Vorläufige Gewissheiten

Jiří Nečas, Tuschezeichnung auf Papier, o.T., 2018
Tuschezeichnung auf Papier, o.T., 2018

Eine der letzten Arbeiten von Jiří Nečas stammt aus dem April 2018. Die Tuschezeichnung,  eine seiner bevorzugten Techniken, ist nach vorher festgelegten formalen Regeln angelegt: Es gibt auf dem Blatt drei Arten, die Tinte aufzutragen, und eine bestimmte Zahl von Figuren und Linien. Im Mittelpunkt steht eine organisch anmutende Form aus so stark verdünnter Tusche, dass sie aquarellhafte Verläufe zeigt. Diese Pinselzeichnung verästelt sich von einer senkrechten Achse ausgehend in mäandernde graue Farbflüsse und bildet oben eine etwas größere Fläche. In den Zwischenräumen dieser Figur sieht man waagerechte, mit der feinen Feder gezeichnete annähernd parallele Strichlagen, die strukturierte Flächen von etwas dunklerem Grau ergeben. Diese Dualität von Flüssig und Fest  durchzieht der Zeichner schließlich mit fünf sattschwarzen Bahnen, für die er den Pinsel ordentlich mit unverdünnter Tusche getränkt hat. 

Es ist ein Spiel mit der Fläche; eine Illusion von Raum will sich kaum einstellen. Das rührt auch daher, dass Nečas die Einzelflächen uneinheitlich konturiert: Mal ist die helle Pinselzeichnung die Begrenzung der Strichlagen, mal die dunkle. Mal markiert die schwarze Linie die Kontur der andere Ebenen, mal durchschneidet sie diese. So stellt sich keine klare Umgrenzung oder Zuordnung ein; die Linien dieser insgesamt nicht geschlossenen Form haben gleichzeitig verschiedene Funktionen. Eine gezielte Desillusionierung scheint hier des Zeichners Absicht gewesen zu sein. Das Ergebnis ist eine Arbeit, die offen hält, was eigentlich zu sehen ist, anders formuliert: die den nicht abgeschlossenen Zeichenprozess sichtbar macht.

Dieser Prozess des Erfindens konkreter Gebilde war für Jiří Nečas eben prinzipiell nie abgeschlossen. Dass er, 1955 geboren, bereits im Juni 2018 gestorben ist, hat die Nachwelt um viele weitere Arbeiten aus seiner Tuschefeder gebracht. Gleichwohl hat er ein großartiges Werk hinterlassen, neben zahlreichen Zeichnungen auch Unikatbücher und Leporellos. Das Zeichnen bot Nečas die perfekte Möglichkeit, sein Denken zwischen Bild, Musik und Text zu entwickeln und sichtbar zu machen. Er war nicht nur ausgebildeter Künstler, sondern auch promovierter Sprachwissenschaftler und dazu passionierter Hörer von experimenteller Musik. Alle drei Genres waren für ihn Sprache, und vor allem in der Kombination  Ausdrucksmöglichkeit für nicht einfach Sagbares, für Imaginäres und Spirituelles.

„Wovon man nicht sprechen kann, das soll man zeichnen“, lautete seine Variation zu einem bekannten Satz von Wittgenstein. Aber er konfrontierte seine Liniengebilde auch mit Passagen aus lyrischen Texten verschiedener Autoren, um Assoziationen zu ermöglichen. Er ließ sich von Avantgardemusik beim Zeichnen inspirieren, und schließlich haben Musiker Zeichnungen von Jiří Nečas – „grafische Notationen“ – als Partituren aufgenommen und sie ihn hörbare Melodien und Rhythmen verwandelt.

Sein Interesse für die Geheimnisse der Sprache(n) führte er selbst einmal auf die vielseitigen Spracheinflüsse in seiner Kindheit zurück. In seinem Elternhaus im mährischen Brno (Brünn) wohnten Menschen unterschiedlicher Herkunft. Er hörte sie Tschechisch, Deutsch und Jiddisch reden. Nečas: „Das war ein Eintopf mit vielen Zutaten, ein anregender Mix der Kulturen und Sprachen.“ Nach seinem Kunst-Studium lebte und arbeitete er 15 Jahre lang als Sprachwissenschaftler und Künstler in Polen, bevor er nach Deutschland kam – mit seinen Sprachkenntnissen, seinen Werken und einer Sammlung tschechischer Grafik. Seine Hoffnung war, im Westen mit seinen Fähigkeiten Erfolg zu haben.

Die Vielfalt der Zutaten, sprich geistigen Bezüge, die er für sich und sein Zeichnen im Lauf der Jahre herstellte, war beeindruckend. So kam zu den wichtigen Einflüssen der modernen tschechischen Kultur des Grafischen, die auch im Kommunismus lebendig geblieben war, vor allem die asiatische Kunst der Tuschezeichnung und Kalligrafie (Verquickung von Bild und Text). Auch wenn seine asiatisch anmutenden Tusche-Gesten wie spontane Äußerungen wirken: Sie waren nicht unbedacht, auch für sie gab es eine Regel und Strategie. Die Position von Elementen auf dem Blatt, Anzahl, Richtung, die Konfrontation von Linien und Punkten, all dies waren mögliche Parameter, die vorher festgelegt wurden.

Ob, um weitere Bezüge zu nennen, Modelle der Kosmologie oder gelenkte Zufallsoperationen: Jiří Nečas war immer auf der Suche nach anderen Antwortmöglichkeiten für seine grundlegende, seine existenzielle Frage nach dem, was zu Sagen, was zu Zeichnen ist. Seine Blätter erprobten jeweils einen, ihren spezifischen Ort im rätselhaften Kosmos, zeigten definierte grafisch-gedankliche Konstellationen, die zumindest vorläufig und nur für dieses Mal eine prekäre Gewissheit schufen.

Jiří Nečas in Siegburg 2003. Foto: Jürgen Röhrig
Jiří Nečas 2003 in Siegburg. Foto: Jürgen Röhrig