturierten, trotzdem unbewussten Vorgängen. In künstlerischen Konzepten steckt auch immer diese Form der Imagination oder Einbildungskraft – Benennungen, die alle unter den Bildbegriff fallen.  

Künstler:innen initiieren gezielt die hier geschilderten Prozesse und verfolgen sie konsequent, frei und experimentell, in einer Einheit von Fühlen und Denken: So könnte das Praxisdenken im künstlerischen Prozess nun umschrieben werden. Dabei mitdenken möchte ich immer die Möglichkeit, dass die Handhabung nicht gelingt, der Prozess scheitert. Nach Antonin Artaud geht das künstlerische Denken so: Die Seele schickt sich an, „ihren Reichtum, ihre Entdeckungen, diese Offenbarungen zu organisieren, in dieser bewußten Minute, wenn das Ding im Begriff ist, geistig zu erscheinen.“ Artauds Tragik aber ist das Misslingen des Denkversuchs, weil ein „überlegener und boshafter Wille zersetzend auf die Seele“ einwirkt (zitiert nach Maurice Blanchot: „Der Gesang der Sirenen“, S. 57).

Beides, das Entdecken und der zersetzende Wille, kommen aus dem schöpferischen Unbewussten. Artaud verstummte darüber nicht, sondern gab dieser Zerrissenheit Ausdruck. Maurice Blanchot meint dazu lapidar: „Wer nichts zu sagen hat: wie soll der nicht darum bemüht sein, mit Sprechen anzufangen und sich auszudrücken?“ (ebd. S. 56f.). Das relativiert den Optimismus instrumenteller Kreativitätstheorien, die immer auf dem Weg der Optimierung sind. Kunst hat auch etwas mit „schöner Scheitern“ zu tun. „Der Schöpfergeist (…) stellte sich meistens bloß als Einflüsterer falscher Vorstellungen und irriger Ideen heraus“, so das fiktive Selbstgespräch von Gustav Mahler, das Robert Seethaler erfand („Der letzte Satz“, S. 20). Ein klassisches literarisches Beispiel ist auch das Scheitern des Malers Frenhofer in Honoré de Balzacs „Das unbekannte Meisterwerk“. 

An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, die individuelle und vielleicht einzigartige Denkweise eines bestimmten Künstlers zu beschreiben. Festzuhalten ist aber, dass ein Spezifikum des künstlerischen Denkprozesses das Ringen um eben diesen Prozess ist. Künstlerisches Denken ist immer auch selbstbezüglich in seiner Handlungspraxis, nicht erst in einer nachgestellten Reflexion. Die Frage, wie sich diese Prozesse möglicherweise verändern, wenn nicht ein einzelner Akteur der Urheber ist, sondern ein Künstlerpaar, eine Gruppe oder gar ein größeres Kollektiv in digitaler Interaktion, geht ebenfalls über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Formen interaktiven gestalterischen Denkens und Handelns werden in vielen Zusammenhängen entwickelt, und die Spielregeln werden dabei wahrscheinlich offener und veränderbarer sein, als in der analogen Kunstwelt. Doch ohne Künstler:innen und vor allem deren Basisfähigkeiten, um die es hier geht, sind auch diese Prozesse nicht vorstellbar.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination