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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Metapher als Konzept

Kapitel 4

Die Metapher, wörtlich übersetzt eine Übertragung, ist bekannt als rhetorisches Stilmittel, das dazu dient, etwas in bildhafter Weise zu veranschaulichen. Das Sprachbild ist allgegenwärtig im Alltag: Immer wieder mal bekommt jemand einen Korb oder es wird eine Kuh vom Eis geholt. Als metaphorisch werden darüberhinaus auch Grundlagen menschlichen Denkens beschrieben. „Der Grund, weshalb wir uns so intensiv auf die Metapher konzentrieren, besteht darin, daß sie Vernunft und Imagination in sich vereint“, schreiben George Lakoff und Mark Johnson in ihrem Buch „Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern.“ „Zu den vielen Facetten der Imagination gehört die, daß wir eine Art von Phänomen von einer anderen Art von Phänomen her wahrnehmen – diese Weise der Weltbetrachtung bezeichnen wir als metaphorisches Denken. Also stellt die Metapher eine auf der Imagination beruhende Rationalität dar.“ Mehr noch: Der normale Rationalitätsbegriff als solcher, so die Autoren, beruhe „im Kern auf der Imagination“ (S. 220 f.).

Als Konzepte zur Welterfassung sind Metaphern demnach weit mehr als ein sprachliches Stilmittel: Sie sind „das zentrale Sinnesorgan für unsere soziale und kognitive Welt“ (S. 8). Metaphorische Konzepte durchdringen Sprache, Denken und Handeln und sind dabei so allgegenwärtig und selbstverständlich, dass sie meist nicht als sinnbildlich ins Bewusstsein treten, sondern für natürliche Realität gehalten werden. Sie gründen in physischen und kulturellen Erfahrungen und wirken auf Erfahrungen und Handlungen zurück (S. 85). „Viele Metaphern werden noch vor dem Spracherwerb von uns erlernt, andere später über Sprache“, so die Kognitionslinguistin Elisabeth Wehling: „Unsere Gehirne spannen vom Säuglingsalter an ein riesiges Netzwerk von metaphorischen Mappings auf, die als kognitive ‚Kuppler‘ zwischen konkreter Welterfahrung und abstrakten Ideen fungieren“ („Politisches Framing“, S. 71 f.). Das wirft ein Licht auf die Genese des unbewussten, gleichwohl sprachbildhaft strukturierten Bereichs des frühen Lernens. Und auch im späteren Leben sind die Strukturen und Inhalte der Wahrnehmungs-Metaphern Teil des impliziten Wissens, einer unbewussten Rhetorik.

Lakoff und Johnson schildern die konventionalisierten metaphorischen Konzepte unserer westlichen Kultur detailliert; das zu referieren würde hier den Rahmen sprengen. Solche Konzepte durchdringen natürlich auch mein Thema, das hier verwendete Textmaterial und meine Darstellung dazu. Beispiel: das Schöpferische. Man schöpft aus einem Gefäß. Das Reservoir des Künstlers wird imaginiert als ein dreidimensionales Gefäß, als ein umgrenzter Raum. Nun stellt der Schöpfer etwas her – das ist wieder ein Teil des räumlichen metaphorischen Konzepts, zudem Teil des Konzepts Kausalität. Innerhalb eines Bildkonzepts können weitere Metaphern das Bild ergänzen, die Struktur verfeinern. „Ich habe eine Figur aus Ton gemacht“ gehört ebenfalls zum Konzept „Herstellen“, das wiederum ein Moment des Konzepts „Direkte Manipulation“ ist, hier ausgeschmückt durch die Metapher „Das Objekt entsteht aus der Substanz“, der wiederum die Metapher „Die Substanz ist ein Gefäß“ zugrunde liegt (S. 89). Und so fort. Metaphernstrukturen entfalten verschiedene Aspekte einer Sache und verbinden diese stimmig.

Das mag einen Eindruck davon geben, wie wörtlich wiederum der Titel „Leben in Metaphern“ zu verstehen ist. Es ist nicht so, dass wir die Wahl hätten, aus diesem Leben auszusteigen, indem wir bildhafte Konstruktionen durchschauen oder übertragene Sinne einer Kritik unterziehen. Das ist zwar wichtig, weil kulturelle Prägungen uns ja den Blick auch verstellen können – es würde sich lohnen, die metaphorischen Strukturen in wirtschaftspolitischen, in Gender- oder in Kolonialismus-Debatten zu untersuchen –, aber wir werden all dies wiederum auf der Grundlage (veränderter) metaphorischer Konzepte tun, weil wir so strukturiert sind. Siehe oben: „Der normale Realitätsbegriff als solcher …“.

„Festhalten“ (eine Metapher) möchte ich: Imagination ist grundlegend für unsere natürliche Weltwahrnehmung und die Strukturierung unserer Erfahrungen. Wichtig für unser Thema ist der Hinweis von Lakoff und Johnson, dass der gestaltende Umgang mit den natürlichen Dimensionen der Erfahrung diese neu strukturieren kann. Künstlerisches Denken nutzt die Imaginationskraft und schafft neue metaphorische Konzepte: „Kunstwerke bringen neue erfahrene Gestalten hervor und deshalb auch neue Kohärenzen“, das heißt eben solche Metaphernstrukturen, die stimmig verschiedene Aspekte verbinden. Ein Kunstwerk ist „eine Sache der auf der Imagination beruhenden Rationalität und ein Medium, das neue Realitäten zu schaffen vermag“ (S. 269).

In der Philosophie ist es die Hermeneutik, die das menschliche Denken für reicher an Möglichkeiten hält, als Sprache sie ausdrücken kann. Das muss der anderen Position, dass Sprache das Denken forme, gar nicht widersprechen. Die Metapherntheorie zeigt, dass Inspiration und Imagination einen Denkraum eröffnen, der weiter reicht als der Sprachraum, der wiederum nicht völlig vom Denken erfasst oder gesteuert wird. Im Überschneidungsbereich beider „Räume“ kann die Sprache das Denken formen wie umgekehrt das Denken die Sprache.

Die Konzeptstrukturen der Metapher sind keine rein sprachliche Angelegenheit, sie betreffen „alle natürlichen Dimensionen unserer Erfahrung“, auch ästhetische: „Farben, Form, Beschaffenheit, Klang usw.“ (S. 269). Thomas Fuchs schildert in seinem Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“, wie diese Erfahrungen ins „Leibgedächtnis“ einfließen und dort als „Wahrnehmungs- und Verhaltensbereitschaften“ enthalten sind. Wie für alle Leibphänomenologen gibt es für Fuchs keine Trennung von Körper und Geist, vielmehr stehen kognitive Funktionen „unter dem fortwährenden Einfluss größtenteils unbewußter emotionaler Vorerfahrungen und Erwartungen“ (S. 129, 138). Empfinden und Denken sind nicht zu trennen, darin stimmt Fuchs mit Polanyi überein.

„Ich suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärbares zu erklären, von etwas zu erzählen, was ich in den Knochen habe und was nur in diesen Knochen erlebt werden kann“, schrieb Franz Kafka 1920 an Milena Jesenská („Briefe an Milena“, S. 296). Sensible Selbstbeobachtung und künstlerisches Denken, das die Ergebnisse späterer Forschungen, das „Leibgedächtnis“ anscheinend vorwegnimmt.

Was Kafka als sein Problem schildert, ist in der Perspektive heutiger Kulturwissenschaft ein grundsätzliches Faktum: „Zwischen mentalen Prozessen und ihrer Artikulation“ besteht „kein Abbildverhältnis“, schreibt Albrecht Koschorke 2012 in seiner Erzähltheorie „Wahrheit und Erfindung“, auch unter Berufung auf Polanyi: „Vorstellungsmenge und Wortmenge decken sich nicht, sondern bilden unübersetzbare Überschüsse auf der einen wie auf der anderen Seite“ (S. 27 f.). Zwischen diesen Seiten bleibt der genannte Überschneidungsbereich, in dem die Sprache das Denken trifft.

Mittels Sprache dem Überschusspotenzial des Leibgedächtnisses etwas abringen zu wollen ist die eine Motivation, die umgekehrte möchte sich gerade von dem befreien, was in den Knochen steckt: „Es ist sehr schwer, alles, was an dem Bild hängt (>vernunftbefleckte< oder gedächtnisbefleckte Imagination), wegzureißen, um an den Punkt >Ausgeträumt träumen< zu gelangen. Es ist sehr schwer, ein reines, unbeflecktes Bild zu schaffen, das nichts anderes ist als Bild, dahin zu gelangen, wo es in seiner ganzen Einzigartigkeit auftaucht, ohne mit irgend etwas Persönlichem oder Rationalem behaftet zu sein, und zum Undefinierten vorzudringen.“ „Sprache III“ nennt Gilles Deleuze die Sphäre der reinen Bilder in seinem Text „Erschöpft“ (in: Samuel Beckett: „Quadrat“, S. 65), die jeglichem Framing, allen Dispositionen entgehen soll. Er zielt auf ein „kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen“ (S. 67). Beinahe lyrisch formuliert Deleuze seine radikale Forderung, das Bild von allen konventionellen Mustern und Konzepten zu befreien. Er geht noch einen Schritt weiter als die Dekonstruktion, ins nicht mehr Definierte. Hier scheint das Äußerste der Möglichkeit jeglichen künstlerischen Denkens erreicht.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Die Einheit von Wahrnehmen und Denken

Kapitel 3

Polanyis These, dass alles Denken gleichsam aus dem Körper hervorgeht und nicht immer bewusst ist, wird nach ihm in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genauso gesehen: Bei Psychologen, Pädagogen oder Neurobiologen unter anderen findet man Aussagen dazu. Künstlerisches Denken ist an den ganzen Menschen, an Leib und Seele gebunden, und ich setze für diese Denkleistungen die allgemein grundlegenden Fähigkeiten der Wahrnehmung voraus, ein sensomotorisches Fundament also und Lernfähigkeit. Implizites Wissen ist dabei nicht zuerst und nicht nur sprachlich gestützt, sondern vor allem sensomotorisch, so der Linguist Martin Thiering, Autor des Buchs „Kognitive Semantik und kognitive Anthropologie“ (S. 285). Der ganze Körper spielt eine Rolle, nicht allein das Gehirn, das aber in manchen Disziplinen alleine im Fokus steht. Neurowissenschaftler beschäftigen sich dabei gerne mit der Kunst – in der empirischen Ästhetik bzw. der Neuroästhetik. Sie versuchen, universelle neurobiologische Regeln für Sichtweisen der und auf die Kunst zu formulieren, umgekehrt Rückschlüsse von vor allem Bildern auf Hirnprozesse zu ziehen.

Eric Kandel, einer der berühmtesten Neurowissenschaftler, hat diesem Thema ein umfangreiches Buch gewidmet: „Das Zeitalter der Erkenntnis“, in dem er die Erforschung des Unbewussten nicht nur seit Sigmund Freud, sondern prominent auch durch die Wiener Maler Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka detailliert schildert. Die Lösung des Rätsels künstlerischen Denkens indes findet sich in diesem durchaus spannenden Werk am Ende nicht. Künstler müssen „die kognitive Psychologie von Wahrnehmung, Farbe und Emotion intuitiv beherrschen“, ist eine von Kandels zentralen Erkenntnissen. Der Autor (der einen willkürlich begrenzt erscheinenden Kunstbegriff zugrunde legt) versucht stetig, das implizite wie explizite künstlerische Denken auf sein neurowissenschaftliches Paradigma festzulegen. Künstler aber beherrschen trivialerweise intuitiv-psychologisch dasselbe wie alle Menschen, und erst dann stellt sich die Frage: Gibt es ein besonderes künstlerisches Denken? 

Eine Antwort ist nicht aus der Betrachtung des Gehirns allein zu erwarten. Die leibphänomenologischen Forschungen von Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle widmen sich diesem Problem: Für die Sinnesphysiologen und Psychologen sind sinnliches Wahrnehmen und Denken keine unterschiedlichen Sphären oder getrennten Vorgänge, sondern bilden eine Einheit, die aus der Resonanzbeziehung zwischen Leib und Umwelt entsteht. Es ist auch in ihrer Sicht nicht allein das Gehirn, das im Denkprozess aktiv ist, sondern der gesamt Organismus mit all seinen Sinnen. Bewusstes und logisch zielgerichtetes Denken ist dabei eine Verhaltensweise unter anderen. Die Begriffe „Leib“ und „Körper“ stehen für verschiedene Sichtweisen auf die humane Hardware: „Leib sein ist Werden, Körper haben ist Gewordensein“, schreibt der Philosoph und Psychiater Fuchs, „der Körper ist das, was sich aus dem Lebensprozess heraus fortwährend bildet, ablagert und verfestigt, während der Leib immer auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet ist.“ („Zwischen Leib und Körper“, in Hähnel/Knaup (Hg.): Leib und Leben, S. 86)

Die Vielfalt der Sinneswahrnehmung und damit das Potential des Denkens veranschlagt Scheurle höher als andere Autoren. Er unterscheidet Sinnesorgane (körperliche Strukturen wie Augen, Ohren, Hände) und Sinne als Medien des Erlebens. Die Beschreibung der Sinne orientiert sich an der Klassifikation Rudolf Steiners (die auch für Joseph Beuys eine wichtige Rolle spielte): Demnach gibt es die somatischen, die atmosphärischen und die Sinne des Hörens. Zu den somatischen Sinnen zählen Bewegung, Gleichgewicht, Tasten und „Behagensempfindung“; zu den atmosphärischen Geschmack, Geruch, Farbe und Wärme; zu den Hörsinnen rechnet er Tonsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ich- oder Identitätssinn. Der letzte Bereich erschließt sich, wenn man auch mit der inneren Stimme rechnet. Scheurle hält, nach ausführlichen Studien dazu, mit dieser zwölfteiligen Beschreibung „das Spektrum der qualitativen Gegenwartserfahrung“ für vollständig erfasst. Im Vorgang der Wahrnehmung vereint ein Sinnesorgan mehrere Modalitäten: „So nimmt man im Sehen außer Farbe, Hell und Dunkel noch weitere Qualitäten wie Form und Bewegung, Gleichgewicht und Richtung wahr.“ („Das Gehirn ist nicht einsam“, S. 183-185) 

Dass die somatischen und atmosphärischen Sinne für die künstlerische Arbeit in unterschiedlichem Maß, aber grundlegend relevant sind, dürfte unstrittig sein. Das trifft auch auf Ton- und Sprachsinn zu, doch wie verhält es sich mit dem Gedankensinn? Vermutlich ist dieser für das künstlerische Denken ebenso wichtig, aber was genau ist damit gemeint? „Durch den Gedankensinn werden Symbole, Wortbedeutungen und Begriffe, Kategorien und Sinnbezüge usw. unmittelbar wahrgenommen, wobei uns Worte und Sprache dafür einstweilen fehlen können“ (ebd. S. 188). Das soll hier in einem weiteren Kapitel mit Hilfe der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson deutlicher gemacht werden; wir sind zunächst an dem Punkt des vorsprachlichen Denkens angelangt, einer Quelle der Welterfassung im alltäglichen Leben, deren besondere Relevanz für den künstlerischen Prozess Scheurle ansatzweise beschreibt. 

Sinneswahrnehmung und künstlerische Tätigkeit entspringen derselben Quelle (und auch hier gibt es „keine scharfe Grenze zwischen physisch-organischen und seelisch-geistigen Lebensvorgängen“), so der Autor (vgl. ebd. S. 56). Zum „Kreativpotential des Menschen“ gehören alle unbewussten Lebensprozesse, also außer Wahrnehmung und Denken auch das Gedächtnis.  

Phantasie, Vision und Traum sind Scheurles Beispiele für das „Kreativvermögen“. Wenn diese Phänomene zunächst auf den Sinnen beruhen, statt auf expliziten Intentionen und Überlegungen, wie entstehen sie? Scheurle gründet seine Darstellung auf die physiologisch gegebene Fähigkeit der Sinne zur „Eigenproduktion“. Auf den Sehsinn bezogen, als Beispiel, ist es das komplementärfarbene Nachbild als unwillkürliche Reaktion auf das Betrachten einer monochromen Farbfläche. „Zu den Eigenproduktionen im weiteren Sinne ist das reaktive Hervorbringen von Hör-, Sprach- und Gedankenempfindungen, zum Beispiel nachklingenden Wortbildungen, poetischen, musikalischen, bildhaften und anderen kreativen Wahrnehmungen zu zählen. Vision, Imagination und Traum sind neuschöpferische innere Sehwahrnehmungen, die unabhängig von der Interaktion des Auges mit der Außenwelt auftreten“, schreibt Scheurle und betont noch einmal detaillierter: „Die den Sinnen zugrunde liegende produktive Einbildungskraft, die schöpferische Phantasie, ist unlösbar mit der Wahrnehmung, mit Imagination und Inspiration, mit Déja-Vu und Intuition verwoben“  (ebd. S. 50-55. Scheurle schildert an dieser Stelle auch, dass schon Kant die produktive Einbildungskraft „ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“ genannt hat.)

Eigenproduktionen der Sinne sind „unbewusstes, assoziatives Denken“. Der Autor nennt es das „System I“; „rational bewusstes, systematisches und kritisches Denken“ ist das „System II“. Auch im Denken also lassen sich „reaktive Eigenproduktionen und proaktive Gedankenbildung unterscheiden“. Und weiter: Auch wenn es sich nicht um „unbewusste Gedanken“ handelt, sondern um verbal formulierbare gedankliche Wahrnehmungen, können diese „sowohl real und substanziell als auch bloß eingebildet, imaginär oder illusionär sein“. „Die höchsten anspruchsvollsten Kulturleistungen sind ebenso Lebensvorgänge wie die einfachsten Reflexe“, resümiert Scheurle. Das Schöpferische bewege sich immer „zwischen unbewusster Eigenproduktion und bewusstem rationalen Weltverhältnis“ (ebd. S. 60ff.).

Mit dem, was hier über reaktive Empfindungen und neuschöpferische innere Wahrnehmung gesagt ist, haben wir nun ein besseres Verständnis von implizitem Wissen. Diesem Bereich ordne ich das Phänomen der Inspiration (innere Eingebung, Idee, Impuls) und das Phänomen der Intuition (handlungsleitend, „gewusst wie“) zu. Beide beruhen auf der eingangs erwähnten Resonanz zwischen Leib und Umwelt. Imagination als weiteres grundlegend wichtiges Potential ist nicht allein als implizites Wissen zu beschreiben, sondern sowohl im Unterbewussten als auch im bewussten Denken angesiedelt. Imagination ist dabei kaum ohne Resonanzbeziehungen, vor allem Inspiration vorstellbar. Metaphern sind der Link zwischen Emotionen und Reflexionen, zwischen Denken und Sprache. In diesem Fall haben wir es dann nicht mit außer- oder vorsprachlich unbewussten Vorgängen zu tun, sondern mit sprachlich strukturierten, trotzdem unbewussten Vorgängen. In künstlerischen Konzepten steckt auch immer diese Form der Imagination oder Einbildungskraft – Benennungen, die alle unter den Bildbegriff fallen.  

Künstler:innen initiieren gezielt die hier geschilderten Prozesse und verfolgen sie konsequent, frei und experimentell, in einer Einheit von Fühlen und Denken: So könnte das Praxisdenken im künstlerischen Prozess nun umschrieben werden. Dabei mitdenken möchte ich immer die Möglichkeit, dass die Handhabung nicht gelingt, der Prozess scheitert. Nach Antonin Artaud geht das künstlerische Denken so: Die Seele schickt sich an, „ihren Reichtum, ihre Entdeckungen, diese Offenbarungen zu organisieren, in dieser bewußten Minute, wenn das Ding im Begriff ist, geistig zu erscheinen.“ Artauds Tragik aber ist das Misslingen des Denkversuchs, weil ein „überlegener und boshafter Wille zersetzend auf die Seele“ einwirkt (zitiert nach Maurice Blanchot: „Der Gesang der Sirenen“, S. 57).

Beides, das Entdecken und der zersetzende Wille, kommen aus dem schöpferischen Unbewussten. Artaud verstummte darüber nicht, sondern gab dieser Zerrissenheit Ausdruck. Maurice Blanchot meint dazu lapidar: „Wer nichts zu sagen hat: wie soll der nicht darum bemüht sein, mit Sprechen anzufangen und sich auszudrücken?“ (ebd. S. 56f.). Das relativiert den Optimismus instrumenteller Kreativitätstheorien, die immer auf dem Weg der Optimierung sind. Kunst hat auch etwas mit „schöner Scheitern“ zu tun. „Der Schöpfergeist (…) stellte sich meistens bloß als Einflüsterer falscher Vorstellungen und irriger Ideen heraus“, so das fiktive Selbstgespräch von Gustav Mahler, das Robert Seethaler erfand („Der letzte Satz“, S. 20). Ein klassisches literarisches Beispiel ist auch das Scheitern des Malers Frenhofer in Honoré de Balzacs „Das unbekannte Meisterwerk“. 

An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, die individuelle und vielleicht einzigartige Denkweise eines bestimmten Künstlers zu beschreiben. Festzuhalten ist aber, dass ein Spezifikum des künstlerischen Denkprozesses das Ringen um eben diesen Prozess ist. Künstlerisches Denken ist immer auch selbstbezüglich in seiner Handlungspraxis, nicht erst in einer nachgestellten Reflexion. Die Frage, wie sich diese Prozesse möglicherweise verändern, wenn nicht ein einzelner Akteur der Urheber ist, sondern ein Künstlerpaar, eine Gruppe oder gar ein größeres Kollektiv in digitaler Interaktion, geht ebenfalls über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Formen interaktiven gestalterischen Denkens und Handelns werden in vielen Zusammenhängen entwickelt, und die Spielregeln werden dabei wahrscheinlich offener und veränderbarer sein, als in der analogen Kunstwelt. Doch ohne Künstler:innen und vor allem deren Basisfähigkeiten, um die es hier geht, sind auch diese Prozesse nicht vorstellbar.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Alleinstellungsansprüche

Kapitel 2

„Alles Durchschnittliche“ lässt der wahre Künstler „hinter sich“, das war die Überzeugung von Willi Baumeister, denn: „Er ist der Statthalter höherer Gesetze“ („Das Unbekannte in der Kunst“, S. 99). In Baumeisters Kunstreligion gab es diese ewigen Gesetze, bildende Urkräfte, denen der Künstler zum Ausdruck verhalf, und er hatte dabei nichts weniger als „eine unbestechliche Membrane des Weltgewissens zu sein“ (S. 106). Mit seinem Idealismus war der moderne Maler Baumeister 1947, als „Das Unbekannte in der Kunst“ veröffentlicht wurde, salopp gesagt spät dran. Ihre Aktualität bezog die Schrift aus der Absicht, eine Lanze zu brechen für die abstrakte Kunst und gegen die in Deutschland noch virulente völkische Stildiktatur. Der Anspruch, dass Künstler auf besondere Weise denken, war damit verbunden. Dem Wissenschaftler gesteht Baumeister zu, „in der Methode des Findens gleich“ zu sein (S. 170), aber die Voraussetzungen sind doch offenbar andere. Der Schöpfer von Kunst kann gar nicht anders, als den Urkräften zu folgen: „Wenn ein künstlerischer Mensch irgendeiner Tätigkeit obliegt, entsteht unwillkürlich Kunst“ (S. 133). Kurz, er hat den (gottgegebenen) künstlerischen Blick, der seine Grundlage in einer „tiefgründigen Zone“ von Form und Gestalt hat. 

Ein halbes Jahrhundert später ist von derlei Idealismus nichts mehr übrig. Statt göttlicher Eingebung oder auch nur Instinkt, der biologisch programmiert wäre, erklärt der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu den gesellschaftlich konstituierten Habitus zur Grundlage künstlerischen Denkens („Manet. Eine symbolische Revolution“; „Die Regeln der Kunst“). Wenn es dieses als eigenständige Denkweise gibt, dann innerhalb eines „künstlerischen Felds“, das Grundlage und Bedingungsrahmen ist für ästhetische Entscheidungen. Das „Feld“ ist zwar „ein gegenüber den ökonomischen und sozialen Kräften relativ autonomes Universum“, doch eben relativ, was heißt: vermittelt diesen Kräften unterworfen (Manet, S. 410). Der Anspruch auf ein Alleinstellungsmerkmal ist für Bourdieu menschengemacht – aber er bleibt: „Die künstlerische Produktion ist ein besonderer Fall von menschlichem Handeln“ (S. 63), das schöpferische Denken ein Praxisdenken, seine Sprache die „des Könnens, des Auges, des Blicks, des praktischen Sinns, des Handgriffs, der Fertigung“ (S. 132). Der Künstler ist Agent dieses Denkens, nicht allein sein Subjekt: Bourdieu argumentiert ausführlich gegen die Idealisierung der Kraft von Intentionen; es sind die meist unbewussten Dispositionen, die an die Stelle von Baumeisters ebenso unbewussten Urkräften treten. 

Der Spagat zwischen den so unterschiedlichen Denkweisen von Baumeister und Bourdieu wirft ein Schlaglicht auf die Theorieentwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die Überzeugung, dass zum künstlerischen Denken bewusste und unbewusste Anteile zwingend gehören, ist dabei eine Konstante. Urkräfte, Dispositionen, implizites Wissen: Was ist damit gemeint? Wie sind sie mit bewusstem Denken, mit Intentionen verknüpft?

Mit seiner Schrift „The Tacit Dimension“ (Die Dimension des Unausgesprochenen) hat der Philosoph Michael Polanyi 1966 wichtige Anregungen gegeben. In der deutschen Übersetzung des Titels „Implizites Wissen“ wird nicht sofort deutlich, dass es Polanyi keineswegs nur um kognitiv-mentale Prozesse ging, sondern grundsätzlicher um Nervenprozesse der Wahrnehmung, die den ganzen Körper betreffen. Jeder Gedanke, so Polanyi, umfasst Komponenten, „die wir nur mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts registrieren“. Alles Denken geht „aus dieser Unterlage, die gleichsam Teil unseres Körpers ist“, hervor („Implizites Wissen“, S. 101). „Wissen“ meint hier stets sowohl praktische (knowing how, meist unbewusst, nicht verbalisiert) als auch theoretische Kenntnisse (knowing that, in Sprache reflektiert). „Wahrnehmung“ (Polanyi verweist an dieser Stelle auf die Gestaltpsychologie) ist die „Brücke zwischen den höheren schöpferischen Fähigkeiten des Menschen und den somatischen Prozessen“ (S. 16).

Ein alltagspraktisches Beispiel für die Funktion und Notwendigkeit impliziten Wissens ist das Fahrradfahren: Der Radler hat es geübt, der Körper weiß, wie es geht, und der Geist braucht nicht Richtung, Tempo, Neigungswinkel und Erdanziehung zu berechnen, damit es klappt. Im Gegenteil: Würde man jederzeit bewusst darüber nachdenken, z. B. ob und wie stark die Bremse zu betätigen ist, wäre der Unfall abzusehen. Näherte sich von der Seite ein Auto, würde der Radler niemals umfangreiche Differenzialgleichungen berechnen, um nicht zu kollidieren. Er erfasst Tempo und Annäherungswinkel intuitiv und reagiert spontan, sonst wäre das Überleben schwierig. In den Künsten ist es nicht anders: Der Pianist erwirbt sein implizites Wissen durch ständige Übung. Er kann nicht bewusst die nächste Taste suchen, das würde ihn herausbringen aus dem Spiel; die Noten fließen ihm schließlich gleichsam aus der Hand. Und die geübte Hand des Zeichners weiß ebenfalls, was sie tut, ohne dass es dem Künstler ständig bewusst sein muss.

Was abläuft im impliziten Wissen kann nach Polanyi unter bestimmten Bedingungen ins sprachliche Bewusstsein gerufen, also ins explizite Wissen integriert werden, doch niemals während des Handelns. Denn dessen Gelingen ist, wie geschildert, abhängig vom ungestörten, implizit gewussten Ablauf. Und solche Abläufe spielen nach Polanyi in allen Lebensbereichen eine grundlegende Rolle, auch in der Wissenschaft und in der Kunst. 

Was ist damit für unsere Fragestellung gewonnen? Konfrontiert man Baumeisters „höhere Gesetze“ und „tiefgründigen Zonen“, seine Quellen des künstlerischen Denkens, mit Polanyis Thesen, wird sofort deutlich, welche Überhöhung allgemein menschlicher Fähigkeiten der Maler sich gestattet. Der Blick für Formen und Farben ist viel plausibler zu erklären als Ergebnis impliziten Wissens, das im Prinzip ebenso erlernbar ist wie Fahrradfahren. Das bedeutet nicht, dass genauso viele Menschen die Voraussetzungen haben, gute Künstler:innen zu werden, wie die, die radeln können. Es kommen noch andere Kriterien ins Spiel. Festhalten lässt sich zunächst, dass künstlerisches Denken aus derselben Grundlage erwächst wie anderes Denken auch. Polanyi: „Denken insgesamt einschließlich der höchsten schöpferischen Fähigkeiten“ hat somatische Wurzeln. 

„Unser Körper ist das grundlegende Instrument, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnisse von der äußeren Welt gewinnen“ (S. 2). Es wäre also ein Missverständnis, etwa allein die Pinselführung oder die Handhabung der Digitalkamera, also das Handwerkliche, als angewiesen auf implizites Wissen zu betrachten. Jeder schöpferische Prozess und alles, was jeweils dafür notwenig ist, fußt darauf. Natürlich ist das bei einem Pianisten, der für seine Leistung hohen Körpereinsatz und sein „Handgedächtnis“ braucht, anschaulicher als bei einem Konzeptkünstler. Doch was wäre der „vertikale Erdkilometer“ von Walter De Maria ohne das implizite Gefühl für Raum und Maß? De Maria ließ 1977 bei der documenta 6 in Kassel einen Messingstab von einem Kilometer Länge vertikal in die Erde versenken. Sichtbar ist nur das obere Ende des Stabes – eine Kreisfläche von zwei Zoll (5,08 Zentimeter) Durchmesser. Die der Wahrnehmung weitgehend entzogene Plastik setzt auf die Imaginationsfähigkeit des Betrachters.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination
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Das Rätsel künstlerischen Denkens

Baumeister, Beuys und Bourdieu

Ein Essay in acht Kapiteln

Kapitel 1

Künstler:innen denken auf rätselhafte Weise besonders, haben außergewöhnliche Fähigkeiten – laut einer tradierten und immer noch weit verbreiteten Ansicht. Wie sonst sollten sie ihre oft so ungewöhnlichen, zweckfreien und anrührenden Werke schaffen? Ihr Denken scheint geheimnisvoll – zumindest auf den ersten Blick. Das Gefühl, große Maler:innen oder Musiker:innen hätten Kontakt zu ungeahnten spirituellen Sphären, wird vielfach gepflegt, vielleicht, weil es über Bewunderung hinaus ein Bedürfnis nach Ehrfurcht bedient. Rätsel jedenfalls faszinieren. Das künstlerische Rätsel allerdings erzeugt bei manchen auch Ratlosigkeit. 

Paul Klee schrieb in den 1930er Jahren: „Die Kraft des Schöpferischen kann nicht genannt werden. Sie bleibt letzten Endes geheimnisvoll. (…) Wir sind selbst geladen von dieser Kraft bis in unsere feinsten Teile. Wir können ihr Wesen nicht aussprechen, aber wir können dem Quell entgegen gehen“ („Das bildnerische Denken“, S. 17). Nicht nur Kunstschaffende, auch Philosophen und andere behaupten bis heute die geheimnisvolle Kraft der Kunst.  Dieses immer noch virulente Mysterium darf entzaubert werden – was nicht heißt, die Kunst abzuwerten. Die Leistung der Künstler:innen ist ohne die Hilfe mysteriöser Kräfte und „höherer Wesen“ eher noch höher zu veranschlagen. Hier sollen auch keine Tricks entlarvt werden; es geht um eine geerdete, eine realistische Darstellung der Basis besonderer künstlerischer Fähigkeiten. 

Für die Aura des künstlerischen Denkens ist es wesentlich, dass die Schöpfer:innen etwas vor Augen stellen, etwas zeigen, und dies in der Regel nicht selbst noch einmal beschreiben, erklären, verbalisieren. Das sehen sie nicht nur nicht als ihre Aufgabe an,  sie setzen (mit den Worten von Gottfried Boehm) gerade auf die „Macht des Zeigens“, die sich niemals auf das Sagen reduzieren lasse. Eine interessante Rolle wird später im Text Joseph Beuys spielen, der die Kraft seiner visuellen Sprache immer mit der Kraft des Sagens, des Lehrens, gar des Kündens verbunden hat. Jedoch: Für Beuys waren erklärtermaßen die nicht zwingend sprachlich gebundenen Denkweisen Intuition, Inspiration und Imagination grundlegend. 

Für jeden, der künstlerische Praxis kennt und/oder Kunstwerke betrachtet, dürfte es zunächst einleuchtend sein, dass das, was sich nicht sagen lässt, dabei eine große Rolle spielt. Ohne eine unbewusste Kraft der Imagination ist weder das Gestalten noch das Erfassen von Kunst vorstellbar. Das hat – konkret auch bei Beuys – nichts mit übersinnlich-mystischen Vorstellungen zu tun. Es geht um die Sinne, die sinnliche Wahrnehmung als Basis, es geht um einen kreativen Bezug zur realen Welt. 

Die Aura des besonderen, geheimnisvollen, wenn nicht gar genialen schöpferischen Subjekts wird trotz aller Entmystifizierungsversuche auch heute noch dort kräftig genährt, wo es gilt, den Künstler-Habitus zu etablieren. Es geht um Status, Konkurrenz, um Markttauglichkeit. Dabei wird gerade nicht verraten, wie denn dieses spezielle Denken funktioniert, wie es sich von anderen Denkweisen unterscheidet, wenn es sich denn unterscheidet. 

Im Folgenden möchte ich versuchen, die Voraussetzungen künstlerischen Denkens zu beschreiben. Als passionierter Beobachter der Kunst und eigenhändiger Zeichner entspringt mein Interesse auch der Praxis, bzw. einer Praxistheorie. Wie denkt der Künstler, indem er etwas tut? Und auf welchen Bedingungen und Möglichkeiten beruht das? Es geht also nicht allein um Künstlertheorien (Was erklären die Macher:innen zu Sinn und Absicht ihrer Arbeiten?), auch wenn sich daraus Schlüsse auf Denkweisen ziehen lassen. Auch Theorien von Philosophen zur künstlerischen Arbeit (die meistens mit Forderungen verbunden sind, wie Kunst zu denken sei und zu sein habe) sollen hier nicht im Zentrum stehen. Grundsätzlicher interessiert mich, wie Gedankenströme fließen, wie sie initiiert und entwickelt werden, schließlich zum Ziel kommen. Das hört sich nach Kreativitätstheorie an, aber auch diese allein beantwortet die Ausgangsfrage nicht. Was in dieser Disziplin verhandelt wird, trifft längst nicht nur auf künstlerisches Denken zu.

Dieses lässt sich – wie jedes Denken – nicht von vorneherein auf bewusstes Überlegen begrenzen, im Gegenteil. Die Geschichte der Kunst(-theorie) ist voll von Beschreibungen unbewussten Denkens – ohne das auch der Mythos vom Schöpfertum nicht auskommt. Das Genie ist der Nachfahre der Götter, die die Künstler inspirierten. Nietzsche und Freud haben sich dann auf je eigene Weise Sorgen um den Wahnsinn oder den Traum als Quelle gemacht. Künstlerisches Denken zu entmystifizieren heißt also, den faktischen Kern dieser Legenden freizulegen. Was ist Inspiration, Intuition und Imagination in der schöpferischen Praxis?

Inspirierend für viele Forscher war Karl Polanyis Essay „Implizites Wissen“. Sein Diktum „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen“ wird in verschieden Disziplinen gerne zitiert, bei Psychologen, Pädagogen, Verhaltensbiologen und auch in den Kunstwissenschaften. Er machte deutlich, dass wir es beim Denken nicht allein mit sprachlich verfassten und formulierbaren Phänomenen zu tun haben. Künstler:innen wissen nicht immer bewusst, wie sie denken, und das ist, Polanyi und seinen Followern zufolge, auch ganz wichtig, weil sie ihre zunächst rätselhafte schöpferische Kraft gerade deswegen haben. 

Von einer anderen Seite, von der Soziologie her, gibt es einen Weg, der zu demselben Ziel führt: Pierre Bourdieus Untersuchungen zum „künstlerischen Feld“ und den damit verbundenen unbewussten „Dispositionen“, die den Künstler leiten, beziehen sich nicht auf Polanyi, kommen aber zu einem vergleichbaren Ergebnis. Das soll nicht über den Kopf der Praktiker hinweggehen, die schon früher wussten, dass sie mehr und anderes tun, als sie explizit wissen, dass sie mit unbewusster Kraft ans Werk gehen. Neben Klee hat das Willi Baumeister geschildert, in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“. 

Das bewusste Denken ist mit dem unbewussten eng verknüpft, wie genau, darüber gibt es verschiedene Vorstellungen. Das wird zu zeigen sein, ebenso, dass Denken sich auch und gerade für Künstler nicht nur im Kopf abspielt. Es geht natürlich wie immer nicht ohne Gehirn, aber „Das Gehirn ist nicht einsam“, wie ein Buchtitel aus dem Thinktank für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg lautet. Im Gegenteil sehen Forscher wie Thomas Fuchs und Hans Jürgen Scheurle eine „Resonanz zwischen Gehirn, Leib und Umwelt“. Auch wenn das genau maßgeschneidert auf eben den Leib des Künstlers klingt, bleibt die Aufgabe herauszufinden, wie sich ein spezifisch künstlerisches Denken daraus beschreiben läßt. 

Dabei können auch die Untersuchungen zu Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern  gute Hinweise geben, wie sie der Linguist George Lakoff und der Kunstphilosoph Mark Johnson in ihrem Buch „Leben in Metaphern“ schildern. Hierbei geht es um eine Präzisierung des Zusammenhangs bewusst-unbewusst – es gibt nicht nur den Weg vom Noch-nicht- oder Vor-Bewussten zum klaren Erkennen; metaphorische Konzepte können sich im Denken so etablieren, dass sie es steuern und dabei nicht mehr ins Bewusstsein treten. Die Metapher ist eine Grundstruktur der konstruktiven Wahrnehmung, des Denkens und der Imagination. 

Am Ende wird sich zeigen: Künstlerisches Denken nutzt die grundlegende Kraft der Imagination und entwirft neue metaphorische Konzepte. Dafür entwickeln Künstler:innen – nicht nur alleine im Atelier, auch in Kooperationen – ihre je eigenen Methoden. Was eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein spezifisch künstlerisches Denken ist, denn diese Kriterien lassen sich auf alle kreativen Prozesse beziehen. Deshalb müssen auch die Motive und Ziele des künstlerischen Handelns (Praxisdenkens), müssen Kontexte und sozialer Habitus mit betrachtet werden. Es geht nicht ohne Autonomie: Wirklich künstlerisches Denken eröffnet einen (Handlungs-) Raum ästhetischer Freiheit und initiiert sinnlich-geistige Erfahrungen, die das Welt- und Selbstverständnis sowohl der Macher als auch der Betrachter verändern können.

Kapitel dieses Essays:

  1. Baumeister, Beuys und Bourdieu
  2. Alleinstellungsansprüche
  3. Die Einheit von Wahrnehmen und Denken
  4. Metapher als Konzept
  5. Intuition als Methode bei Joseph Beuys
  6. Praxis im künstlerischen Feld
  7. Institution der Freiheit
  8. Resümee: Methodische Imagination

Katalog der schlummernden Ideen

Benoit Tremsals Imaginäres Museum

„Stairway to a disaster“, konzipiert für ein Projekt im Massif du Sancy in Frankreich 2010. © Benoit Tremsal

Im Salon des refusés waren die von der Jury für die offizielle Ausstellung nicht akzeptierten Werke zu sehen, 1863 in Paris – damals ahnte dort niemand, daß zu den Zurückgewiesenen Bilder gehörten, die später zu Stars der Moderne avancierten. Zu den „Refusés“ zu gehören heißt also nicht, keine Qualität und keine Zukunft zu haben. Das gilt auch für die Werkkonzepte, die in dem Bildband „Refusés und andere Sackgassen. Katalog der nicht realisierten Projekte 1992 bis 2018“ von Benoit Tremsal vorgestellt werden. Es sind oft Zufälle und äußere Umstände, die ein Projekt zunächst an der Realisierung hindern. Die Ideen und Pläne, die zum Teil umfangreichen Vorarbeiten für ein Werk im öffentlichen Raum, sind es daher wert, nicht gänzlich in der Schublade zu verschwinden. 

Der vielseitige Bildhauer und Objektkünstler Benoit Tremsal hat 78 Projekte aus den Jahren 1992 bis 2018 dokumentiert, die er für Wettbewerbe, Ausstellungen, Symposien, Kunstpreise etc. in verschiedenen Ländern erarbeitet und eingereicht hat und die nicht realisiert wurden. Aus den unterschiedlichsten Gründen – mal gewannen andere, mal fehlte den Auslobern am Ende das Geld, mal gab es gar keine Begründung oder die Organisation versagte schlicht (das kurioseste Beispiel dafür ist der Fall in Salins les Bains, wo Tremsal auf Einladung eines Kunstvereins ein Werk gestalten sollte, der Bürgermeister ihm einen Ort dafür zuwies, aber das Ordnungsamt während der Realisation einschritt und dem Künstler die Arbeit dort verbot.) Künstlerische Aktion im öffentlichen Raum ist immer auch ein soziales Experiment, und so fließen in diesen Katalog nicht nur die Dokumente, Erläuterungen, Fotos und Skizzen zu den Projekten ein, sondern oft auch die Erfahrungen, die Tremsal in den vorbereitenden Arbeitsprozessen machte. Die gehören mit zum Werk.

Um die Kunst aus ihrem Schlummerzustand im Archiv zu wecken, wählte der Künstler eine Form, die an die historischen Whole-Earth-Catalogs erinnert. Diese wild layouteten Druckwerke aus der Zeit um 1970 waren Lebenshilfe für die Alternativbewegungen; man fand darin Angebote für alles, was der umweltbewusste Aussteiger brauchte. Oder wovon er träumte. Die Kapitel sind verschränkt, fließen ineinander, das Auge kommt kaum zur Ruhe – diese Form vermittelt inspirierend Bewegung an Stelle von statischer Ordnung. Das entspricht dem utopischen Moment der Refusés, dem Impuls des Künstlers, sie nicht in der oder jenen Sackgasse endgültig zu parken. 

So entstand das Imaginäre Museum der 78 Konzepte, die aus der Zurückweisung auch eine Kraft für die Gegenbewegung geschöpft haben. Den Begriff des Imaginären Museums prägte André Malraux Ende der 1940er Jahre als Reaktion auf die zunehmende Verbreitung von Fotos: Der Bildband ersetzt die Präsentation der realen Werke. Was damals durchaus kulturkritische Fragen aufwarf,  wendet Tremsal hier ins Produktive: Der Katalog ist ein konzeptuelles Museum.  

Die Bandbreite der Formen und Themen der Refusés ist beeindruckend. Tremsal geht bei seinen Projekten in der Regel vom Prinzip der ästhetischen Intervention aus. Die Entscheidung über Materialien und Inhalte erwächst aus der je konkreten Situation, dem Ort des Werks und seinen Bedingungen. Von ihm läßt Tremsal sich inspirieren, seinen ästhetischen Zustand und seine historische Bedeutung (was auch Alltagsgeschichte meint) nimmt er auf. Die dann folgende detaillierte und rationale Planung gießt die Ideen in eine Methode, bringt sie in Form.  

Gut ein Drittel der 78 Werke sind Landschaftsveränderungen oder Eingriffe in vorgegebene architektonische oder gärtnerische Situationen durch Bodenplastiken. Arbeiten wie „Erdzunge“ und „Erhobenes Dreieck“ zeigen, dass das Prinzip in der freien Landschaft wie im Stadtraum funktioniert. Das Material ist jeweils der vorgefundene Boden. Dreieckige Einschnitte ins Terrain werden, so der Eindruck, nach oben geklappt, und es mutet an, „als hätte ein Riese“ sich hier betätigt, schildert Tremsal. Unterstützt von Stahl und Beton weist das Wiesenstück spitz in die Höhe, ähnlich der Ausschnitt des Betonbelags einer Fußgängerzone. Die Irritation beim Betrachter entsteht gerade dadurch, dass keine Fremdkörper an den Ort gesetzt, sondern der Ort selbst verfremdet wird. Die Fläche wie die Perspektive des Betrachters werden aus dem Gleichgewicht gebracht, die veränderten Koordinaten lassen auch die unveränderte Umgebung in anderer Sichtweise erscheinen: Sensibilisieren der Wahrnehmung. Eine Variante dieser Konzepte ist die Abformung vorhandener plastischer Zustände. So bei der Arbeit „Trichter“, einem Eingriff in das Gelände eines Münchner Rangierbahnhofs. Drei Bombentrichter fasst Tremsal als Negativformen auf und gibt ihnen positive Doubles, drei aufgeschüttete Kegel.

Die Sinne schärfen und das Bewusstsein wecken, diese  Absicht formuliert Tremsal explizit im Text zur „Skulptur als Implantat“, den „Zwei Schanzen“ für eine Sportanlage. Das gilt auch für ein weiteres großes Kapitel seines Werks, die eher klassischen Skulpturen und Plastiken, die für bestimmte Orte und wiederum mit engem Bezug auf diese konzipiert sind. Wenn er für den Skulpturenweg Fläming eine Holzwand entwirft, die den Blick auf die Landschaft gleichzeitig verstellt und in ihrer Struktur reflektiert, geht es ebenso um die produktive Irritation wie bei „double edged 2“, wo der Eindruck einer in den Waldboden gekippten Mauer erzeugt wird, die die Situation verfremdet und verrätselt. Tremsal stellt kein Objekt wie ein Möbel in die Landschaft, das überall stehen könnte, er setzt sich auch mit komplexen und schwierigen Situationen so auseinander, daß er dem Ort, seinen Formen und Materialien eine Resonanz gibt. Das gilt auch für die einzige Wandarbeit im Katalog, die „Himmlische Landschaft“ für ein Terminal am Münchner Flughafen, wo er für ein überladenes, ästhetisch gruseliges Ambiente eine künstlerische Lösung entwickelt, die sich hätte behaupten können. Doch mit diesem Refusé Nr. 1 beginnt die Reihe.   

Bei seinen Erkundungen eines Ortes verhält sich der Künstler mitunter wie ein Archäologe, der an gefundenen Dingen Fragmente einer Geschichte abliest. Die Geste des Grabens – nach „kleiner Geschichte“ oder „Nicht-Geschichte“ – hat Tremsal bei einigen Projekten explizit thematisiert, so bei den „Erdarbeiten“ oder bei „Verbergen“, wo er mit Material aus Magazinen und Werkstätten eines aufgegebenen Industriebetriebs arbeitet (in Kooperation mit der Künstlerin Sabine Hack). Eine andere Variante ist die fiktive Archäologie, wenn er Ruinen erfindet – das zieht sich durch mehrere Projekte; ein wichtiges Beispiel ist die Skulptur für die Deutsche Botschaft in Warschau: Das fragmentarische, funktionslose Stück Architektur aus roten Ziegelsteinen im Garten steht in klarem Kontrast zum sachlich-modernen Gebäude mit seiner glatten grünen Fassade. Die „Ruine“ kann als Hinweis darauf aufgefasst werden, daß die Geschichte der Deutschen in Warschau alles andere als „glatt“ ist. 

Im Projekt für die Warschauer Botschaft ist das Thema explizit politisch, was in Tremsals Arbeit die Ausnahme ist. Auch die Entscheidung für eine historisch-politische Aussage ist jeweils eine Reaktion auf die Bedeutung des Ortes, an dem das Werk entstehen soll. So beschäftigt sich „Virtual woman“, für Stuttgart entworfen, mit der politischen Entscheidung, die Plastik „Draped Reclining Woman“ von Henry Moore nach Kritik aus der Bevölkerung von ihrem Platz vor dem Landtag zu verbannen. Tremsal wollte sie virtuell, als Hologramm, wieder an ihren ursprünglichen Standort bringen, zu sehen auf einem goldenen Sockel mit Informationstexten zu diesem „künstlerisch-politischen Kontext“. Eine andere explizit politische Arbeit ist „Ohne Titel (Seetor)“ für Dresden, eine Arbeit für den öffentlichen Raum, die eine historische Torsituation neu interpretiert. Wo früher zwei Krieger-Torsi den Geist einer autoritär-militaristischen Gesellschaft verkörperten, sollte künftig ein Symbol für eine humane Gesellschaft stehen: zwei liegende  Säulen in Pastelltönen, darauf ein Frauenakt und gegenüber ein Männerakt. Diese inhaltliche und formale Veränderung einer Denkmalstereotype hätte der sächsischen Metropole gut zu Gesicht gestanden. 

In einem politischen Kontext bewegt sich Tremsals Kunst auch dann, wenn das Politische nicht formulierter Inhalt ist. Die gesellschaftlichen Konflikte um den Umgang mit den natürlichen Ressourcen sind in vielen Konzepten mitgedacht, wenn es um das Verhältnis von Natur und Kultur geht oder um Konsumträume und damit verbundenem Rohstoffverbrauch. Dem Beuysschen Gedanken von der „Sozialen Plastik“ nähert sich Tremsal in Projekten, die Aktivitäten des Publikums mit einbeziehen. So werden an der Erarbeitung eines „Stadtporträts“ für Esslingen Bewohner beteiligt oder es wird ein „Zukunftsbarometer“ errichtet, den Betrachter via social media mit steuern.  

Wenn der Katalog am Ende das Layout-Prinzip des Whole-Earth-Catalogs verlässt, ist das einem Projekt geschuldet, das nicht auf eine Einladung oder einen Wettbewerb reagiert, sondern eine eigene Initiative ist. Ihm kommt ein besonderer Raum im Imaginären Museum zu. Es ist ein umfangreiches Konzept zur Erinnerung an den österreichischen Komponisten Anton Webern (1883 bis 1945), das Tremsal gemeinsam mit dem Künstlerkollegen Matthijs Muller und der Komponistin Veronika Mayer entworfen hat. Die Affinität zu Themen der Musik rührt sicher daher, dass Tremsal auch Pianist ist. Weberns Musik soll im Ort Mittersill, wo der Schönberg-Schüler auf tragische Weise starb, in ein raumgreifendes Lichtkunstwerk transponiert werden. Die Laternen der öffentlichen Stromversorgung rund um einen See sind das Instrument, und das Publikum spielt via Internet mit bei der Lichtmusik. Obwohl es die Zustimmung der lokalen Verantwortlichen und einige finanzielle Zusagen gab, reichte das Geld am Ende nicht, um das Webern-Monument leuchten zu lassen. Allein für dieses spannende, innovative Konzept lohnt sich die vorliegende Dokumentation.

www.benoit-tremsal.eu

Ein Spielraum der Freiheit

Die Künstlerin, der Künstler, die Betrachter und auch die Kunstwerke haben ihren je eigenen Bewegungsraum. In diesen sich berührenden Sphären spielen sich die Prozesse der Kunstkommunikation ab, die gelingen können, soweit eben „Spielräume der Freiheit“ eröffnet und genutzt werden. Diese These möchte ich im Folgenden erläutern.

Wenn wir über Kunst sprechen, meinen wir ein kulturelles Phänomen, eine Institution, in der es um Artefakte geht. Beteiligte sind der Künstler (Autor) und Rezipienten, wobei unter letztere alle die verschiedenen Akteure subsumiert sind, die mit der Kunst auf ihre Weise umgehen. Der Autor ist frei in dem, was er tut. Der Rezipient ist frei darin, wie er ein Werk aufnimmt. Kunst ist das, worüber Konsens besteht, dass es Kunst ist. Sonst ist es Hobby, Design, Handwerk, Kitsch oder was immer. Diese Unterscheidung ist hier nicht als Rangfolge im Sinne der alten bildungsbürgerlichen Wertehierarchie gemeint, sondern wird als sachliche Unterscheidung von Arbeits- und Lebensbereichen beibehalten (in dem Bewusstsein, dass die Grenzen fließend sind). Das heißt, die Freiheit der Kunst wird auch als Kriterium dafür angesehen, dass die Kunst nicht als indifferenter Teil einer allumfassenden Ästhetisierung praktisch verschwindet. (Gerade das ist nicht nur ein Interesse der Freiheit, sondern auch der Käufer, die soziale Distinktion einhandeln wollen.) Gäbe es diese Freiheiten nicht, wäre das oben genannte Thema bereits erledigt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass es sie gibt – wobei Freiheit oder Autonomie immer vielfältig bedingt und eingeschränkt sind, wie im übrigen Leben -, können wir uns den Zusammenhang näher anschauen.

Spielraum als Metapher meint Bewegungsraum, Freiraum. Das Bild stammt aus der Mechanik, wo „etwas hat Spiel“ bedeutet, dass eine Bewegung ungehindert ablaufen kann, nichts ist zu eng oder zu fest geschraubt. Auf den Menschen übertragen heißt das: Er hat Raum, sich frei zu entfalten. Spielraum ist dann ein Synonym für Freiheit des Denkens und des Handelns.

Spiel als nicht ernste, nicht einem praktischen Zweck dienende Betätigung meint etwas anderes: Der Spieler probiert Rollen, Masken, Regeln; experimentiert mit Dingen; er kann sein Agieren vom Zufall bestimmen lassen und dem Glück eine Chance geben; er kann auf vielfältige Weise spielen, aber er kann jederzeit aus dem Spiel aussteigen. Für die Kunst indes ist dieser Spiel-Begriff problematisch. Viele Künstler werden ihn für ihre Arbeit ablehnen. Ihnen ist es ernst; sie empfinden ihre künstlerische Arbeit als existenziell, sie widmen ihr ihr Leben. Sie haben die Freiheit, Spielregeln eben nicht zu akzeptieren; sie dürfen Spielverderber sein. Das heißt nicht, dass es dabei keine spielerischen Haltungen und Methoden in Werkprozessen geben kann. Unberührt von diesen Überlegungen ist auch die große Tradition unterschiedlicher Spielbegriffe in der philosophischen Ästhetik, in der Kulturtheorie und speziell der Spielwissenschaft.

Aber um diese Aspekte soll es hier nicht gehen, zumal daraus kein für dieses Thema eindeutiger Spielbegriff zu gewinnen ist. Es geht vielmehr grundsätzlich um Handlungsfreiheit. Der Spielraum ist der, den die Freiheit zum Handeln innerhalb der Grenzen der Möglichkeiten hat.

Zu der Begrenztheit der subjektiven Möglichkeiten trägt auch die Widerständigkeit, partielle Unverfügbarkeit, das Eigenleben des Objekts bei, auch bereits im Prozess des Machens. Ästhetische Formen entwickeln sich nicht immer wie geplant, Unvorhergesehenes ereignet sich. Ein Werk kann in einem veränderten Kontext einen anderen Ausdruck annehmen. Für solche Erfahrungen stehen in den einschlägigen Debatten z.B. Begriffe wie „Eigenmächtigkeit der Ästhetik“ (Rauterberg) oder „Logik der Bilder“ (Böhm).  Sowohl für den Künstler wie den Betrachter muss das Werk nicht vollständig fassbar, in Sprache zu übersetzen und verständlich sein. Unverständlichkeit gehört in den Spielraum des Objekts. Das Werk kann seinem Schöpfer fremd gegenüber stehen. Wie sehr diese Distanz und die unmögliche Idee ihrer Überwindung Künstler umtreibt, wird vielleicht im Pygmalion-Mythos deutlich, auch in der Geschichte des Golem oder in neuer Zeit in Urs Widmers Erzählung „Indianersommer“, in der ein Betrachter in eine Bildszenerie steigt und dort auf den Maler trifft. Zur Distanz gehört auch das Gefühl: „Das Werk wird noch da sein, wenn ich nicht mehr bin“. In jedem Fall: Der Künstler muss sein Werk in die Freiheit der Sichtbarkeit entlassen.

Was für den subjektiven Spielraum aus Sicht der Anthropologie für alle Menschen gilt, hat für den Künstler eine besondere Bedeutung. Seine Handlungsfreiheit braucht und beansprucht einen besonders großen Spielraum. Künstler neigen dazu, auf der Suche nach dem Eigenen und dem Neuen Grenzen zu überschreiten und Regeln zu brechen. Der künstlerische Spielraum wird damit zum Raum der Freiheit. So schließt sich dieser Argumentationskreis: Ohne Freiheit keine Kunst. Aber ist damit nicht einem unterdrückten Künstler in einer Diktatur sein Künstlersein abgesprochen? Das wäre ein höchst unerwünschter Erfolg für die Diktatoren. Die Frage ist, welche Freiheit unterdrückte Kunst dennoch braucht  und haben kann. Der politisch verfolgte Künstler, der trotzdem ein Werk schafft (Ai Weiwei in China ist ein prominentes Beispiel), kämpft um den Spielraum, trotz aller Widerstände und Einengungen. Auch wenn sein Spielraum eingeschränkt wird, ist seine Anstrengung umgekehrt umso wichtiger, weil er das Existenzrecht – seines und das der Kunst überhaupt – verteidigt. Hier wird noch einmal deutlich, dass es nicht immer um ein Spiel geht. In diesem Spielraum ist es mitunter todernst.

Der Begriff Spielraum beschreibt die bedingte Freiheit, die relative Autonomie sehr gut. Die Kunst braucht, wie beschrieben, ein Mindestmaß an äußerer Freiheit, um entstehen und wirken zu können. Offenbar ist aber die Dimension des politischen Spielraums nicht allein maßgebend für die Qualität eines Werks. Die einfache Gleichung „Je größer der Spielraum, desto besser die Kunst“ geht nicht auf. Auch in repressiven Verhältnissen kann die Kraft der Imagination ihre Wirkung auf unterschiedliche Weise entfalten. „Das Vorstellungsvermögen bleibt auch in der Gefangenschaft frei“, lässt Imre Kertész die Hauptfigur in seinem „Roman eines Schicksallosen“ sagen; er ist Häftling im KZ Buchenwald, so wie seinerzeit der Schriftsteller. Die Möglichkeit, dass ein Mensch – und damit seine Freiheit – ganz vernichtet wird, ist leider immer gegenwärtig. Wesentlich aufgrund historischer Erfahrungen gibt es in der Bundesrepublik einen starken Schutz der Kunstfreiheit in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dieser Schutz darf auch nicht, wie bei anderen Grundrechten durchaus, durch ein Gesetz eingeschränkt werden. Politisch ist der Spielraum in Deutschland also sehr groß, im Unterschied zu vielen anderen Ländern. Die Künstler hierzulande sind rechtlich frei dazu, ihr eigensinniges  Werk zu schaffen. Die dafür notwendige innere Freiheit kann und muss jeder selbst entwickeln. Der innere Freiheitsdrang, die Kreativiät im Kopf und in der Hand, ist offensichtlich entscheidender als der Spielraum, den die äußeren Bedingungen gewähren. Zum mentalen Spielraum gehört notwendig auch die Fähigkeit zur Reflexion des Werkprozesses und zur Selbstkritik, die den Horizont offen hält für eine Weiterentwicklung.

Frei sein darf der Künstler darüberhinaus von allen Zumutungen: Er ermittelt nicht die Wahrheit, ist nicht zuständig für Schönheit, Verständlichkeit oder Representativität. Er muss nicht den Betrachter in Atmosphären einüben oder therapieren, nicht politisch sein, nicht unpolitisch sein. Er darf sich für unzuständig halten, die Realität wiederzugeben, und er muss auch keine Gegenentwürfe liefern. Er hat das Recht, sich dem Anspruch zu widersetzen, bedeutsam zu sein oder innovativ. Er darf alle Ansprüche an ihn ignorieren und jegliche Indienstnahmen seiner Arbeit ablehnen. Er ist frei darin, das alles freiwillig zu tun, er darf aber immer seinem Eigensinn folgen. Noch vieles, was Philosophen, Pädagogen, Kunsthistoriker, Kritiker und Staatsbeamte dem Künstler auftragen wollen, ließe sich sammeln. Explizite und implizite Vorstellungen, was Kunst zu sein hat, finden sich in allen ihren Texten.  Und es gibt die vielen faszinierenden Beispiele  großer Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrer Eigensinnigkeit alle diese Zumutungen unterlaufen. Und, nicht zu vergessen: die unaufhebbare Schwierigkeit, ein komplexes Werk zu erfassen. Die Kunst ist jedenfalls der Igel, der dem Hasen des Betriebssystems oder anderer sozialer Zusammenhänge immer voraus sein kann. Wenn er es denn will und seinen Spielraum nutzt.

Was ist die Freiheit und die Verantwortung des Rezipienten? Wie in jeder Form der Kommunikation geht es auch in der Kunst um das Gelingen dieser Kommunikation. Das Werk, die Darstellung, der konkrete Auftritt, spricht zum Betrachter in unterschiedlicher und mehr oder weniger schwer verständlicher Weise. Selbst hermetische Werke sind zumindest an einen idealen Betrachter gerichtet. Gelingen heißt in der Kunst sicherlich etwas anderes als in der Alltagskommunikation. Wenn Kunstwerke ein offenes Sinnangebot machen, wenn das Verstehen ein letzlich unabschließbarer Prozess ist, dann ist auch das Ziel der Kommunikation in Bewegung und damit das Gelingen. Es geht demnach nicht einfach um ein harmonisierendes Ein-Verständnis. Irritationen können Teil des Prozesses sein, ebenso die Infragestellung der Kommunikation. Ästhetische Lust und Freude am Werk vor jeder verbalen Erklärung könnenzu den Grundlagen des Gelingens gehören so gut wie Kenntnisse und gedankliche Fähigkeiten.

So ist angedeutet, dass die Arbeit des Rezipienten anspruchsvoll sein kann. Sie ist ebenfalls schöpferisch (und muss nicht in allem den Intentionen des Künstlers folgen). Soweit der Betrachter das Gelingen der Kommunikation verantwortet, kommt es darauf an, dass er sich auf das Werk kritisch und selbstkritisch einlässt.

Klassische Kunst lässt sich in der Regel eher über die Betrachtung von Inhalt und Form erschließen als moderne, die narrative Inhalte auch verweigern kann. Sie folgt keinem Kanon, oft gibt es in der Darstellung Brüche, Fragmente und letztlich Sinnverweigerungen, die sich einer hermeneutischen Interpretation entziehen. Der Rezipient hat die doppelte Aufgabe, Kriterien des Verständnisses zu ermitteln und diese gleichzeitig in Frage zu stellen. Das verlangt nicht nur die rhetorische Struktur vieler Werke. Die Kritikfähigkeit ist auch Voraussetzung für die möglichst große Unabhängigkeit von (vermeintlichen) Autoritäten und Experten, die gerne ihre interessegeleiteten Sichtweisen absolut setzen, den unterschiedlichen Zwecken des Betriebssystems folgend. Davon darf sich der Betrachter frei machen, er hat die Möglichkeit, seinen eigenen Eindrücken und Empfindungen zu trauen und sich Wissen anzueignen, das ihn einem Verständnis und damit einem Gelingen der Kommunikation näher bringt. Er darf ein Angebot aber auch ablehnen. Wer sich nicht mit einem Werk befasst, kann logischerweise kein Urteil darüber bilden. In der Alltagspraxis sieht das mitunter anders aus: Hier herrscht dann oft die Sprache des Ressentiments und der Verunglimpfung. Eine sachliche Kritik und von Argumenten getragene Zurückweisung andererseits bleibt immer – soll das Freiheitsrecht der Kunst nicht beschädigt werden – ein Standpunkt in einer offenen Diskussion. Eine Zensur kann auch hier nicht stattfinden. Wenn Bilder aus öffentlichen Ausstellungen, ein Obelisk mit einer Inschrift von einem städtischen Platz oder ein Gedicht von einer Wand im öffentlichen Raum entfernt werden, weil es partielle Einwände bzw. Empfindlichkeiten dagegen gibt, wird auch die allgemeine und freie öffentliche Debatte darüber erschwert, wenn nicht ganz verhindert.

Das letzte Wort wird nicht gesprochen. Ästhetische Erfahrung und Kunstkommunikation sind offene Prozesse, prinzipiell ohne Ende, in denen der Spielraum der Freiheit ständig neu eröffnet wird.

Am konkreten Beispiel eines Kunstwerks – „13. 4. 1981“ von Olaf Metzel – möchte ich zeigen, welche Freiheit sich ein Künstler nimmt, wie sein Spielraum eingeschränkt wird, wie frei oder unfrei ein Publikum reagiert und wie eine Debatte über den Kunststatus geführt wird. Das Exempel deckt dabei viele, sicherlich nicht alle denkbaren Hinsichten und Kriterien ab.

Nach einer Demonstration am 13. 4. 1981 auf dem Kurfürstendamm fand der Berliner Künstler Olaf Metzel am Straßenrand eine Anhäufung rot-weißer Absperrgitter mit einem Einkaufswagen darauf vor. Er fotografierte dieses Objekt und machte später den Zufallsfund zum Ausgangspunkt seiner Arbeit für den öffentlichen Raum, eben auf dem Kurfürstendamm, mit dem Titel „13. 4. 1981“. Diese Plastik, 1987 aufgestellt im Rahmen des städtischen Projekts „Skulpturenboulevard“, erinnert in der repräsentativen Einkaufsmeile an die Proteste der Hausbesetzerszene  in einer Weise, die die Relikte der Demo gleichzeitig zitiert  und verfremdet. Metzel ließ Polizeiabsperrgitter, Einkaufswagen zum Transportieren von Wurfgeschossen, der Überlieferung nach Pflastersteine, und eben diese Steine in vergrößerter Dimension herstellen. Aus den rot-weißen Gittern konstruierte er einen 11,5 Meter hohen Turm mit waagerechten und senkrechten sowie dynamisch nach oben strebenden Linien. Unten liegen die (um ein Vielfaches vergrößerten) Steine, einer liegt oben im Einkaufswagen. Der Metzel-Turm lud erfolgreich nicht nur zum Betrachten, sondern auch zum darauf Klettern und Sitzen ein.

Der Künstler negierte den tradierten Ansatz der Möblierung des öffentlichen Raums durch  (Schmuck-) Kunst, die inhaltlich nichts mit ihrem Standort zu tun hat. Sein Werk ist nicht Beiwerk, sondern greift einen wunden Punkt der Stadtgeschichte, genau den Konfliktstoff des Ortes auf, an dem „13. 4. 1981“ installiert wurde. Damit unterschied sich die Plastik von allen anderen des Projekts, die eher der Dekoration der Stadt dienten (so beschrieben im „Kunstforum“ Nr. 84, S. 326). Zwar bezeichnet Metzel selbst seine Arbeit als Agieren auf der „verlängerten Spielwiese“, meint damit die Wirkungslosigkeit auch kritischer Kunst, doch eben diese „Verlängerung“ ist sein Freiraum. Er  gibt ein ästhetisch-politisches Statement ab, das sich dann als gar nicht so wirkungslos erweist. Das erinnert an den Beuysschen Gedanken, dass Kunst politisch wirken, dabei aber immer ästhetisch eine Sensation bieten soll – sonst wäre sie uninteressant.

Metzel holt die Plastik buchstäblich vom Sockel. Sein ironisch verfremdetes Zitat einer vorgefundenen Situation verweigert sich jeglichem Harmoniebedürfnis, der Aufhübschung durch Kunst. Vielmehr provoziert er den Konflikt neu. Dabei ist sein Werk formalästhetisch durchaus auch ein Genußangebot. Und es taugt zum Benutzen für eine Kletterpartie. Das Gerüst bietet Ausblick von oben, aber keinen Anlass für moralische Überhöhung.

Im öffentlichen Raum entfaltet sich am sichtbarsten ein Eigenleben des Werks. Wie das Objekt vom Publikum benutzt  wird, ist nicht planbar. Aber auch die Spannung zwischen ästhetischer Form (Anklang an Tatlins dynamischen Turm) und Lakonie des Alltagsmaterials ist ein lebendiger Prozess, der nicht still zu stellen ist.

Der Kultursenator als Auftraggeber hat das Werk ermöglicht und trotz aller Angriffe von Teilen des Publikums und der Boulevardpresse verteidigt; es blieb 1987 und auch noch im folgenden Jahr an seinem Ort. Den Mut zum Ankauf und zu einer dauerhaften Präsentation hatte die Stadt Berlin dann nicht. Hier endete für Metzel der Spielraum der äußeren Kunstfreiheit. Erst ein privater Käufer sorgte Jahre später dafür, daß das Werk auf seinem Gelände im Stadtraum wieder sichtbar wurde. Aber die Sicht auf „13. 4. 1981“ ist heute, räumlich wie inhaltlich, eingeschränkt. Metzels Plastik befindet sich im Exil – entschärft: Sie war für den Kurfürstendamm gemacht, nun wirkt sie wie ein Selbstzitat.

Soweit Reaktionen des Publikums in dem Buch „Olaf Metzel: 13. 4. 1981“ (München 2005) überliefert sind, zeugen sie nicht von freier Denkweise der Kommentatoren. Es sind mehr oder weniger aggressive Gesten der Verweigerung, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk und damit eine debattenfähige Argumentation nicht erlauben. Die Feindseligen reagieren reflexhaft auf das Signal, das Metzel setzt, und sparen sich das Nachdenken. Es gibt auch Aufrufe zum Mord – größer kann die innere Unfreiheit wohl nicht sein. Hierauf kann kein Angebot sachlich-inhaltlicher Diskussion antworten.  Die empörten Bürger vermeiden ihrerseits eine ästhetische oder kunstkritische Betrachtung. Sie  verlegen sich auf Scheinargumente wie „Kunst kommt von Können“, wobei unklar bleibt, was genau sie an der Plastik für nicht gekonnt halten, oder „Das wollen wir von unserem Steuergeld nicht bezahlen“. Das erste das bekannte Klischee ohne Aussagekraft, das zweite ein Missverständnis der Rolle des Steuerzahlers in einem demokratischen Staat.

Es wird außerdem den uninteressierten Teil des Publikums geben, und es wird diejenigen geben, die das Werk gut heißen. Letztere haben sich in der Debatte eher zurückgehalten. Schon 1987 ist die Minderzahl der reaktionären Wutbürger unverhältnismäßig laut, gerne auch anonym. Die Freiheit, die der Künstler sich nimmt, erzeugt bei ihnen Rachegelüste. Ein „Aktionskreis Kunst“ spricht sich aus für „absolute Freiheit der Kunst“, meint aber so etwas wie Vogelfreiheit; spricht von „demokratischen Rechten“, meint aber die Mobilisierung eines Mobs. Im Unterschied zu heute standen dafür noch keine „sozialen Netzwerke“ zur Verfügung. In den Augen solcher Wortführer ist wahre Kunst, im öffentlichen Raum oder überhaupt, bloßer Zierat, formschön und inhaltsleer, niemals ein Stein des Anstoßes. Ein Werk ist die staunenswerte artistische Leistung eines soliden Handwerkers. Wer das nicht liefert, ist demnach kein Künstler.

Etwas nicht als Kunst zu akzeptieren, ist legitim, aber hier geht es den Empörten letztlich darum, den Spielraum der Freiheit, und damit die Kunst überhaupt, nicht zu akzeptieren.

Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische?

Der Befund ist offensichtlich: Kunstausstellungen – ob documenta, Biennale oder im Museum – haben heute fast immer ein politisches Thema. Von vielen Kommentatoren wird das aktuell als beklagenswerter Zwang wahrgenommen. Man könne sich ohne politische Inhalte gar nicht mehr sehen lassen, sagen Kuratoren. Fördergelder seien oft an die Vorgabe gebunden, soziale Relevanz herzustellen. Häufig zu lesen ist auch die Kritik, dass die Politkunstwerke plakativ Inhalte verkünden und dabei keinem ästhetischen Anspruch mehr genügen. An einen berühmten Künstler wie Ai Weiwei werden keine höheren formalästhetischen Ansprüche gestellt als an eine NGO, meint Wolfgang Ullrich. Und die Kunst erzeuge dort medial die größte Aufmerksamkeit, „wo sie am wenigsten Kunst ist“, so Larissa Kikol. Politik durch Kunst – wo bleibt das Ästhetische, das ist die Frage.

Die Grenzen zwischen Polit-Aktivismus und freier Kunst verschwimmen zusehends – das Stichwort dafür lautet „Artivismus“. Es scheint geradezu, als sei die öffentliche politische Debatte zu einem erheblichen Teil in die Kunst ausgewandert. Und die verschafft sich dadurch neue gesellschaftliche Relevanz. Vor allem das Flüchtlingsthema ist präsent, aber auch grundsätzliche Kapitalismuskritik und die Klimadebatte. Diskurse, die in der offiziellen, institutionalisierten Politik stagnieren, haben so einen anderen Ort gefunden: Politik im Kunst-Exil. 

„Aktivistin trifft Passivistin“ lautete 2019 die Überschrift zu einem Artikel in der tageszeitung über das Zusammentreffen von Thunberg und Merkel beim UN-Klimagipfel, ein treffendes Schlaglicht auf unser Thema. Ein Zitat aus einem Text der Philosophin Rahel Jaeggi kann dies untermauern: „Tatsächlich grassiert die Entpolitisierung von Bereichen, die Bereiche gemeinsamen Handelns sein könnten; tatsächlich verfängt sich die Politik im Versuch verwaltungstechnischer oder marktförmiger Lösungen von Problemen, die sich so nicht lösen lassen werden“ (2008 in „Wie weiter mit Hannah Arendt?“). Und die eminent politisch denkende Künstlerin Hito Steyerl schrieb 2018: Weil „Macht heute eher ökonomisch als politisch kodiert zu sein scheint“, fühlten sich selbst diejenigen ohnmächtig, die politisch repräsentiert werden. In dieser Lage sind die Künstler oder Artivisten als Lieferanten politischer Statements gefragt, ja mehr noch: als Moderatoren, Sozialarbeiter und Gruppendynamiker (so beschrieb es der Kritiker Christoph Bartmann): Als „erweiterte Sozialpolitik qualifiziert sich die Kunst heute für Relevanz und Subventionen“. Und die Betrachter kommen zu den Artivisten oft nicht mehr um zu schauen, sondern um mitzumachen: Betriebsamkeit, so die vielfältige Klage, ersetzt das intensive ästhetische Erlebnis. Der hier von mir vertretene Ästhetikbegriff ist dagegen der: Kunst eröffnet einen Raum der Freiheit für sinnliche Erfahrungen, die das Selbst- und Weltverständnis verändern können, über die Notwendigkeiten der Natur und die kulturellen Zwecke hinaus. 

Wo aber bleibt das Ästhetische? Diese Frage stellt sich umso drängender, je mehr Politik mittels Kunst gemacht wird. Für Ai Weiwei zum Bespiel sind künstlerisches Schaffen und politisches Engagement identisch. Er erweitert das Konzept des Readymades und lässt oft einfach die Dinge sprechen: Rettungswesten von den Fluchtrouten des Mittelmeers, Eisenstäbe aus eingestürzten Gebäuden in China und anderes mehr. Das Flüchtlingsboot, das der Schweizer Künstler Christoph Büchel zur Biennale von Venedig 2019 dort an den Kanal gestellt hatte, spricht dieselbe Sprache. Verstanden wird sie, weil das Publikum den politischen Kontext kennt. Diese Sprache benötigt für ihren simplen Inhalt keine besondere Form. Ein Rätsel wäre die Form nur für den, der das Offensichtliche nicht versteht. 

Die Rettungsweste übrigens hat als Statement und Symbol eine besonders steile Karriere gemacht, die erst von der Pandemie 2020 gestoppt wurde. Es gibt nicht nur mehrere Künstler außer Weiwei, die die Weste für ihre Installationen benutzen, ihr Gebrauch verbindet auch nahtlos Artivisten mit Aktivisten, wie zum Beispiel die Verdi-Jugend auf einem Bundeskongress für die Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. Der Auftritt der Gewerkschafter in roten Rettungswesten ergab ein treffendes Bild für die ästhetische Ununterscheidbarkeit von politischer Kunst und Gesellschaftspolitik. Und für die Aufgabe jeglicher Originalität. Was dabei gewonnen werden soll, ist moralische Relevanz. Aber gibt es eine Kunst, die ästhetisch insignifikant und dennoch wichtig ist?

Diese Künstler benutzen die Materialien und Formen für ihre Konzepte so, als seien sie umstandslos verfügbar. Die Dingsymbole oder schlicht Signale bringen dabei ihre formalen Qualitäten, ihre Formästhetik nur zufällig ein. Folgt man an der Stelle den Überlegungen des Soziologen Hartmut Rosa, ist auf diese Weise keine wirkliche Resonanz möglich. Für ihn setzt eine produktive Resonanz voraus, dass sowohl Werk als Betrachter ihren Eigensinn ins Spiel bringen, ihre Unberechenbarkeit und partielle Unverfügbarkeit. Der Gedanke des „offenen Kunstwerks“ (Umberto Eco) kommt hier ins Spiel. Resonanz ist eben kein Kurzschluss, bei dem der Betrachter nur die Chance hat, eindeutig Vorgegebenes zu entziffern und nachzuvollziehen. 

Um die Autonomie oder Widerständigkeit und Eigensinn des Werks ist es in der aktuellen Politkunst oft so schlecht bestellt wie um den kreativen Interpretationsspielraum des Betrachters. Die Symbolik der Rettungsweste ist näher am historischen Agitprop als an differenzierten künstlerisch-politischen Positionen wie denen von Joseph Beuys (Stichwort Soziale Plastik) oder den kritisch-ästhetischen Konzepten von Hans Haacke. Wenn Wahrnehmung überhaupt, vor allem aber Kunstwahrnehmung kein simples Decodierungsverfahren ist, sondern kreatives Erleben, Ereignis, dann ist der Rezipient mit Agitprop schlicht unterfordert. Solche Angebote nehmen ihm die Chance, selbst Mitschöpfer zu sein, seine Phantasie und soziale Intelligenz ins Spiel zu bringen. 

Wenn Kunst also auf diese Weise nicht funktioniert, dann auch nicht ihr politischer Anspruch. Dass sie grundsätzlich nie im politikfreien Raum stattfindet, ist evident. Auch L’art pour l’art lässt sich in einen Kontext rücken, in dem sie politisch instrumentalisiert oder gar brisant wird. (In Diyarbakir ist jede Kunst politisch, sagte Övgü Gökce als Leiterin des dortigen Kunstzentrums.) Das lässt sich an zahlreichen Beispielen der Kunstgeschichte wie an aktuellen Werken ablesen. Für die Frage nach einer „Politischen Ästhetik“ ist aber über das Phänomen der Kontextualisierung hinaus die Diskussion des inneren Zusammenhangs wichtig, der zwischen Kunst und Politik besteht. Der lässt sich plausibel darstellen mit Hilfe des Denkens von Hannah Arendt, die das Politische und das Ästhetische im Begriff der Freiheit zusammenführte. 

Politisierung des Ästhetischen: Für Arendt ist Freiheit der Sinn von Politik. Das Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit ist ein Recht jedes Bürgers, ohne dessen aktive Wahrnehmung und freie Entfaltung Demokratie nicht gelebt werden kann. Spontaneität, einen Anfang setzen können, die Fähigkeit, die Dinge neu zu interpretieren, ist ein Merkmal politischen Verhaltens (und kann die etablierte Politik immens irritieren, siehe die Reaktionen auf das Video von Rezo). Urteilskraft, die von einem konkreten Standpunkt aus in das Gemeinwesen wirkt, ist eine grundlegend wichtige Fähigkeit im politischen Diskurs. Damit bezieht sich Arendt auf Kant, und sie versteht Urteilskraft wie Kant auch als unverzichtbar in ästhetischen Fragen: Mit ihrer Hilfe wird begründet über Geschmack gestritten. 

Die politische Freiheit ist Garant der Freiheit der Kunst. Und das Ästhetische wiederum, das keinem äußeren Maßstab folgt, sondern seinen eigenen setzt und sich alleine auf seine sinnliche Evidenz berufen kann, das Werk ebenso wie das Urteil darüber, liefert Arendt das Modell für das Politische. 

Künstlerisches Handeln unterscheidet Arendt, wie jedes Handeln, von Herstellen. Handwerk und Technik produzieren nach Plan, Kunst handelt frei – ein Werk setzt den neuen Anfang, es darf seine Strategie erst im Werkprozess entwickeln und offen bleiben für unterschiedliche Ansichten. Wenn es einen Resonanzraum eröffnet, ist es nicht eindeutig, nicht ideologisch – Ideologie nannte Arendt Flucht aus der Erfahrung. Die Frage ist hier, ob ästhetisch insignifikante Werke am Ende überhaupt politisch wirken können, da sie dem Betrachter keinen (Spiel-)Raum der Freiheit eröffnen. 

Meine Ansicht ist, dass erst das „offene Kunstwerk“, das nicht Mittel zum Zweck einer eindeutigen Botschaft ist, überhaupt eine politisch-ästhetische Erfahrung zulässt. Beim Signal „Flüchtlingsboot“ dagegen ist die Urteilskraft kaum gefragt, denn es geht nicht um das Boot, nicht um das Sehen, sondern sofort um das bereite Wissen. Den vielleicht moralisch ehrenwerten Effekt, den das Wrack zwischen den Luxusyachten auslöst, braucht die Kunst nicht. 

Wie ließe sich eine politisch-ästhetische Erfahrung anhand eines Kunstwerks beschreiben? Man könnte hier Beispiele der genannten Beuys und Haacke heranziehen oder, um Ai Weiwei gerecht zu werden, von ihm andere, anspruchsvollere Werke. Oder wir erinnern uns an die Plastik von Olaf Metzel „13.4.1981“, die nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen Asyl auf einem Privatgelände am Berliner Spreeufer gefunden hat. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Grundsätzlich ist mir als Summe wichtig: Die ästhetische Qualität und Autonomie (um das alte Wort noch einmal zu gebrauchen) ist nicht das Hindernis für soziale Relevanz, sondern im Gegenteil der Garant dafür. Hannah Arendt ging sogar noch weiter, dieses Zitat aus ihrem Vortrag „Freiheit und Politik“ stelle ich daher an den Schluss: „Ein Gemeinwesen, das nicht ein Erscheinungsraum für die unendlichen Variationen des Virtuosen ist, in denen Freiheit sich manifestiert, ist nicht politisch.“

Was ist Kunst?

Die Frage „Was ist Kunst?“ setzt voraus, dass der Fragende schon etwas mit dem Begriff Kunst verbindet. Er fragt nicht nach für ihn sinnlosen Buchstaben, sondern aufgrund bestimmter Konnotationen. Vermutlich dieser: Kunst ist materiell ein gestaltetes Objekt; eine Zeichnung, ein Gemälde, eine Fotografie, eine Skulptur, eine Plastik, eine Installation, ein Video, eine Performance. In der Konzeptkunst kann das Objekt auf einen Text reduziert sein. Es geht um Artefakte, die nicht ohne Zutun eines Autors in der Natur vorkommen. Natürliches Material kann aber zum Artefakt werden, ebenso wie kulturelle Gegenstände, die aus handwerklicher oder industrieller Produktion von Gebrauchsgütern stammen. Die Sichtbarkeit des Artefakts kann aufs Minimale reduziert, sie kann aber nicht völlig aufgehoben sein. Damit ist die Bildende Kunst von der Musik oder dem Hörspiel abgegrenzt, logischerweise auch von ihrer völligen Nicht-Existenz. Kurz: „Was ist Kunst?“ heißt: „Wann ist ein Artefakt Kunst?“.

Bei der Frage nach der Kunst geht es also um von Menschen geschaffene Artefakte. Es sind aber nicht alle solche auch Kunst. Der überwiegende Teil der Gegenstände in unserer Kultur beansprucht nicht, Kunst zu sein, und wird auch nicht als Kunst und Werk angesehen. Der kleinere Teil, dem dieser besondere Status zugesprochen wird, zeigt seinen Kunstwerkcharakter aber nicht (zwingend) in seinem Material, seiner Struktur oder Form; offenbar gibt es kein Wesen oder Wesentliches, das die Kunstwertigkeit beweist. Daher, heute wie vor 100 Jahren, die Irritation und Verunsicherung in großen Teilen des Publikums.

„Ich sehe es dem Objekt nicht an, warum es zur Kunst gehören soll. Also noch einmal: Was ist Kunst?“.

Die handwerklich überzeugend gemachten gegenständlichen Malereien des 14. bis Mitte des 19. Jahrhunderts so wie deren stilistische Nachfolger lösen diese Irritation nicht aus, weil das Publikum allein die technische Leistung und die illusionistische Suggestion überzeugt. Doch seitdem diese Kriterien nicht mehr die alleine gültigen sind, seitdem diese Werke wie alle absoluten Wertsetzungen in Frage gestellt sind, ist eine Neuorientierung nötig. Malewitschs schwarzes Quadrat, Duchamps Urinal „Fountain“ (1917), das gestische Informel, der streng reduzierte Minimalismus, aktuelle Formen freier Zeichnung u.v.a.: Künstlerische Haltungen und Arbeiten verunsichern vielfach, auf je eigene Weise. Das ließe sich im Einzelnen beschreiben. Vorläufig halte ich hier fest, dass diese Verunsicherung nichts Negatives sein muss, sondern notwendig ist und potenziell produktiv. Der fraglose Zustand der Autorität ist beendet. Die Frage „Was ist Kunst?“ wird damit geöffnet und kann offen gehalten werden. 

Aber das wird sie in der Regel nicht: Viele Instanzen im Kunstbetrieb beantworten die Frage durch eigene Setzungen, in ihrem jeweiligen Interesse. Sammler, Händler, Galeristen, Kuratoren, Museumsdirektoren und Kunsthistoriker, auch Kritiker, sie alle sagen, was Kunst ist. Es ist demnach das, was in den White Cubes, in Messekojen und in Auktionshallen zu sehen ist. Es ist das, was am Markt erfolgreich ist und hohe Preise erzielt. Es ist schließlich das, was in Veröffentlichungen präsentiert wird. Kunst ist eine Institution ist Institutionskunst. 

Ist diese Antwort auf die Ausgangsfrage auch richtig, so ist sie noch nicht ausreichend. Sie sagt etwas Wichtiges, markiert aber nur einen Zwischenstand. Halten wir fest: Werk-Betrachtung, und sei sie noch so intensiv, reicht nicht und gibt kein Kunst-Wesen preis. Es muss noch etwas dazu kommen: die Institution als soziale Instanz. Duchamp hat genau das bereits 1917 bewiesen. Andersherum könnte man ein technisches Massenprodukt einer ästhetischen Betrachtung unterziehen, die Qualität aufzeigen würde. Wie bei einem Kunstwerk. Doch deshalb ist es noch keines.

John Searle hat es zuletzt plausibel beschrieben in „Wie wir die soziale Welt machen“. Dazu gehört auch die Unterabteilung Kunst. Kunst als Institution beschrieben macht sie vergleichbar mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Regierung oder die Ehe. Grundsätzlich funktionieren diese Institutionen nur, wenn sie anerkannt werden, die Regierung von der Bevölkerung, die Ehe von den Partnern. Andernfalls verlieren sie ihre Legitimation und lösen sich auf. Institutionen beruhen auf vereinbarten Grundsätzen, ihre einzelnen Entscheidungen müssen verhandelt und, wenn sie gelten wollen, eben anerkannt werden. 

Wie verhält sich das in der Kunst? Eigener Erfahrung und vielen Beschreibungen zufolge, sollen die Vereinbarungen der Künstler und der Funktionäre (s.o.) ausreichen, um die Entscheidung darüber , was in die Institution zulässig gehört, zu legitimieren. Das große Publikum wird mit der Setzung konfrontiert, Zustimmung wird selbstverständlich akzeptiert, Ablehnung als Banausentum abgetan. Eine breite Diskussion darüber, was Kunst ist, was ihre Qualität sein könnte, findet nicht statt. Womit tatsächlich eine qualifizierte Debatte gemeint ist und nicht etwa eine Abstimmung mit Mehrheitsentscheid. Das gerade nicht. Was hier kritisiert wird ist, dass die Frage „Was ist Kunst?“ nur von einer Oligarchie der Eingeweihten und Shareholder beantwortet wird (wie im Feudalismus). Dadurch ist das unsichere Publikum entlastet: „Seht, das ist Kunst!“.

Damit ist die Frage für viele aber trotzdem nicht beantwortet. „Das soll Kunst sein? Ich verstehe das nicht.“ Die Kathedralen der Institution können nicht immer und alle überzeugen. Doch das war schon im Fall Duchamp so. Auf dieser anderen Ebene müssen wir die Frage neu stellen: „Was meint der, der fragt, was Kunst ist?“ Wer die Frage offen stellt, also nicht sagt: „Das soll Kunst sein? Das kann mein Hund“, so bloß polemisch Desinteresse zeigt; wer es wirklich wissen will, der hat ein berechtigtes Interesse, das ernst zu nehmen ist. Er stellt nämlich im Grunde eine künstlerische Frage.  

Diese Interessenten haben vielleicht vieles gesehen, was epigonal, schlecht gearbeitet, undurchdacht oder einfach Etikettenschwindel ist, und sie fragen zu Recht nach Kriterien, nach Qualität und kritischer Unterscheidung. Es geht hier um Teilhabe an der Institution, ein Anliegen, gegen das nichts einzuwenden, das aber gegen die Kunst-Oligarchen nicht leicht durchzusetzen ist. Den Fachleuten sollen ihre Aufgaben hier nicht streitig gemacht werden, ihre Expertise soll nicht missachtet werden. Es geht um Bildung und Mündigkeit, um Kunstkompetenz und die Chance, diskursiv entsprechend zu handeln. Das sind übrigens Ziele, die demokratisch legitimiert sind und keinem offiziellen Curriculum widersprechen.  

Auf dieser Ebene, die sich befreit und abgegrenzt hat sowohl von der Ignoranz als auch vom Machtdiktat der Kunstbetriebsfunktionäre, lässt sich die Ausgangsfrage in einem immer noch vorläufigen Schritt näher beantworten: Kunst ist ein Artefakt, von dem ich als Betrachter überzeugt bin in der Weise, dass ich ihm künstlerische Qualität zubillige.

Das Ich ist dabei, wie immer, nicht nur rational, sondern – und ganz wesentlich – auch emotional. Ebenso ist es nicht alleine, es orientiert sich an oder grenzt sich ab vom Wir. Größere Wirkung entfaltet Kunst, wenn sie eine Gruppe von Menschen ergreift. Aber ist die Kunst, sind die Künstler dann noch frei? Sind sie abhängig von der Zustimmung der Betrachter?

Die Kunst darf und kann frei sein, so wie auch die Kunstbetrachtung. Freiheit kann nur ungeteilt sein. Dass der Markt, die Institution die Freiheit der Künstler wie der Betrachter potenziell einengt (damit ist zu möglichen Vorzügen von Markt und Institution nichts gesagt), ist ein vielfach beklagtes Phänomen. Künstler setzen sich immer damit auseinander, wie sie ihre Arbeitskraft, ihre Phantasie vor manchen Mechanismen des Marktes schützen können. Betrachter sollten dazu auch kommen.

Erst aus der Freiheit, die in Sensibilität der Wahrnehmung und Informiertheit ihre Grundlagen zur Entfaltung hat, lässt sich die Frage „Was ist Kunst?“ auf eine wirklich produktive Weise stellen. Demnach: Kein falscher Respekt vor den Institutions-Instanzen, keine Scheu vor der eigenen Emotionalität. Wichtig ist dann die Geduld, das Interesse an der Kunst mit Information zu füttern. Mit dieser Haltung kann ich in jede Ausstellung gehen und erfahren, wie ich auf die Artefakte reagiere, mich fragen, warum das so ist und wie ich die Erfahrung mit beschreibbaren Kriterien von Qualität, mit Wissen über Künstler und Werk zusammenbringen kann. Dann ist die Frage nach der Kunst durchaus eine beantwortbare.